Liebe Leser*innen,
nachdem ich in der vergangenen Ausgabe hier an dieser Stelle die FDP „krass gebasht“ habe, wie ein Leser schrieb, möchte ich mich in dieser Ausgabe nun lieber angenehmeren Inhalten widmen (womit ich natürlich nichts, wirklich gar nichts von meiner Kritik an der FDP in ihrer aktuellen Ausrichtung zurücknehme, damit wir uns nicht falsch verstehen).
Aber Moment, vielleicht ist die FDP gar kein so schlechter Ausgangspunkt, um über „Was mit Herz“ zu schreiben. Die Liberalen wünschen sich, wenn ich das alles richtig verstanden habe, möglichst wenig Staat und eine möglichst freie Wirtschaft, die FDP setzt auf die Selbstregulierung des Marktes, auf Wettbewerb, darauf, dass man sich mit Fleiß, Ehrgeiz und Qualität durchsetzt, dass man selbst seines Glückes Schmied ist.
Und wenn das alles gut funktioniert, wenn es rund läuft, wozu auch gehört, dass die Bürokratie möglichst auf ein Mindestmaß zurückgefahren wird (worüber wir teilweise ja gerne sprechen können), dann sorgt der Markt für fortwährendes Wachstum. Und dieses Wachstum wiederum sorgt
hierzulande für Wohlstand. Wachstum ist also von ganz zentraler Bedeutung, kein Wachstum ist für die FDP das Worstcase-Szenario. Ich hoffe, ich habe das halbwegs richtig zusammengefasst.
Nun kann man bei dieser Idee vom fortwährenden Wachstum natürlich ein bisschen skeptisch sein.
Erstens, weil die Anzahl unserer Erden genau 1 ist und weil alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieser Welt einhellig beklagen, dass wir schon längst drüber sind, dass noch mehr Wachstum unseren Planeten zuverlässig immer mehr zugrunde richtet.
Zweitens könnte man anmerken, dass der Wohlstand bei so einer entfesselten Wirtschaft leider nur in bestimmten Gebieten der Welt wächst, während in anderen Gebieten Not und Elend herrschen.
Drittens könnte man noch hinzufügen, dass Wohlstand an einem Ort leider auch ganz viel mit der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen an anderen Orten zu tun hat. Und viertens könnte man auch noch darauf hinweisen, dass sich das Kapital immer mehr bei nur ganz wenigen Menschen ansammelt. Und wegen all dieser Einwände – es gibt noch einige mehr – wäre es vielleicht, nur vielleicht mal höchste Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, wie es Gesellschaften auch ohne fortwährendes Wachstum gutgehen könnte. Aber solche Fragen zu stellen, kommt in Deutschland
momentan noch der Ketzerei nahe. Wachstum ist nicht nur für die FDP eine heilige Kuh.
Über Null-Wachstum oder sogar ein gesundes Schrumpfen darf man nur sehr leise sprechen, zumindest winn man im politischen Geschäft weiter mitmischen will.
Und was hat das alles nun mit diesem Verein „Was mit Herz“ in der Nordstadt zu tun? Nichts, und genau das ist das Schöne. „Was mit Herz“ ist ein Gegenentwurf, es geht nicht um Wettbewerb, sondern um ein Miteinander, um Gemeinschaft, Freundschaft und Fairness, es geht nicht um Wohlstand, sondern um eine ausreichende Grundversorgung für möglichst alle, es geht nicht um Konsum und Luxus, sondern um Ressourcenrettung und ums Teilen, es geht nicht darum, besser zu sein als die anderen, sondern darum, es gemeinsam besser zu machen.
Von Michel Houellebecq ist 2005 ein sehr lesenswertes Buch mit dem deutschen Titel „Die Möglichkeit einer Insel“ erschienen. Keine Angst, ich steige jetzt nicht tiefer ein. Dieser Buchtitel ist mir in den Sinn gekommen, als ich mit Alina Zimmermann über „Was mit Herz“ gesprochen habe. Ich wünsche uns allen möglichst viele solcher Inseln.
Mehr über das bemerkenswerte Nachbarschaftszentrum in unserer Printausgabe im Gespräch mit Alina ab Seite 50.
Viel Spaß
mit dieser Ausgabe!
● Lars Kompa
Herausgeber
Stadtkind