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Über Ideologien (Titel 2023-11)

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Über Ideologien (Titel 2023-11)


und was sie anrichten können

Ideologie [ist] wie Mundgeruch immer das, was die anderen haben“, so hat es der britische Literaturtheoretiker Terry Eagleton mal formuliert. Und es stimmt, Menschen, die man einer anderen Ideologie (als der eigenen) zuordnet, beäugt man eher skeptisch. Das Wort „Ideologie“ ist dabei zwar etwas aus der Mode gekommen, aber beispielsweise Markus Söder kritisiert genau das, einen Kreis von Menschen, die sich ganz bestimmten Dogmen, Regeln und Zielen verschrieben haben, wenn er von der „woken Bubble“ spricht. Wobei er vor allem das vermeintlich Missionarische nicht mag. Diese Leute sind in seinen Augen die Anhänger einer Ideologie, die allen anderen ihren woken Lebensstil aufzwingen wollen. Während Söder natürlich lieber seine eigene Ideologie allen anderen aufzwingen will, die bayrische Lebensart, was auch immer das nun genau sein mag. Im Gegensatz zur bayrischen Lebensart sind die meisten Ideologien eher komplex. Es sind Konstrukte, die die Art und Weise beeinflussen, wie Menschen auf die Welt blicken, sich in ihr positionieren und in der Gesellschaft agieren. Sie sind oft das Ergebnis historischer, kultureller und sozialer Entwicklungen und sie spielen, ob nun sichtbar oder eher im Verborgenen, eine zentrale Rolle in Politik, Gesellschaft und Kultur, bis heute und überall auf der Welt. Böse und gefährlich für alle Beteiligten wird es immer dann, wenn grundverschiedene Ideologien aneinandergeraten.

Die Philosophen haben sich den Ideologien immer eher über die Grundlagen genähert, über die Prinzipien und Werte, die die Ideologien leiten. Welche Ideen und Konzepte prägen das menschliche Denken und damit die soziale Ordnung? Welche Legitimität und welchen Einfluss haben Ideologien auf die individuelle Freiheit und die Gerechtigkeit in Gesellschaften? Karl Marx, John Locke und Jean-Jacques Rousseau haben sie als Schlüsselkonzepte in der politischen Philosophie erforscht. Marx beispielsweise hat insbesondere die Rolle der Ideologie in der Klassengesellschaft betont und argumentierte, dass Ideologien oft dazu dienen, die Interessen der herrschenden Klasse zu verschleiern. In seiner Analyse der Ideologie betonte er den Begriff des „falschen Bewusstseins“, bei dem Menschen von den wahren Ursachen ihrer sozialen Lage abgelenkt werden. Kommt einem ziemlich aktuell vor, oder? Wir sind schon wieder bei Söder und Aiwanger. Aber auch bei der AfD. Dazu gleich noch ein bisschen mehr. Doch erst John Locke. Der betonte die Ideologie des Liberalismus, die individuelle Freiheit, Eigentum und begrenzte Regierungsmacht befürwortet. Diese Ideologie war entscheidend für die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika, beeinflusst bis heute politische Entscheidungen und sorgt aktuell in der Ampel für einige Unruhe.

Aber zurück zum „falschen Bewusstsein“, ein Phänomen, das uns heute fast inflationär begegnet. Menschen, auch bei uns, geben gerne anderen Menschen die Schuld für die eigene Misere. Die AfD befeuert beispielsweise die Variante, dass „die da oben“ schuld an allem sind. Die Eliten, die „Altparteien“. Und dazu sind natürlich auch alle schuld, die einwandern, die flüchten, die Asyl suchen und uns die Plätze beim Zahnarzt wegnehmen. Ja, die CDU kann auch Populismus. Der funktioniert, weil solche Sprüche auf den Saiten einer ganz bestimmten Ideologie Musik machen. Kaum jemand, der bei solchen Thesen „jawoll!“ sagt, kann beschreiben, was eigentlich die richtigen, die echten deutschen Werte sind, aber alle sind sich irgendwie einig, dass „diese Ausländer“, „diese Fremden“ nicht zu uns passen, dass die hier eigentlich nichts zu suchen haben. „Der Islam gehört zu Deutschland“, mit diesem Satz in einer Rede zum Tag der deutschen Einheit hat Christian Wulff 2010 als Bundespräsident einen sehr dicken Stein in diesen See der deutschen Volksideologie geworfen und für heftigen Wellengang gesorgt. Noch heute erregen sich darüber die Gemüter.

Und noch heute bekommt ein Friedrich Merz Applaus, wenn er das Gegenteil behauptet. „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland.“, hat er neulich gesagt. Und gemeint, dass diese bunte Mischung in Berlin aus links-grünen, woken, veganen und queeren Gutmenschen und diversen „Zugereisten“ aus allen möglichen Ländern dieser Welt nicht das ist, was er für Deutschland hält. Was ihm zurecht einige Häme einbrachte. Offensichtlich hat sich Friedrich Merz die deutsche Gesellschaft schon ein paar Jahre nicht mehr wirklich aus der Nähe angesehen, vielleicht eher aus seinem Privatjet heraus. Ein bisschen was hat sich verändert, lieber Friedrich. Es sind zum Beispiel auch gar nicht mehr alle in der Kirche. Im Gegenteil, mehr als 50 Prozent der Menschen in Deutschland sind inzwischen weder römisch-katholisch noch evangelisch. Und nein, das ist trotzdem nicht der Untergang des Abendlandes. Aber es zeigt einen Trend. Die großen Ideologien verlieren bei uns an Bedeutung. Sie zersplittern in viele kleine, individuelle Ideologien, die sich die Menschen heute gerne aus dem Internet zusammenpuzzeln. Eine Folge dieser Entwicklung ist auch, dass die großen Volksparteien zunehmend an Bedeutung verlieren, nicht nur in Deutschland. Beziehungsweise jetzt erst in Deutschland. In anderen westlichen Demokratien läuft dieser Trend schon einige Jahre länger. Es fehlen die großen, verbindenden Ideen, die gemeinsamen Grundeinstellungen, die universalen Gesinnungen. Die Ideologien werden zur Soloshow. Und manche Ideologen sammeln bereits kleine Anhängerschaften um sich und gründen Königreiche mitten in Deutschland. Klar, das ist auf den ersten Blick lächerlich, aber auf den zweiten Blick auch ein Hinweis, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft seit einigen Jahren insgesamt entwickelt, nämlich weg von einer Solidargemeinschaft und hin zu einer eher zufälligen Ansammlung aus Einzelkämpfer*innen.

Man darf diesen Trend gerne kritisch sehen. Denn Ideologien müssen ja nicht per se schlecht sein. Soziologen wie Émile Durkheim und Max Weber haben Ideologien als eine Form des sozialen Zusammenhalts und der Wertorientierung betrachtet. Und es stimmt, Ideologien können eine Inspirationsquelle und treibende Kraft für einen sozialen Wandel und Fortschritt sein. Sie können Menschen dazu ermutigen, für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit zu kämpfen. Beispiele sind hier die Bürgerrechtsbewegung in den USA oder die Frauenrechtsbewegung, die auf Ideologien des Gleichheitsdenkens basierten. Ideologien können dazu Menschen eine gemeinsame Identität und einen Sinn für Gemeinschaft vermitteln. Religiöse Ideologien fördern beispielsweise den Zusammenhalt innerhalb einer Glaubensgemeinschaft und das bietet Trost und Orientierung. Und Ideologien können in Gesellschaften auch für einen grundsätzlichen Rahmen sorgen, in dem politische Entscheidungsfindungen stattfinden, was wiederum die Stabilität fördert. Demokratische Ideologien legen beispielsweise die Grundsätze für die Gewaltenteilung fest und sorgen so im Idealfall für ein Gleichgewicht der Macht.

Das klingt erstmal eher positiv. Auch Durkheim argumentierte, dass Ideologien, wie die Religion, soziale Solidarität schaffen können, indem sie gemeinsame Werte und Normen fördern. Religion ist ein prominentes Beispiel einer Ideologie, die sowohl soziale Ordnung als auch individuelles Verhalten beeinflusst. Religiöse Ideologien legen moralische Werte und Verhaltensregeln fest und spielen eine entscheidende Rolle in der Bildung von Gemeinschaften. Schlecht werden solche Ideologien erst, wenn mit ihnen Dogmen verbunden werden, wenn aufgrund der Ideologien Menschen unterdrückt werden, wenn die Menschenrechte keine Geltung mehr haben. Nehmen wir als Beispiel die Ideologie der Taliban – für die Frauen in Afghanistan die reinste Vorhölle. Oder nehmen wir als Beispiel die Kirche des Mittelalters. Schön war das auch nicht.

Max Weber hat sich dazu noch angesehen, wie eine religiöse Ideologie, die protestantische Ethik, in Verbindung mit dem Kapitalismus, die wirtschaftliche Entwicklung und die Arbeitsethik beeinflusst, was wiederum soziale Strukturen und Verhaltensmuster formt. Wir waren eine ganze Weile die pflichtbewussten, fleißigen Deutschen, die sich ein Häuschen bauten und für das Wirtschaftswunder sorgten. Bis die langhaarigen und faulen Halbstarken kamen. Zwischen diesen Ideologien hat es dann in Deutschland ziemlich geknallt seinerzeit. Ideologien können also einerseits für eine Gemeinschaft sorgen, die versucht, eine soziale Ordnung aufrechtzuerhalten, während andere Ideologien sich quasi neu erfinden und die alteingesessenen Ideologien herausfordern. Man kann das Leben nennen oder den Lauf der Zeit. Glücklich sind jene Gesellschaften, in denen eine Ideologie vorherrscht, die Spielräume für Veränderungen bietet, die sich nicht in Dogmen positioniert, die offen bleibt und damit andere Strömungen aufnehmen, sich entwickeln kann.

Bei religiösen Ideologien stößt das natürlich ziemlich schnell an Grenzen. Viele Ideologien sind sehr eng mit religiösen Überzeugungen und Weltanschauungen verknüpft. Religionen sind im Grunde selbst komplexe Ideologien, die metaphysische Vorstellungen, eine Ethik und Rituale umfassen. Sie interpretieren die Welt auf unterschiedliche Weisen, der Hinduismus beispielsweise lehrt die Ideologie von Karma und Reinkarnation, die das individuelle Verhalten und die Wiedergeburt beeinflussen, das Christentum betont (inzwischen) die Ideologie der Erlösung und der Nächstenliebe, während der Islam die Ideologie der Einheit Gottes und der Unterordnung unter seinen Willen lehrt. All das hat natürlich jeweils tiefgreifende Auswirkungen auf das individuelle Leben und die soziale Ordnung. Die Religionen beeinflussen moralische Entscheidungen, soziale Normen und den zwischenmenschlichen Umgang. Und wenn sich religiöse Ideologien unversöhnlich gegenüberstehen, dann schlägt man sich auch heute noch gerne mal den Schädel ein.

Dogmatismus und Intoleranz führen immer wieder zu Konflikten und sogar Kriegen. Wenn Menschen glauben, dass ihre Ideologie die einzig richtige ist, sie, damit verbunden, sich selbst im Vergleich zu anderen auch noch einen besonderen Wert geben, sich etwas Besserem zugehörig fühlen, dann hat das natürlich Konflikt- und Spaltungspotenzial. Religiöser Fundamentalismus oder extremistische politische Bewegungen sind leider weltweit wieder auf dem Vormarsch. Man kann die Menschen mit der passenden Ideologie natürlich verführen und manipulieren. Wenn jemand sich einem erhabenen Herrschervolk zugehörig fühlt, wie agiert er dann gegenüber anderen, „niederen“ Kulturen? Nur mit solchen Ideologien in den Köpfen lassen sich jene Taten erklären, die wir bei dem Angriff der Hamas auf Israel gesehen haben. Wir kennen solche Ideologien sehr gut in Deutschland. Es ist noch nicht so lange her. Und wenn man hört, was aus der rechten Szene tönt, dann scheinen sich längst nicht alle Menschen in Deutschland zivilisatorisch weiterentwickelt zu haben.

Ideologien sind ausgesprochen hilfreich, wenn es darum geht, Gesellschaften zu manipulieren und zu beherrschen. Autoritäre Regime haben Ideologien schon immer genutzt, um die Freiheit einzuschränken und Unterdrückung zu rechtfertigen. Wir sehen das in Russland und auch in China. Und wenn es nach der AfD geht, sehen wir das demnächst auch in Deutschland. Ideologien haben leider die Neigung, komplexe Realitäten zu vereinfachen und komplexe Probleme auf einfache Lösungen zu reduzieren. Auf der Strecke bleiben so die nachhaltigen und tatsächlich klugen Lösungen. Ein schönes Beispiel ist gerade die Debatte um die Einwanderungspolitik. Keine einzige Maßnahme wird die eigentlich zugrundeliegenden Probleme lösen. Wir erleben lediglich politische Kosmetik.

Und noch eine Gefahr, um zuletzt den Bogen zu Bayern und zu Söder wieder aufzuspannen, bergen Ideologien. Sie befördern mitunter den Widerstand gegen Veränderung. Alles soll bestenfalls so bleiben, wie es ist und immer war. Bloß keine Veränderungen! Jedenfalls keine, die irgendwie woke sind oder queer oder schlimmstenfalls grün. Denn das wissen wir ja alle, spätestens seit dem Wahlkampf in Bayern, die Grünen sind der Teufel!

Es führt kein Weg daran vorbei, wir müssen unsere eigenen Ideologien immer wieder kritisch hinterfragen, um zu prüfen und sicherzustellen, dass sie den Werten der Gerechtigkeit, Freiheit und sozialen Kohäsion dienen. Und wir müssen dabei berücksichtigen, dass alles im Fluss ist, dass Ideologien nicht statisch sein müssen und auch wir nicht immer die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Bei aller berechtigten Kritik an uns fremden Ideologien und/oder Religionen, dürfen wir nie vergessen, zwischendurch auch mal selbst in den Spiegel zu blicken. Wir halten sie sehr hoch, unsere „westlichen Werte“, wir pochen auf die Menschenrechte, auf die Würde des Menschen, auf Gerechtigkeit, auf Gleichheit und Freiheit – und wenn alle Menschen so leben würden wie wir, bräuchten wir drei Erden. Also Vorsicht, Arroganz steht uns im Vergleich der Ideologien nicht wirklich gut. Oder anders gesagt: Wir haben alle gelegentlich Mundgeruch.

● LAK

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