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Ein letztes Wort im Oktober

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Ein letztes Wort im Oktober


Stephan Weil (r) und Lars Kompa (l)

mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, wir haben es hinter uns – und vor uns. Die Wahlen in Sachsen und Thüringen sind gelaufen, jetzt droht zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch Brandenburg. Lassen Sie uns zuerst über die zwei Ergebnisse sprechen. Was passiert da gerade im Osten Deutschlands? Oder passiert da sogar etwas in ganz Deutschland?

Das ist natürlich kein exklusiv ostdeutsches Problem, sondern ein gesamtdeutsches, aber im Osten haben wir schon ein anderes Niveau, das muss man klar feststellen. Einzig die CDU-Ergebnisse liegen mehr oder weniger im Bundesdurchschnitt. Bei allen anderen Parteien sind die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen entweder nach oben oder nach unten total abweichend von dem, was sie auf der Bundesebene erreichen. Die SPD kam nur knapp über 6 Prozent. Bei den Grünen und der FDP sieht es noch desaströser aus. Während das BSW aus dem Stand ein zweistelliges Ergebnis erreicht hat. Es wäre jetzt falsch daraus zu schließen, dass es solche Ergebnisse mal in ganz Deutschland geben könnte. Aber wenn in einem Land wie Thüringen ein Landesverband der AfD stärkste Kraft werden kann, eine als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei mit einem Faschisten an der Spitze, dann finde ich das wirklich sehr bedrückend.
Ich hoffe wirklich, dass das keine Schule macht. Aber dafür werden alle auch etwas tun müssen.

Die SPD ist mit einem blauen Auge davongekommen, aber das ist schon ein sehr dunkles Blau, oder?

Ja, da muss man auch gar nicht groß drumherum reden. Wobei ich hohen Respekt vor der Arbeit der SPD-Leute in Sachsen und Thüringen habe. Die haben mit ungeheuer viel persönlichem Einsatz gekämpft. Und ich habe mich gefreut, dass es sich dann doch gelohnt hat und für die SPD die ganz große Katastrophe ausgeblieben ist. Ein Wahlkampf in Sachsen und vor allem auch in Thüringen ist schon deutlich anders als hier in Niedersachsen. Ich war ja vor Ort und es herrschte teilweise schon eine bedrückende Atmosphäre. Aber noch einmal zum Ergebnis: Natürlich kann die SPD nicht zufrieden sein. Mit solchen Werten ist es relativ schwer, von sich zu behaupten, eine Volkspartei zu sein.

Aus der Wirtschaft kamen ja schon vor der Wahl sehr deutliche Worte. Nicht wenige Unternehmen überlegen, sich dort nun zurückzuziehen.

Es gehört für mich zu den wenigen positiven Nachrichten aus dem Wahlkampf in Ostdeutschland, dass sich die Wirtschaft zum ersten Mal sehr klar positioniert hat. Beispielsweise hat der Chef von Jenoptik das Problem sehr deutlich angesprochen und sinngemäß gefragt, wie er künftig eine muslimische Ingenieurin überzeugen soll, in ein ostdeutsches Land zu kommen. Das bringt die Sache auf den Punkt. Wir werden in Zukunft zwingend deutlich mehr Beschäftigte mit ausländischen Wurzeln brauchen, schon jetzt bremst der Fachkräftemangel die wirtschaftliche Entwicklung. Wir benötigen also eine kontrollierte und gesteuerte Zuwanderung. Das passt aber nun so gar nicht zu einer ausländerfeindlichen Grundstimmung, wie sie die AfD und in Teilen auch das BSW verbreiten. Wir sprechen ja über gut qualifizierte Menschen, die es sich aussuchen können, in welches Land sie auswandern.

Der Grundsound verschiebt sich ja schon seit einer Weile. Die AfD setzt die Themen und alle rennen hinterher. Bei der CDU ist es momentan völlig aus dem Ruder gelaufen. Man fordert jetzt populistisch Maßnahmen, die rechtlich total fragwürdig sind …

Die CDU will einfach alle, die an den deutschen Grenzen auftauchen, gleich wieder zurückschieben. Und das lässt das europäische Recht schlichtweg nicht zu. Es gibt dazu sehr klare Aussagen, beispielsweise des Europäischen Gerichtshofs. Und dann fordert Friedrich Merz, dass Deutschland eben mal den Notstand ausruft. Abgesehen davon, dass ich sehen möchte, dass der bayerische Innenminister für sein Land erklärt, die Sicherheit und Ordnung nicht mehr aufrechterhalten zu können, glaube ich nicht, dass uns diese Notlage von der EU bestätigt wird.
Die Zahl der Asylbewerber ist gegenüber dem Vorjahr deutlich rückläufig. Dass Merz trotzdem Ultimaten stellt und anderen Demokraten die Türen vor der Nase zuschlägt, ist nur Wasser auf die Mühlen der AfD. Das finde ich in einer solchen Situation, wie wir sie derzeit erleben, wirklich fatal.

Wenn ständig nur noch von Notlagen gesprochen wird, von einem Ausnahmezustand, dann erzeugt das Angst. Und Angst ist generell kein guter Berater …

Wobei wir Probleme schon benennen müssen. Die Kommunen stehen tatsächlich sehr unter Druck. Aber dieser Grundsound und dieses Schüren von Angst ist dennoch fatal und spricht für fehlendes Verantwortungsbewusstsein. Es ist ja so, dass in größeren Teilen der Bevölkerung das Vertrauen in die Kompetenz des Staates zur Lösung der Probleme derzeit doch sehr begrenzt ist. Dieses Vertrauen gewinnt man aber nicht durch vollmundige Versprechungen zurück, die ohnehin nicht einzuhalten sind. Das schafft man nur durch Taten und Fortschritte.
Im Herbst des letzten Jahres haben Bund und Länder gemeinsame Beschlüsse gefasst und wir sehen, dass wir in diesem Jahr bereits deutlich weniger Asylgesuche registrieren. Natürlich, das reicht noch nicht. Mittlerweile genießt nur noch die Hälfte der Geflüchteten ein Schutzrecht. Deshalb müssen wir sehr genau unterscheiden: Schutz müssen jene bekommen, die Schutz brauchen. Aber diejenigen, die durch irreguläre Migration ins Land kommen, können nicht bleiben. In diesem Zusammenhang jedoch über rechtlich mehr als fragwürdige Zurückweisungen an der Grenze zu schwadronieren, ist keine gute Idee.

Kommen wir noch einmal auf den veränderten Grundsound zurück. Würden Sie heute noch in einer Bürgerversammlung sagen, dass wir in Deutschland eine Willkommenskultur brauchen? Dass wir attraktiv sein müssen für gut ausgebildete Menschen, die kommen und gerne bleiben?

Das sage ich überall. Und das steht auch nicht im Widerspruch zu dem, was ich eben gesagt habe. Wir brauchen mehr kontrollierte Zuwanderung und wir müssen die irreguläre Zuwanderung so gut wie möglich stoppen.
Deutschland hat den großen Fehler gemacht, jahrzehntelang so zu tun, als seien wir kein Einwanderungsland. Das war immer eine Illusion. Deshalb komme ich mal zu einem Erfolg der Ampelregierung in Berlin: Sie hat mit dem neuen Einwanderungsrecht eine wesentlich bessere Grundlage für kontrollierte Zuwanderung geschaffen.
Wenn ich mich recht entsinne, ist inzwischen jeder vierte Arbeitsplatz in Deutschland von Menschen mit migrantischen Wurzeln besetzt – viele Bereiche von Krankenhäusern bis hin zu Forschungseinrichtungen müssten ohne diese Arbeitskräfte schließen.

Das ist so, und Deutschland wird momentan gleichzeitig immer ausländerfeindlicher. Wie bekommt man das jetzt wieder gedreht? Der Geist ist aus der Flasche … Ich höre immer, man müsse jetzt eine „bessere Politik“ machen. Was wäre denn eine „bessere Politik“?

Das geht mit der Kommunikation los. Man muss mit den Streitereien aufhören, aber diesen Appell mag man mittlerweile ja auch schon nicht mehr hören. Alle sind gefordert an guten Lösungen zu arbeiten. Ich finde zum Beispiel das Sicherheitskonzept gut, das die Ampel nach der Messerattacke in Solingen auf den Tisch gelegt hat. Punkt.
Die Leute erwarten in diesen Zeiten vom Staat Schutz und Sicherheit. Wir müssen liefern. Vieles muss auch einfacher und schneller werden, Stichwort Arbeitsmarktintegration. Geflüchtete mit Bleibeperspektive sollten möglichst zügig arbeiten und nebenbei Deutsch lernen können – im Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen lernt man die Sprache auch viel schneller. Wenn sich dann herumspricht, dass die Leute typischerweise für ihr Geld arbeiten und nicht von Steuergeldern leben, wird das auch die Akzeptanz erhöhen.
Momentan haben die wirklich guten Ansätze leider noch viel zu oft Projektcharakter. Wir werden darum jetzt im Herbst mit einer größeren Initiative auch in Niedersachsen antreten, um Geflüchtete wesentlich früher in die Betriebe zu bekommen. Wir müssen einfach in vielen Dingen sehr viel pragmatischer werden.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im September

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Ein letztes Wort im September


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Stephan Weil (r) und Lars Kompa (l)

Herr Weil, wie war der Urlaub?
Sehr schön! Ich kann nicht meckern. Ich war mit meiner Frau unterwegs, wir haben es uns wirklich gut gehen lassen: Gut gegessen und getrunken, schöne Landschaften genossen, ein bisschen gewandert, viel gelesen, alles fein.

Haben Sie wirklich entspannen und abschalten können? Gleichzeitig gab es ja zum Beispiel in Deutschland schon wieder die Querelen um den Haushalt, nachdem der bereits beschlossen war.
Inzwischen ist man das ja leider schon gewohnt. Und ich habe in den letzten Jahren dazugelernt, ich ärgere mich nicht mehr so schnell.

Bei mir ist es inzwischen mehr Verzweiflung als Ärger. Ich verstehe beispielsweise so gar nicht mehr, was die FDP eigentlich umtreibt.
Schwer zu begreifen ist jedenfalls dieses wiederholte Schauspiel eines feierlichen Verkündens einer Einigung und knapp zwei Wochen später das Abräumen dieser Einigung auf offener Bühne. Bei mir schwindet allmählich die Hoffnung, dass sich daran noch etwas ändern wird. Appelle gab es genug, immer wieder Mahnungen, Diskussionen oder auch Streitigkeiten doch bitte intern und geräuschlos auszutragen. Genützt hat es wenig.

Ich verstehe ja, dass auch die FDP im Wahlkampf ist vor den Landtagswahlen, so wie die anderen Parteien, aber wenn die FDP dann mit so einem Pro-Auto-Programm um die Ecke kommt, lässt mich das wirklich ratlos zurück.
Ich habe mich auch gefragt, was das sollte, und ich habe keine plausible Antwort gefunden. Was soll dieser Plan für den Wahlkampf bringen? Zumal es sich dabei um ein kommunalpolitisches Thema handelt. Ich glaube, die Leute im Osten Deutschlands haben ganz andere Sorgen und die FDP rangiert in diesen Ländern inzwischen unter den Sonstigen. Mir kommt das alles vor wie ein wildes Flügelschlagen, in dem Versuch, irgendwie irgendwo Zuspruch zu erzielen. Pro-Auto, Kürzungen des Bürgergeldes, Schuldenbremse – all diese Positionen werden ja wie eine Monstranz vor sich hertragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das bei Wählerinnen und Wählern verfängt. Eher im Gegenteil. Aber die Schlussfolgerung der FDP scheint zu sein, irgendwie immer so weiterzumachen, koste es, was es wolle.

Ich finde die Diskussionen um das Bürgergeld teilweise arg populistisch.
Das sind sie, Populismus auf dem Rücken der Schwachen. Politik soll und muss die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigen. Die Karlsruher Richter haben entschieden, dass in jedem Fall das Existenzminimum gewährleistet sein muss. Das wiederum wird nach bestimmten Regeln festgelegt, insofern gibt es in Bezug auf die Höhe von Sozialtransfers einen relativ engen Handlungsspielraum. Würde man aus einer Wahlkampflaune heraus, einfach mal X Euro streichen, würde das zu Recht in Karlsruhe sofort kassiert werden. An solchen Beispielen kann man gut sehen, was der Begriff Populismus eigentlich meint: Man sagt Dinge, von denen man denkt, dass sie gut ankommen, obwohl man es besser weiß. Damit macht man den Leuten nur etwas vor, man täuscht sie.

Was mir bei den Diskussionen ums Bürgergeld Sorgen macht, ist dieses fortwährende Befeuern der Neiddebatte. Die einen arbeiten und bekommen zu wenig, während die anderen faul sind und trotzdem viel bekommen. Damit wird polarisiert. Das spaltet. Wobei die Wirklichkeit natürlich sehr viel differenzierter ist. Die Zahl der Leute, die sich wirklich gemütlich in die soziale Hängematte legen, ist ja sehr überschaubar.
Das stimmt, dennoch muss man bei diesem Thema genau hinsehen, denn es geht um Gerechtigkeit. Und wenn es da Schieflagen gibt, müssen die abgestellt werden. Einige Korrekturen sind richtig und notwendig, damit diejenigen, die zumutbare Arbeit ablehnen, Konsequenzen spüren. Und wer Geld vom Staat bekommt, nebenher aber schwarz arbeitet und ein gutes Leben führt auf Kosten der Allgemeinheit, der muss sanktioniert werden. Der Abstand beim Einkommen zu jenen, die im Niedriglohnbereich voll arbeiten gehen, ist in bestimmten Konstellationen zu gering. Was allerdings auch heißt, dass es neben Sanktionen auf der einen Seite eine Erhöhung des Mindestlohns auf der anderen Seite geben muss. Das wird bei der Diskussion aber gerne ausgeklammert. Es gibt in Deutschland viel zu viele Menschen, die voll arbeiten, aber dennoch keine anständige Altersversorgung aufbauen können.

Müssten wir nicht eigentlich auch viel mehr über die Reichen reden? Gerade gab es ja wieder so eine Diskussion der G20-Finanzminister, leider nur mit einer Absichtserklärung. Diskutiert wurde eine Steuer von 2 Prozent für Superreiche. Das brächte weltweit etwa 250 Milliarden Dollar pro Jahr.
Ich hätte damit überhaupt kein Problem. Wir haben aus Niedersachsen vor sieben Jahren mal einen klugen Vorschlag für eine Änderung des Einkommenssteuertarifs gemacht und insbesondere eine Superreichensteuer gefordert. Womit man bei vielen Superreichen übrigens durchaus auf Zustimmung stößt. Einige sagen, dass man gerne das monatliche Einkommen höher besteuern könne, wenn man gleichzeitig die Substanzbesteuerung in Grenzen hält. Denn in vielen Fällen steckt das Vermögen, über das wir reden, in Unternehmen, und ist damit auch Grundlage für Arbeitsplätze. Also, darüber könnte man sprechen und mit den vernünftigen reichen Leuten wahrscheinlich auch einen Konsens herstellen. Aber mit einem FDP-Finanzministerium ist über solche Ideen nicht zu reden.

Den Vorschlag der 2-Prozent-Reichensteuer hat die FDP direkt im Anschluss an das Treffen in Rio „nicht zielführend“ genannt. Fertig waren sie mit der Diskussion. Aber ich finde, dass auch die SPD bei diesem Thema zu leise bleibt.
Ja, da gehe ich mit, das ist ein Defizit meiner eigenen Partei. Man kann über mehr Konsequenz beim Bezug von Bürgergeld reden, aber man muss sich dann auch die andere Seite der Medaille ansehen.

Das klingt ja schon fast nach einer Agenda.

Naja, die SPD ist seit vier oder fünf Bundestagswahlkämpfen mit der Forderung nach einer Vermögenssteuer in den Wahlkampf gegangen. So wahnsinnig viel geholfen hat das nicht. Man hat mit dieser Forderung typischerweise regelmäßig Zustimmung in Umfragen, aber im Wahlergebnis schlägt es sich nicht nieder.

Vielleicht muss man die Forderung einfach ein bisschen lauter vertreten? Wenn wir uns jetzt noch schnell darauf einigen, die Schuldenbremse zu schleifen, bin ich für heute zufrieden.
Ich möchte die Schuldenbremse aber gar nicht schleifen. Wir müssten sie allerdings dringend reformieren. Für die Abschaffung bräuchte es ohnehin eine Zweidrittelmehrheit, die ist völlig unrealistisch. Aber für eine Modifizierung plädieren inzwischen auch viele, die früher nichts ändern wollten – etwa große Teile der Wirtschaft und große Teile der Wirtschaftswissenschaften. Es ist völlig klar, dass wir es mit diesem engen finanzwirtschaftlichen Korsett nicht hinbekommen werden. Alle anderen entwickelten Industriegesellschaften investieren gerade und Deutschland versucht durch Sparen voranzukommen. Diese Rechnung kann nicht aufgehen. Es führt kein Weg daran vorbei: wir müssen Investitionen nachholen, damit Deutschland wettbewerbsfähig bleibt. Das wird eine enorme Kraftanstrengung über 10, vielleicht auch 20 Jahre. Darüber muss geredet werden. Aber wenn überall ein Stoppschild namens Schuldenbremse steht, dann wird es nicht weitergehen. Womit wir wieder am Anfang unseres Gesprächs wären. Ich glaube, dass der Kurs von Christian Lindner direkt in eine Sackgasse führt. Davon bin ich leider absolut überzeugt.

Die schwäbische Hausfrau sollte in Rente gehen?
Die schwäbische Hausfrau ist eine kluge Frau, die repariert auch ihr Haus, wenn es durchregnet. Für eine Reform der Schuldenbremse sind inzwischen sogar die Wirtschaftsweisen, und die stehen wirklich nicht unter dem Verdacht, links zu sein. Viele Menschen, die sich früher ganz klar in die Fankurve zur Schuldenbremse gestellt haben, sind in letzter Zeit sehr nachdenklich geworden. Nach meiner tiefen Überzeugung zweifeln inzwischen auch große Teile der FDP daran, ob diese Schuldenbremse in der jetzigen Form der Weisheit letzter Schluss ist. Aber man hat sie eben über Jahre gehütet wie den heiligen Gral. Wahrscheinlich geht es jetzt vor allem um Gesichtswahrung. Aber die Entwicklung in Deutschland ist zu wichtig, als dass man jetzt Rücksicht auf die Befindlichkeit einer Partei nehmen könnte.

Interview: Lars Kompa

 

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Ein letztes Wort im Juni

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Ein letztes Wort im Juni


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Stephan Weil (r) und Lars Kompa (l)

Herr Weil, wir führen unser Interview knapp einen Monat vor der Europawahl, der Wahlkampf läuft auf Hochtouren. Und die Stimmung ist aktuell teils ausgesprochen aggressiv, Politikerinnen und Politiker werden angegriffen, während sie ihre Plakate aufhängen wollen, es gibt Diffamierungen und Übergriffe auf allen Ebenen. Wir lesen und hören eigentlich jede Woche von Gewalttaten. Der sächsische Europa-Abgeordnete Matthias Ecke ist sogar krankenhausreif geschlagen worden. Was macht das mit Ihnen ganz persönlich? Haben Sie bei öffentlichen Auftritten jetzt neuerdings ein mulmiges Gefühl?
Nein, mit mir persönlich macht das relativ wenig, weil Ministerpräsidenten ja gut geschützt sind. Aber ich weiß, dass zum Beispiel Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker immer wieder beleidigt und bedroht werden und die haben keinen solchen Schutz, wie ich ihn habe. Oder denken Sie an Einsatzkräfte von Rettungsdiensten, da gab es zuletzt leider auch in Niedersachsen wieder Meldungen über Angriffe – das sind Nachrichten, die gehen auch mir unter die Haut.

Wie geht’s denn Ihrer Security-Mannschaft bei Ihren öffentlichen Auftritten? Sie sind ja niemand, der den Leuten aus dem Weg geht. Für Ihr Sicherheitsteam ist es gerade Stress pur, oder?
Nun, das müssten die Personenschützerinnen und Personenschützer des LKA eigentlich selbst beantworten. Grundsätzlich hat jeder Beruf seine Risiken. Gleichwohl haben wir in Niedersachsen sicherlich andere Verhältnisse, als sie uns aus Sachsen berichtet werden. Nach dem Anschlag auf Matthias Ecke ist ja bekannt geworden, dass dort nahezu täglich Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer drangsaliert werden und welche bedrohliche Atmosphäre dort im Wahlkampf herrscht. Das ist schwer erträglich, zum Glück gibt es in dieser Hinsicht doch deutlich bessere Verhältnisse in Niedersachsen.

Ich stelle es mir nicht so einfach vor, bei all dem, was so passiert, keine Angst zu bekommen, also standhaft zu bleiben und nicht zurückzuweichen, und das vor allem auf der lokalen Ebene. Übergriffe gab es auch in der Vergangenheit, aber das alles erreicht gerade ein neues Level. Und die ehrenamtlichen Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer haben – wie sie eben gesagt haben – keine Security …
Ja, das ist auch der Teil, der mir wirklich große Sorgen macht. Unsere politische Ordnung geht ja davon aus, dass am Ende das Volk entscheidet und die Parteien an der Willensbildung des Volkes mitwirken. Dies tun sie durch viele ehrenamtlich engagierte Menschen, die in Wahlkämpfen mithelfen. Wenn es die nicht mehr geben würde, dann würde unsere Demokratie großen Schaden nehmen. Hinzu kommt: Wir brauchen auch engagierte Personen, die für Mandate kandidieren wollen, wenn es etwa bei Kommunalwahlen um die Besetzung von Ortsräten, Räten und Kreistagen geht. Wirklich besorgniserregend finde ich, dass viele Angriffe, von denen wir hören, nicht spontan passieren, sondern diese auch geplant sind. Menschen, die sich für unsere Gesellschaft einsetzen, sollen eingeschüchtert werden. Das werden und dürfen wir nicht zulassen. Solche Angriffe sind ein Anschlag auf unsere Demokratie!

Mich erinnert das tatsächlich an sehr dunkle Zeiten in Deutschland. So ähnlich hat es damals angefangen.
Naja, ganz so schwarz würde ich das nicht sehen. Richtig ist, dass der Ton und das Klima wesentlich rauer geworden sind in der politischen Auseinandersetzung. Gleichzeitig hatten wir aber zu Beginn dieses Jahres riesige Demonstrationen, bei denen wir gesehen haben, dass wirklich eine breite Mehrheit der Gesellschaft hinter unserer Demokratie steht und beispielsweise auch Gewalt ablehnt. Umgekehrt darf man aber auch nicht die Augen davor verschließen, dass nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Stimmungslage in der Bevölkerung, fast 13 Prozent der Befragten gesagt haben, sie würden der Aussage voll oder eher zustimmen‚ dass manche Politikerinnen und Politiker sich nicht wundern dürften, wenn es dann auch mal zu Gewalt käme – vor zwei Jahren war diese Zustimmung wesentlich geringer. Das zeigt, dass tatsächlich die Temperatur angestiegen ist. Wir müssen das sehr ernst nehmen, aber ein Vergleich mit der Weimarer Republik erscheint mir übertrieben.

Ich habe neulich versucht, jemandem zu erklären, dass aus meiner Sicht solche Angriffe nie in Ordnung sind. Dass also auch Übergriffe und körperliche Angriffe Richtung AfD nicht in Ordnung sind. Helfen Sie mir mal, diesen Standpunkt zu begründen …
Das ist relativ einfach: Unsere Demokratie beruht darauf, dass wir miteinander streiten, aber mit Argumenten und ohne Gewalt. Dieser Grundsatz gilt für alle und damit auch für die AfD. Und deswegen habe ich kein Verständnis gegenüber Gewalt an AfD-Mitgliedern. So sehr ich diese Partei politisch bekämpfe – auch deren Mitglieder haben einen Anspruch darauf, dass sie ihrer politischen Tätigkeit ohne Angst vor Gewalt nachgehen können.

Eine Demokratie muss also auch die Feinde der Demokratie aushalten, solange die sich im Rahmen der Verfassung bewegen. Das scheint aber zunehmend eine Herausforderung zu sein. Die Demokratie erlebt Druck vom linken und rechten Rand und neuerdings wird auch noch ein Kalifat gefordert. Mir kommt es so vor, als ob immer mehr Menschen unserer Demokratie nicht mehr viel abgewinnen können.
Richtig ist leider, dass das Vertrauen in die demokratischen Institutionen gesunken ist – das wissen wir auch aus Forschungsstudien und das ist ein Punkt, der uns allen Sorgen machen muss. Dennoch steht die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft unverändert zu unserer Demokratie, bei allen Macken, die diese auch haben mag – niemand wird behaupten, dass unser politisches System fehlerfrei wäre. Wie bereits erwähnt, kommt es vor allem darauf an, dass die Demokratinnen und Demokraten sich zeigen und deutlich machen: Wir sind viel, viel mehr und wir lassen nicht zu, dass das Klima durch deutlich kleinere, radikale Gruppen dominiert wird. Das ist etwas, was ich mir nicht nur wie am Jahresanfang bei Demonstrationen wünsche, sondern was das ganze Jahr durchgängig in unserer Gesellschaft präsent sein sollte.

Überzeugen Sie mal mich, in die Politik einzusteigen. Keine Angst – nur theoretisch.
Schade eigentlich! Sie würden eine Menge mitbringen, Herr Kompa. Es ist eigentlich relativ einfach. Ich bin seinerzeit in die SPD eingetreten, als mir klar wurde, dass punktuelles Engagement für ein Thema oder eine Sache sehr wertvoll ist, aber am Ende des Tages lebt eine Demokratie davon, dass auch dauerhaft Verantwortung übernommen wird. Man kann Parteien mit Fug und Recht kritisieren, einstweilen haben wir aber kein besseres Modell, wie diese dauerhafte Verantwortung organisiert werden soll. Parteien sind extrem davon abhängig, dass sie der Ort sind, wo sich viele Bürgerinnen und Bürger engagieren und sich einbringen. Wenn das nicht geschieht, dann trocknet die Demokratie gewissermaßen von unten aus. Deshalb wünsche ich mir ein großes Engagement und würde mich selbstverständlich auch über den Kollegen Kompa sehr freuen.

Sind Sie auch für härtere Strafen, angesichts der Übergriffe? Das wird ja jetzt vielfach gefordert.
Nun, die erste reflexhafte Reaktion ist häufig die Forderung nach härteren Strafen, meistens ist damit ein größerer Strafrahmen gemeint. Aber der Strafrahmen ist häufig gar nicht entscheidend, sondern die Strafe im Einzelfall. Unsere Justizministerin Kathrin Wahlmann hat, wie ich finde, einen sehr klugen Vorschlag gemacht: Bei den Strafzumessungsgründen, die wichtig für die konkrete Strafe sind, soll eine demokratiefeindliche Gesinnung mit berücksichtig werden. Das finde ich ausdrücklich richtig. Angriffe auf die Demokratie müssen auch durch spürbare Strafen geahndet werden – das gehört zu einer wehrhaften Demokratie.

Es wäre doch jetzt eigentlich an der Zeit, verbal abzurüsten und zu deeskalieren, oder? Aber wenn ich mich in der Politik so umsehe, habe ich da wenig Hoffnung. Inzwischen polemisieren auch bürgerliche Parteien der Mitte, was das Zeug hält. Ein echtes Spiel mit dem Feuer …
Dieses Risiko sehe ich auch. Es ist interessant, wenn man sich das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster anschaut bezüglich der Verfassungsschutzmaßnahmen gegen die AfD. Darin gibt es rauf und runter Zitate, die die Stimmung anheizen und insbesondere auch die Ausländerfeindlichkeit dieser Partei zum Ausdruck bringen.

Wenn man will, dass das Klima sich ändert, dann muss man zunächst bei sich selbst beginnen und vielleicht mal statt der knackigsten, zugespitzten Formulierung die sachlichere Variante wählen. Ich gebe mir da große Mühe und finde das auch angemessen. Ich würde mich sehr freuen, wenn alle Menschen in der Politik – egal aus welchen Parteien – endlich mal aufhören würden immer die maximal griffigste Formulierung zu wählen, die häufig auch verletzend ist und häufig auch schlichtweg falsch ist – auch das würde unserer Demokratie guttun: Streit in der Sache, aber in einem vernünftigen Ton.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im Mai

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Ein letztes Wort im Mai


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Stephan Weil (r) und Lars Kompa (l)

Herr Weil, heute frage ich Sie nicht primär als Ministerpräsident, sondern als SPD-Landesvorsitzender. Lassen Sie uns doch mal jenseits aller ganz großen Konflikte ein bisschen eintauchen in die Landespolitik in Deutschland. In Niedersachsen liegt die AfD nach einer Umfrage von Allensbach von Anfang Februar auch schon bei 21 Prozent. Der Geist ist immer mehr aus der Flasche, oder?
Ja, wir können uns schon lange nicht mehr vormachen, dass das allein ein ostdeutsches Problem sei. Das ist es definitiv nicht. Hätten wir vor zweieinhalb Jahren über dieses Thema gesprochen, dann wäre ich vielleicht noch davon ausgegangen, dass die AfD bei den Landtagswahlen im Herbst 2022 unter 5 Prozent bleiben könnte. Aber im Februar 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen, es folgten Energiepreiskrise und Inflation. Seither sehen wir auch im Westen einen deutlichen Anstieg der Werte der AfD. Mag der Zuwachs auch vielleicht durch die Partei von Sahra Wagenknecht ein bisschen geringer werden, müssen wir doch nüchtern konstatieren, dass sich in Deutschland eine Partei deutlich rechts von der CDU festsetzt.

Nun sagen die einen, man muss die AfD inhaltlich stellen, also mit der AfD diskutieren. Und die anderen meinen, dass das gar nichts bringt und dass man dieser Partei möglichst keine Bühne geben sollte. Auf welcher Seite stehen Sie?
Ich möchte der AfD möglichst keine zusätzliche Bühne bieten. In jedem Fall möchte ich dagegen die Wählerinnen und Wähler der AfD ansprechen. Denn das sind ja weiß Gott nicht alles Rechtsextreme. Wir wissen aus vielen Umfragen, dass nach wie vor ein hoher Anteil vor allem Unmut ausdrücken will. Viele glauben dabei gar nicht, dass die AfD eine seriöse Adresse sei. Wir müssen uns in der Sache hart mit der AfD auseinandersetzen und genau analysieren, wofür diese Partei inhaltlich steht. Nehmen Sie die Europawahl: Ohne das Wort Dexit in den Mund zu nehmen, sinniert die AfD über ein Ausscheiden der Bundesrepublik aus der EU. Obwohl Europa der wichtigste Markt für die deutsche Wirtschaft ist. Ein solcher Schritt wäre ein Programm zur massenhaften Verarmung von Menschen in Deutschland.

Thüringens CDU-Chef Voigt ist ja gerade mit Höcke in den Ring gestiegen. Und Höcke hat dort gesagt, dass es der englischen Wirtschaft deutlich besser geht als der deutschen Wirtschaft. Und dass der Brexit demnach ein Erfolgsmodell sei.
Da sind die Engländer selbst aber inzwischen ganz anderer Meinung. Die bitteren Konsequenzen des Austritts sind dort überall spürbar.

Was Höcke allerdings nicht groß interessiert. Und mit jemandem zu diskutieren, der sich die Welt macht, wie sie ihm gefällt, ist ein bisschen schwierig, oder? Also doch besser lassen?
Wie gesagt, mein Ansatz ist es eher, die Wählerinnen und Wähler der AfD direkt anzusprechen, ihnen zuzuhören und ihre Argumente zu hinterfragen. Letztlich aber gibt es auf die Frage, was man wirklich gegen die AfD tun kann, nur eine richtig gute Antwort.

Das haben Sie schon öfter gesagt. Die Politik muss besser werden, sie muss Sicherheit und Verlässlichkeit vermitteln. Das scheint mir in nächster Zukunft aber bei aller Liebe ein bisschen fraglich, wenn ich mir die Performance der Ampel ansehe.
Es ist dennoch der richtige Weg, und ich hoffe, dass das irgendwann alle Beteiligten verstanden haben. Menschen mit einem gefestigten rechtsextremen Weltbild werden wir mit guter Politik nicht erreichen. Es lohnt sich aber sehr wohl mit denen zu sprechen, die jahrzehntelang CDU, SPD, Grün oder FDP gewählt haben, sich jetzt aber enttäuscht der AfD zuneigen. Viele von ihnen verwahren sich persönlich auch entschieden dagegen, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Wir müssen reden, überzeugende Alternativen aufzeigen und dann auch so handeln. Ich habe jetzt damit begonnen, Bürgerversammlungen anzubieten für Menschen, die mir oder auch anderen bitterböse Briefe schreiben. Diese Menschen bringen durch diese Briefe zumindest zum Ausdruck, dass sie noch Erwartungen an die Politik haben. Und ich stelle fest, dass man ins Gespräch kommen kann. Oft macht der Ton die Musik – übrigens auf beiden Seiten. Machen wir also einen Unterschied zwischen den Repräsentanten dieser Partei, wie dem Faschisten Höcke, und ihren Wählerinnen und Wählern. Damit gibt man der AfD keine Bühne. Und nochmal apropos Bühne: Herr Voigt hat zwar sein Ziel erreicht, bundesweite Publizität zu bekommen, aber zu einem ziemlich hohen Preis. Denn auch Herr Höcke hat diese Publizität bekommen.

Den Eindruck hatte ich auch. Zumal gerade beim Thema Zuwanderung die Unterschiede zwischen den beiden für mich nicht so ganz klar geworden sind. Beide sehen das ja als massives Problem. Wahrscheinlich wählen die Leute dann doch lieber das Original.
Das ist das Risiko, wenn man in den Sound der AfD einstimmt. Auch und gerade in Bezug auf Geflüchtete gilt es, die eigenen Argumente sehr sorgfältig abzuwägen. Von den Kritikern unserer Politik wird häufig darauf hingewiesen, dass die Flüchtlinge reichlich bekämen, bei deutschen Rentnerinnen und Rentnern aber gespart werde. Ich weise dann darauf hin, dass etwa ein Viertel aller Arbeitsplätze in Deutschland inzwischen von Menschen mit Migrationshintergrund besetzt sind. Würden wir uns die wegdenken, wäre die Deutsche Rentenversicherung kaputt. Bei solchen Argumenten blickt man dann doch in nachdenkliche Gesichter.

Sprechen wir in dem Zusammenhang noch kurz über die neue Kriminalstatistik. Was die AfD daraus macht, ist klar: Alle Ausländer sind kriminell, als ob es da ein Gen gäbe … Ein Argument mehr, sie nicht ins Land zu lassen oder wieder zu vertreiben. Sie gehören nicht hierher. Und passend kommt dann die die CDU mit der Leitkultur um die Ecke …
Ich glaube, von den Ergebnissen der jüngsten polizeilichen Kriminalstatistik ist zunächst niemand überrascht, der sich schon mal näher mit diesen Statistiken befasst hat. Ich kenne das Thema jetzt seit den 90er-Jahren, als ich mal im Justizministerium gearbeitet habe. Die Kriminalstatistik reflektiert auch sehr stark die soziale Lage. In der Gruppe derjenigen, die mit sehr wenig Geld auskommen müssen, ist die Zahl der Zugewanderten leider stets hoch. Armut ist nicht kausal für Kriminalität, aber Armut kann ein Faktor bei einer Entwicklung hin zur Kriminalität sein, das Gefühl, ohnehin nicht richtig dazuzugehören ein anderer. All das entschuldigt kein kriminelles Verhalten, aber es weist auf Lösungsansätze hin. Mehr Integration und Teilhabe, schneller und unkomplizierter berufliche Perspektiven aufzeigen. Und zur Wahrheit gehört eben auch, dass die allermeisten Menschen, die zu uns kommen, sich große Mühe geben, die Erwartungen in ihrem neuen Heimatland zu erfüllen, dass sie schnell unsere Sprache erlernen und unser Grundgesetz achten und respektieren. Und was die Leitkultur der CDU angeht: Mir reicht unser Grundgesetz.

Das am 23. Mai 75 Jahre alt wird. Und das soll gefeiert werden …
Ja, das sollten wir feiern! Unser Grundgesetz ist wirklich ein guter Kompass, eine kluge Grundlage für unser Zusammenleben und ein Grundpfeiler unserer Kultur. Was mir am Grundgesetz besonders gut gefällt, ist die Balance zwischen den eigenen Freiheitsrechten und anderen ganz persönlichen Rechten und den Belangen der Allgemeinheit. Das ist ganz, ganz große Rechtssetzungskunst.

Da könnten sich heutige Gesetzgeber manches abschneiden …
Das ist leider wahr. Nehmen wir nur die hohe Zahl der einzelnen Regelungen zur Schuldenbremse im Grundgesetz und vergleichen sie mit dem Abschnitt über die Grundrechte.

Heute würde das Grundgesetz bestimmt auch anders heißen.
Besseres-Deutschland-Verfassung-Gesetz. Oder Besseres-Zusammenleben-Gesetz. Aber Spaß beiseite. Wir können sehr stolz sein auf unser Grundgesetz, das übrigens eine ungeschriebene Überschrift hat: Nie wieder! Seine Bilanz kann sich wirklich sehen lassen. Wir hatten 75 Jahre lang in Europa keinen Krieg und bei durchgängig persönlicher und politischer Freiheit einen stetig wachsenden Wohlstand. Das aber sollte uns umso mehr mahnen, uns jetzt für unsere Freiheit, für unsere Demokratie und ihr Fortbestehen einzusetzen. Jede und jeder von uns! Das ist jetzt unsere gemeinsame Aufgabe. Denn unsere Freiheit ist gefährdet, daran gibt es gar keinen Zweifel.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im April

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Ein letztes Wort im April


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, der Fachkräftemangel scheint auch in der Staatskanzlei angekommen zu sein. Der Wettbewerb um die besten Köpfe kostet viel Geld ..
Und Sie sind ein Spaßvogel. Aber im Ernst, wenn jemand zehn Jahre lang schlechter bezahlt werden soll als eine Arbeit bewertet ist, dann muss man die Frage stellen, ob die Kriterien für eine solche Entscheidung richtig sind. Zumal auch im öffentlichen Dienst der demografische Wandel immer spürbarer wird und wir attraktive Arbeitgeber sein müssen. Und  wenn man dann noch feststellt, dass sowohl der Bund als auch die anderen angefragten Länder es anders machen als Niedersachen, dann muss man über Änderungen nachdenken.

Es gibt also keinen Skandal und Fehler wurden auch nicht gemacht?
Sicher hätten wir es uns und allen Beteiligten leichter machen können durch eine zeitliche Distanz zwischen der Änderung unserer bisherigen Praxis und der Entscheidung im Einzelfall. Inhaltlich stehe ich allerdings unverändert zu beidem. Dass jetzt versucht wird, aus diesem Vorgang politisches Kapital zu schlagen, müssen wir aushalten.

Womit wir schon fast bei dem Thema sind, über das ich heute eigentlich mit Ihnen sprechen wollte. Letztlich gehören die Skandalisierung, das Hochjazzen von Themen, dieses ständige Polemisieren – manche sprechen auch harmloser von Zuspitzungen – heute ja zum politischen Alltagsgeschäft …
Wobei ich da kurz einhaken möchte, weil ich mich nicht darüber beklage, dass über einen Vorgang in meinem Bereich kritisch berichtet wird. Es ist völlig okay, dass das hinterfragt wird und dass Opposition und Medien genau hinsehen. Das gehört zum politischen Geschäft. Die Amerikaner sagen mit Recht:  Wer keine Hitze verträgt, soll nicht in der Küche arbeiten.

Darüber haben wir an dieser Stelle schon öfter gesprochen. Was aber neu hinzugekommen ist in diesem Geschäft, in einer ganz anderen Qualität, das sind Lügen, Verzerrungen, Fake News und das ist in letzter Zeit auch immer mehr die Meinungsmache mittels KI beispielsweise über Social Bots. Das wird in Amerika demnächst bei der Wahl großen Einfluss haben, und wir müssen auch feststellen, dass das bei uns bereits ebenfalls Einfluss nimmt. Russland hat sich mit seiner Propaganda, mit seinen Narrativen in der deutschen Gesellschaft inzwischen festgesetzt. Wir erleben also eine fragwürdige neue politische Kultur und hinzu kommt noch diese Einflussnahme …
Wenn wir zunächst kurz bei dieser politischen Kultur bleiben, dann ist es auch aus meiner Sicht so, dass wir tatsächlich deutliche Veränderungen feststellen. Inzwischen ist der Skandal gewissermaßen der Regelfall. Und wir erleben immer öfter eine Reduzierung auf schwarz und weiß –  auch dort, wo man es mit sehr komplizierten Sachverhalten zu tun hat, die man durchaus unterschiedlich bewerten kann. Die Wirklichkeit ist aber ganz oft grau, in unterschiedlichen Schattierungen. Wenn alle sich das bewusst machen, kann man sachlicher und auch ruhiger diskutieren. Das ist nach meinem Eindruck tatsächlich weniger geworden und auch Folge einer neuen Medienwelt. Im Zuge der Digitalisierung sind Klicks zur eigentlichen Währung geworden, und damit ist der Reiz groß, es mit besonders knackigen und knalligen Messages zu versuchen oder mit provokanten Überschriften.

Was dann mit Qualitätsjournalismus leider nicht mehr viel zu tun hat.
Ich habe aber auch nicht wirklich eine Idee, wie die Medien, die ja im Wettbewerb stehen, das zurückdrehen könnten. Es gibt auch eine Tendenz zu immer kürzeren Formaten. Umfangreichere Kommentare, in denen noch unterschiedliche Akzente herausgearbeitet werden können, werden leider immer seltener.

Die Qualität leidet überall, auch in den Tageszeitungen.
Das ist teilweise so und das bedauere ich sehr. Es wird aber vielerorts auch nach wie vor sehr gute journalistische Arbeit geleitet, das gehört zur Wahrheit dazu.

Und ich bin ganz froh, dass wir ein Print-Monatsmagazin machen, ohne den Druck, laufend Push-Meldungen produzieren zu müssen. Wobei zu diesem Mechanismus ja auch zwei Seiten gehören. Die Leute klicken, weil das die Instinkte anspricht. Wenn etwas aufregt, Angst macht, dann wird geklickt. Das funktioniert über Emotionen. Aber das alles gehört im Grunde noch nicht zur neuen Problematik der Fake News und Propaganda. Wenngleich die beschriebene Verflachung solche falschen Nachrichten begünstigt. Es ist heute leichter, damit durchzudringen. Und dann liest jemand auf Facebook drei knackige Kommentare zum Konflikt in Israel und hat bereits eine Meinung – bei einem Thema, das unfassbar komplex ist.  
Das ist ein echtes Problem. Ich war in dieser Woche in einer Schule, in der es eine große Diskussion zu Europa gab mit vielen Schülerinnen und Schülern. Aber es ging die Hälfte der Zeit nicht um Europa, sondern um Palästina und Gaza. Und es ging sehr viel um den Begriff Genozid. Manche behaupteten, was Israel mache, sei ein Genozid. Und ich habe dagegengehalten und betont, dass ich mir sehr wünsche, dass die Gewalt dort sofort aufhört, aber dass wir es nicht mit einem Genozid zu tun haben. Dieser Begriff ist gerade vor dem Hintergrund der Shoah völlig unangemessen und faktisch falsch.

Es gibt ja sehr viele, reichlich schräge Erzählungen. Ich denke da beispielsweise an die Nazis in der Ukraine, ich denke an die angeblich gekaufte Maidan-Revolution, ich denke an den Vorwurf, dass die Ukraine im Donbass Russen ermordet haben soll. Diese russischen Narrative sind bei uns inzwischen eingesickert und sie wirken in den Hinterköpfen. Sehr viele Menschen halten diese Geschichten für wahr. Und sie positionieren sich entsprechend. Ist den politisch Verantwortlichen eigentlich klar, dass wir in dieser Hinsicht bereits seit vielen Jahren sozusagen im Krieg mit Russland sind?
Ich denke da auch an Corona und diese Geschichte, dass bei der Impfung irgendwelche Implantate von Bill Gates gespritzt worden sein sollen. Ich habe das damals zunächst abgetan, weil ich davon ausgegangen bin, dass das niemand glaubt. Aber nicht wenige haben das tatsächlich geglaubt und ich habe das wirklich unterschätzt. Doch zu ihrer Frage. Ja, ich glaube, inzwischen ist das vielleicht nicht allen, aber vielen klar. Über Social Media kann Schlimmes angerichtet werden, KI ermöglicht Manipulationen. Dieser Gefahr müssen wir uns bewusst sein und dagegen angehen. Das beginnt in der Schule mit der Vermittlung von Medienkompetenz. Und das hat jetzt immerhin auf EU-Ebene mal einen Anfang genommen, mit dem Artificial Intelligence Act. Damit wird zum ersten Mal versucht, ein Regelwerk aufzustellen und zu differenzieren zwischen Anwendungen, die eher risikoarm oder aber hochriskant sind. Die Technik ist einer Regulierung derzeit meilenweit voraus, diesen Abstand müssen wir entscheidend verkürzen. Da aufzuholen, ist für die Zukunft unserer Demokratien extrem wichtig.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im Februar

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Ein letztes Wort im Februar


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil


Herr Weil, wir haben zuletzt darüber gesprochen, was bei langen Nachtsitzungen in Berlin so herauskommt. Sie haben die Kürzungspläne schon einen Tag nach der sogenannten Einigung im Dezember sehr kritisch kommentiert. Inzwischen ist die Streichung der Kfz-Steuerbefreiung für Landwirtschaftsfahrzeuge wieder vom Tisch und beim Agrardiesel kommen die Streichungen auch nicht von jetzt auf gleich. Erklären Sie mir mal, warum die Bauern danach noch auf die Straße gegangen sind. War die Ampel noch nicht genug eingeknickt?
Da gibt es eine Geschichte hinter der Geschichte. Man konnte sich ja tatsächlich fragen, als es nur noch um den Agrardiesel ging, ob diese große Protestwelle eigentlich verhältnismäßig war. Aber wir sprechen über Prozesse, die schon länger als 20 Jahre laufen. Die Landwirte fühlen sich in einer Sandwich-Situation. Auf der einen Seite haben wir in unserer Gesellschaft immer höhere Erwartungen an unsere Landwirtschaft entwickelt. Und ganz oft enden die auf der Silbe -schutz: Umweltschutz, Tierschutz, Verbraucherschutz, Naturschutz usw. Und bei den Bäuerinnen und Bauern gab es dazu durchaus einen Lernprozess. Viele waren und sind bereit, diese Erwartungen möglichst zu erfüllen. Aber sie sagen eben auch, dass die Gesellschaft gleichermaßen anerkennen muss, dass sie mit ihren Betrieben Teil eines größeren internationalen Marktes sind. Sie können nicht selbst über ihre Erzeugerpreise bestimmen, das tun leider andere. Diese Sandwich-Situation ist ein strukturelles Problem in der Landwirtschaft. Und jetzt fordern sie schlicht Planungssicherheit. Und stellen eine berechtigte Frage: Wenn wir mehr leisten sollen – okay. Aber wie sollen wir dafür entsprechend das Geld verdienen? Gibt es dazu Perspektiven und Ideen? Sie fordern außerdem Verlässlichkeit in der Politik. Sie machen Stallumbauten und werden wenig später mit neuen und schärferen Anforderungen konfrontiert. Das ist natürlich problematisch bis existenzgefährdend. An dieser Stelle haben die Bauern ausdrücklich Recht. Das ist nur ein Beispiel. Sehr viel ist in den vergangenen zwanzig Jahren schlecht gelaufen. Und die drohenden Kürzungen waren jetzt einfach der berühmte Tropfen.

Beim Thema Landwirtschaft liegen also viele Fragen ungelöst seit zwanzig Jahren auf dem Tisch. Und man hat das bisher weitgehend ignoriert, obwohl die Kreuze ja schon seit einigen Jahren auf den Äckern stehen und auf die Situation der Betriebe hinweisen.
Ja, diese grünen Kreuze sieht man auch in Niedersachsen häufig. Viele niedersächsische Dörfer hatten früher fünf oder sechs Vollerwerbshöfe. Heute finden Sie in ganz vielen Dörfern nur noch einen größeren Betrieb, der die gesamte Fläche bewirtschaftet. Es gab über viele Jahre hinweg diese, wie ich finde, verhängnisvolle Strategie: Wachsen oder Weichen. Damit hat sich die Landwirtschaft deutlich verändert. Und jetzt sind es vor allem die übrigen, kleinen und mittleren Betriebe, die nicht wissen, wie sie ihre Zukunft planen sollen. Darum haben auch viele Kinder von Landwirten ihre Zweifel, ob sie den Betrieb übernehmen möchten. Und das ist für die Eltern schwer. Viele sitzen seit etlichen Generationen auf derselben Hofstelle. Und noch etwas hält die nachwachsenden Generationen ab: Es geschieht nicht selten, dass die Landwirtschaft als Umweltsünderin diskreditiert wird. Ohne dass gesellschaftlich anerkannt wäre, dass dort harte und verantwortungsvolle Arbeit geleistet wird.

Ein Problem ist der Handel. Die Preise sind einfach viel zu niedrig, oder?
Ja. Und problematisch ist auch, dass man gar nicht weiß, wo die Zutaten für die Produkte herkommen. Wenn Sie zum Beispiel Nudeln oder Fertiggerichte kaufen und es sind darin Eier verarbeitet, dann wissen Sie nicht, woher diese stammen und unter welchen Bedingungen die Hühner gehalten werden. Da kommt die internationale Konkurrenz ins Spiel. Viele Bauern empfinden den Markt als unfair, und da ist eine Menge dran. Es gibt politischen Handlungsbedarf. Und dazu: Wenn die Gesellschaft mehr Forderungen an die Landwirte hat, dann muss sie auch bereit sein, selbst mehr zu leisten, also mehr zu bezahlen. Tierwohl hat einen konkreten Preis. Tatsächlich ist es aber so, dass am Wochenende an der Fleischtheke im Supermarkt dann doch das Sonderangebot nachgefragt wird. Zu Spottpreisen.

Was müsste denn dringend passieren?
Es gibt gute Vorschläge, zum Beispiel von der Borchert-Kommission zur Tierhaltung. Das sind alles keine neuen Erkenntnisse. Trotzdem gibt es keine entsprechenden Entscheidungen. Und genau das macht die Bäuerinnen und Bauern zunehmend wütend. Bei den jüngsten Beschlüssen war es nun so, dass sich alle gewachsenen Vorbehalte gegenüber der Politik voll bestätigt haben. Niemand hat vorher mit den Landwirten geredet, es wurden einfach Entscheidungen getroffen. Und auch die Rücknahme von Entscheidungen fand nicht statt auf der Basis eines Gesprächs, sondern wiederum einseitig. Ich finde, man kann daraus eine Menge lernen.

Ich finde, man hätte schon längst etwas lernen können. Beziehungsweise hätte man es wissen müssen. Ich habe wirklich gegrübelt, wie man als Ampel eigentlich noch mehr ins offene Messer laufen kann, so richtig mit Ansage. Gibt es da keine Berater*innen?
Es ist ja bekannt, dass da ein sehr kleiner Kreis zusammengesessen hat. Bei dem beispielsweise der Bundeslandwirtschaftsminister nicht involviert war. Er hat klar gesagt, dass er dringend abgeraten hätte. Aber das ist jetzt vergossene Milch, um im Bild zu bleiben.

Wenn ich mir die vergangenen Jahre ansehe, mit all den Landwirtschaftsminister*innen der CSU/CDU, von Seehofer bis Klöckner, dann habe ich in Erinnerung, dass es eher eine Allianz gab mit den Landwirten. Die Stoßrichtung war immer eher zukunftsabgewandt. Bloß keine Veränderungen.
Nun, es gab in Berlin auch große Bauerndemos gegen die Politik von Klöckner und anderen. Sicherlich waren vor zehn Jahren noch weniger Landwirte veränderungsbereit. Aber die Landwirte wissen heute genau, dass es Entwicklungen geben muss. Sie erleben ja den Klimawandel hautnah, Stichwort Dürresommer. Veränderungen sind unumgänglich. Und das haben die Landwirte auch beim Tierwohl längst erkannt. Ich habe mal während eines eintägigen Praktikums auf einem großen Milchviehhof festgestellt, dass man sich sehr gut um die Tiere gekümmert hat. Und der Eigentümer hat das auch begründet. Wenn es den Tieren gutgehe, dann gehe es auch ihm gut, weil die Tiere so höhere Erträge brächten.

Wobei es auf der anderen Seite auch schon viele Skandale gab, und nach wie vor viel Mist passiert in der Landwirtschaft, um auch im Bild zu bleiben.
Ja, wobei man deshalb nicht immer eine ganze Branche in Mithaftung nehmen sollte. Und es hat sich auch viel getan. Heute sehen wir beispielsweise Freiluftställe mit Melkrobotern. Die Kühe können sich frei bewegen und selbst bestimmen, wann sie gemolken werden.

Wenn ich auf das Thema Landwirtschaft blicke, dann entdecke ich eine Parallele zu anderen Themen, die wir in Deutschland haben. Die Probleme sind schon Jahre bekannt, aber Lösungen gibt es nicht. Bei der Bildung, beim Verkehr, beim Wohnungsbau, bei der Gesundheit und Pflege, beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Die Liste ist lang. Die Versäumnisse sind stellenweise atemberaubend. Und dann blicke ich auf die Performance der Ampel und auf die Bereitschaft der einzelnen Akteure, konstruktiv miteinander zu arbeiten. Und was ich sehe, lässt mich ratlos zurück. Haben Sie Hoffnung, dass sich das demnächst noch mal positiv dreht?
Da würde ich zuerst gerne ein bisschen Wein in das von Ihnen dargebotene Wasser gießen. Erstens gab es noch keine Regierung, die so viel mit von außen kommenden Krisen zu tun hatte, vom ersten Tag an. Zweitens sind viele der Strukturprobleme, die Sie eben genannt haben, wesentlich älter als die Ampel. Sie werden nur jetzt immer offensichtlicher. Diese Strukturprobleme, die über Jahre gewachsen sind, lassen sich leider nicht von heute auf morgen lösen. Eine schnelle Reparatur ist einfach nicht realistisch. Und drittens leben in unserer Gesellschaft viele, viele Menschen unter ziemlich auskömmlichen Bedingungen. Nicht alle, das will ich ausdrücklich dazusagen. Aber wenn man sich anschaut, wie unsere Großeltern gelebt haben und wie Menschen in vielen anderen Teilen der Welt leben, dann kann schon feststellen, dass heute bei uns nicht alles schlecht ist.

Okay, es ist nicht alles schlecht.
Na, immerhin.

Aber trotzdem …
Das war ja auch nur die Vorbemerkung zu Ihrer Vorbemerkung. Generell muss Politik die Probleme anpacken und lösen, völlig klar. Ich finde, dass sich die Ampel erstens das Leben selbst sehr schwer macht, weil sie in vielen Fällen durchaus vernünftige Arbeit geleistet hat und weiterhin leistet. Leider bekommt das nur vor lauter öffentlichem Streit kaum noch jemand mit. Zweitens würde ich es sehr begrüßen, wenn man realistische Ziele kommunizieren würde. Sonst weckt man Erwartungen, die einfach nicht zu erfüllen sind. Und drittens wünsche ich mir, dass sich die demokratischen Kräfte in Deutschland jetzt miteinander verständigen und die Reihen schließen. Das ist vielleicht sogar das Wichtigste, angesichts der Entwicklungen um die AfD.

Interview: Lars Kompa

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