Ein Sonnenuntergang. Der feine weiße Sand ist noch warm vom Tag, türkisblaue Wellen spülen rhythmisch an den Strand und im Glas mit dem Tequila Sunrise klimpern die Eiswürfel. Es könnte nicht besser sein, es ist geradezu perfekt. Da: „Börps!“ Ein Rülpser zerschmettert die Schönheit des Augenblicks. „’Tschuldigung. Das ist wegen dieses blöden Granatapfelsirups. Ohne den wär der Cocktail besser.“ Szenenwechsel. Am Esstisch. Ein Mahl ist aufgetragen. Es riecht gut, schmeckt gut, sieht schön aus und ausnahmsweise ist nicht mal der Tellerrand bekleckert. Der Wein korrespondiert hervorragend. Dann: wichtigtuerisches Schmatzen am Weinglas. Ein Bissen wird abgeschnitten, beschnüffelt, in den Mund geschoben und gekaut. „Mh-hm“ zur Kenntnis nehmend, aber doch auch irgendwie wertend. „Ja gut, ich persönlich hätte jetzt keinen Riesling genommen. Bisschen spitz, oder? Das Fleisch ist natürlich okay von der Garstufe her, aber ich weiß nicht, vielleicht wär ein Augenblick kürzer irgendwie besser gewesen. Schade auch, dass es keinen Romanesco gab. Also, der Brokkoli ist natürlich gut, aber ich frag mich, ob’s mit Romanesco nicht vielleicht etwas runder… verstehst du? Aber so in der Kombination mit der Sauce -– echt schön, doch, muss ich wirklich sagen. Die Säure braucht’s aber auch, ne? Das Brot ist gut, schön kurz im Biss!“ Erneuter Szenenwechsel. Man hört Musik. Das Stück arbeitet sich zum Klimax voran, die Band spielt perfekt, der Produzent hat einen tollen Job gemacht und im Mix die Stärken des Sängers eindrucksvoll herausgearbeitet. Der Text ist außergewöhnlich gut, man möchte fast weinen. „Versteh ich nicht. Kann sich doch keiner merken, warum macht man so was? Hätt‘ ich anders gemacht. Das Interlude ist auch viel zu lang. Da hören die Leute ja schon gar nicht mehr zu, wenn’s richtig los geht. Und Text… tja. Hab ich jetzt gar nicht so richtig drauf geachtet. Ist aber auch egal.“
Wir sind uns einig, oder? Es gibt Menschen, denen gelingt es mit Leichtigkeit, einem jeden noch so kleinen Genuss kaputt zu quatschen. Oft noch nicht einmal mit böser Absicht, sie hören sich einfach gerne reden und haben immer viel Meinung. Und die muss auch raus, ohne Rücksicht auf Verluste. Diese Idee „Wenn ich meinen Schnabel nicht halte, mache ich wahrscheinlich einen sehr schönen Moment kaputt“ kommt ihnen entweder gar nicht oder es ist ihnen schnurz. Es wird nicht genossen, es wird operiert, ja sogar seziert. Und zwar so lange und so ausgiebig, bis von jedem noch so tollen Augenblick, jeder noch so schönen Situation nichts mehr übrig ist. Gar nicht, weil ihnen nach Stunk machen oder gar Romantik zuwider ist. Und auch nicht, weil sie wirklich Lob oder fundierte und ergebnisorientierte Kritik von sich geben möchten. Nein! Einfach nur, weil sie die Fresse nicht halten können. Mit der Planierraupe durchs Wunderland, ohne die Vorfahrt zu achten. Wäre Schweigen vielleicht gerade Gold? Kann ich mich nicht glücklich schätzen, dass gerade mein größtes Problem ist, dass mir Granatapfelsirup nicht schmeckt? Was für ein schöner Moment, was für gutes Essen, was für ein tolles Lied – egal, ich hab eine Meinung, hier, pass auf! Niemand, wirklich niemand möchte diese Meinung hören. Auf keinen Fall in diesem Augenblick und sehr wahrscheinlich auch zu keinem späteren Zeitpunkt. Es gibt gute Gründe dafür, dass „genießen und schweigen“ oft und gern in Kombination verwendet werden. Zeit, das zu erkennen und zu beherzigen. Sonst könnte es schon passieren, dass der Eine genießt, wenn der Andere schweigt. Gegebenenfalls auch dauerhaft, wer weiß?! IH
