Literarisches: Annette Hagemann

Annette Hagemanns Schreiben gerät ins Fließen. Wörter tropfen, Silben wachsen, Buchstabengefüge blühen hinein in das eigene Denken und durchbrechen menschengemachte Binaritäten. Der im Januar 2024 erschienene „Katalog der Kiefermäuler. Notate und Gedichte“ ist eine Jonglage über wuchernde Fragen des Alltäglichen, die doch so nie gestellt werden. Hagemann vereint träumerische Lyrik und prosaische Gedichte naturnah und weltergreifend.

„Ich habe einmal in den Herrenhäuser Gärten Gärten Messiaens ,Catalogue d’oiseaux‘ (‚Katalog derVögel‘) gehört. Und dann bin ich auf den biologischen Begriff der Kiefermäuler gestoßen“, erzählt Annette Hagemann. Im Erdaltertum entwickelt, gehören Kiefermäuler zu den Wirbeltieren, die sich durch einen besonders bezahnten Kiefer auszeichnen, was wiederum eine besondere Art der Nahrungsaufnahme ermöglicht: Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel, Säugetiere – und auch der Mensch reiht sich hier ein. „Katalog der Kiefermäuler“ ist ein Tanz um und durch das Wesen der eigenen Zeit sowie das eigene Sterbenmüssen. Die Lyrikerin erklärt: „Im Buch widmet sich ein Kapitel den Vögeln, eines den Wasserwesen – und überall spielen Menschen eine Rolle: wie sie sich gegenüber den Tieren und Pflanzen und auch untereinander verhalten. Ich finde es einigermaßen absurd, dass wir Menschen uns als etwas von der ‚anderen Natur‘ Separates verstehen, und ich glaube, dass von dieser Abspaltung und von all diesen binären Kategorien viele unserer heutigen Probleme herrühren. Last but not least sind wir aber doch einfach nur Kiefermäuler, die sich diesen Planeten teilen.”

Der „Katalog der Kiefermäuler“ beginnt in der italienischen Lagunenstadt im Jahr 2022. Wir hören und sehen raubende Möwen in der Mittagshitze, sirrende Mücken und Nachbar*innen, vorbeiwandernden Wolken sowie unser eigenes Treiben. „Viele meiner Gedichte entstehen unterwegs, auf Reisen“, erzählt Annette Hagemann und fährt fort „das Unterwegssein öffnet massiv die Poren: Allein der Ortswechsel, das Sich-nicht-Auskennen bringt ja schon die Sinne und die Wahrnehmung auf Trab. Zwei der fünf Kapitel der ‚Kiefermäuler‘ sind daher auch in Venedig und auf der dortigen Biennale entstanden.“ Magisch real lyrikt Hagemann über die Natur und den Menschen: „Und löchrig wie ein Einkaufsnetz ist nachts mein Schlaf, durch den die Hitze dreißig Grad heiß und auch die Mücken und die Geräusche des fensterklappernden Hinterhofs mit Leichtigkeit zu mir hereindringen. Doch manches Mal bleiben auch von innen ein paar Fische aus meinen Träumen darin hängen, ein zappelndes Schillern, das mir guttut, mich erhebt wie eine Welle aus selbstgesponnenem Regen.“ Hagemann berichtet: „Ein Motiv, das mich sehr – und schon länger und auch weiterhin – beschäftigt, ist Natur und das Verhältnis der Menschen zu ihr. Also auch das Verhältnis der Menschen zueinander. Und dann taucht – wie im Kapitel zur Biennale – auch immer wieder die Kunst als Motiv und Motivgeber auf. Kunst regt einfach zu einem unkonventionellen Blick an und bringt damit neue Kunst in Gang.“

Annette Hagemanns neuer Gedichtband ist prosaische Lyrik über Kiefermäuler, ihr Zusammenleben und ihre Herausforderungen als Individuen und miteinander. Ihre mäandernden Texte erzählen von nie Geborenem, Unsichtbarkeiten und der fließenden Gegenwart. Anders als in früheren Bänden von Hagemann sind die „Kiefermäuler“-Gedichte jedoch weniger verdichtet, so die Autorin selbst: „Ich glaube, sie sind etwas prosaischer, erzählerischer geworden, etwas leichter zu verstehen, wobei man bei Lyrik auch nicht jeden Satz verstehen muss – es wäre gut zu versuchen, ein Gedicht einfach wie Musik zu genießen.”

Annette Hagemann, geboren 1967 in Münster, lebt seit 1997 in Hannover und arbeitet für das Kulturbüro Hannover. Seit 2003 veröffentlicht sie Gedichte in Lyrikzeitschriften, Anthologien, im Hörfunk und im Internet. Im September erscheint zudem ein weiterer Gedichtband von Annette Hagemann mit dem Titel „Die fünfte Jahreszeit“ in der Lyrikedition Hannover (Wehrhahn Verlag) – zu erleben am 27. September im Literaturhaus Hannover.

108 Seiten

19,80 Euro

Band 101 der edition offenes feld

Herausgegeben von Jürgen Brôcan


Schlagwörter: , , , ,

Kommentare sind geschlossen.

Partner