In diesem Monat widmen wir uns dem kurdischen Leben, genauer gesagt, dem vielfach vergessenen und verdrängten kurdischen Leben. Denn trotz jahrzehntelanger Unterdrückung gibt es kurdische Stimmen, die überlebt haben. „Lebendig – durch alle Verbote hindurch: Kurdische Literatur heute“ ist ein Werk, das dieser Literatur und Kultur gewidmet ist; es verleiht den Stimmen Ausdruck, die trotz allem nicht zum Schweigen gebracht werden konnten. Neben dem in Hannover lebenden Dichter, Übersetzer und Literaturkritiker Tengezar Marînî (Pseudonym) ist Hannovers ehemaliger Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg Mitherausgeber des im Wallstein Verlag in der renommierten Reihe „die horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik“ veröffentlichten Sammelbandes. Es ist ein atemberaubender Beitrag von und über systematisch unterdrückte Autor*innen.
Die Aufteilung Kurdistans durch die Westmächte im Jahr 1920 markierte den Beginn einer jahrzehntelangen Repression, die die Freiheit des kurdischen Volkes auf grausame Weise einschränkte. Die kurdische Sprache, Traditionen und Kultur werden seitdem zum Großteil gewaltsam eingeschränkt, verboten sowie strengstens verfolgt. Kurdische Menschen sind ein eigenständiges Volk ohne Staat als Schutz, das bis heute für seine Anerkennung und den Schutz seiner Identität kämpft. „Kurden leben heute im Iran, Irak, Syrien, in der Türkei und in Armenien. Millionen leben überall auf der Welt im Exil, 1,5 Millionen allein in Deutschland. Kurdinnen und Kurden werden in ihren Heimatregionen verfolgt, verhaftet und sind schutzlos“, schildert Schmalstieg. Er fährt fort: „Ihre Sprache wurde verboten, aber durch die Literatur in der eigenen Sprache oder in anderen Sprachen waren die Literaten frei in ihren Gedanken. In Gedichten und Erzählungen spürt man das.“
Im Vorwort betont Schmalstieg die Kraft der Literatur: „Literatur vermag vielleicht nicht viel. Aber sie ist frei wie die Gedanken. Sie kommt nicht an gegen Bomben (…). Aber vielleicht bewirkt sie bei denen, die sie lesen, ein Innehalten, ein Zögern, ein Staunen.“ Der Band „Lebendig – durch alle Verbote hindurch: Kurdische Literatur heute“ nimmt sich diesen unterdrückten Stimmen an und schafft einen Raum für die Repräsentation des herabgewürdigten kurdischen Schaffens. Insgesamt 55 Autor*innen, darunter die beiden Herausgeber, widmen sich in diesem Band der oft zu Unrecht vergessenen kurdischen Literatur. Tengezar Marînî erzählt: „Viele kurdische Autoren nutzen ihre Werke, um die Unterdrückung, Diskriminierung und dass Leiden ihrer Gemeinschaft zu thematisieren. Sie erzählen von den historischen Kämpfen um Autonomie und Anerkennung, von Vertreibung und Exil, von Identitätskonflikten und dem Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit. Die Literatur dient als Sprachrohr für die Stimmen der Unterdrückten und Verfolgten, als Mittel zur Aufklärung und Sensibilisierung (…). Die kurdische Literatur ist somit nicht nur eine künstlerische Ausdrucksform, sondern auch ein wichtiges Instrument des Widerstands und der politischen Mobilisierung.“ Es ist ein Werk voller Besonderheiten, das sich gegen ein menschenrechtsverletzendes Regime richtet. „In vielen Texten kommt die politische und soziale Situation deutlich zum Ausdruck: der Drang nach Freiheit, der Kampf gegen Unterdrückung, aber auch das Leben in den Dörfern, der Zusammenhalt der Familien und das sich ‚Nicht-Unterkriegen-Lassen‘“, erläutert Schmalstieg.
Herbert Schmalstieg, langjähriger Abonnent der deutschen Literaturzeitschrift „die horen“ – gegründet vom in Hannover geborenen Kurt Morawitz – engagiert sich mit großem Einsatz für die finanzielle Unterstützung dieser Zeitschrift. Mittlerweile hat die Landeshauptstadt Hannover die Mittel für das kommende Jahr jedoch gestrichen. „Für mich, als jemanden, der sich zusammen mit meiner Frau Heidi Merk, Landesministerin a. D., seit mehr als 30 Jahren für Kurdinnen und Kurden und Kurdistan engagiert, war es ein besonderes Anliegen, den Wallstein Verlag zu überzeugen, eine Ausgabe zur kurdischen Literatur herauszugeben. Das gelang, wurde aber mit der Frage verbunden, mich an der Herausgabe zu beteiligen. Das habe ich voller Überzeugung getan, zusammen mit Tengezar Marînî, der in Hannover lebt und ein großartiger Schriftsteller und Übersetzer ist. Ohne Tengezar Marînî hätte es dieses Buch nicht gegeben“, erklärt Schmalstieg. Marînî selbst erzählt: „Die kurdische Kultur und Literatur haben eine immense Bedeutung für mich. Sie sind Ausdruck meiner Identität, Quelle der Inspiration und des Stolzes.“
Mit Beiträgen von Zaradachet Hajo, Jan Dost, Helîm Yûsiv, Ilhan Çomak, Bahram Hajou, Suzan Samancı und vielen weiteren außergewöhnlichen Stimmen ist dieser Band ein eindrucksvolles Zeugnis kurdischer Literatur und ein kraftvoller Akt des Widerstands gegen die jahrzehntelange Unterdrückung.
Wallstein Verlag
192 Seiten
14 Euro
