In diesem Jahr jährt sich der Abbruch meines Studiums zum 30. Mal. Offiziell, in der Statistik, gelte ich nämlich als „Studienabbrecher“. Inoffiziell, also quasi heimlich, habe ich selbstverständlich zu Ende studiert. Mit (fast) allem Drum und Dran. Nur zum Äußersten ließ ich es nicht kommen.
Hier die Details: Ende des letzten Jahrtausends absolvierte ich an der Universität Hildesheim ein Studium der „Kulturpädagogik“. Dieser aus der Not der einstmals existierenden Lehrerschwemme geborene Studiengang war der Vorgänger der diversen „Kulturwissenschafts“-Studiengänge, die heute so in Hildesheim angeboten werden. Soweit ich informiert bin, sind die Studieninhalte aber immer noch ähnlich, nur etwas ausdifferenzierter. Ich vermute mal, dass das „Pädagogik“-Anhängsel in der Studiengangbezeichnung den Verantwortlichen irgendwann peinlich war, weil es zu sehr nach „Sozialpädagogik“ und 70er-Jahre klang. Also änderte man den Namen. Mal abgesehen davon, dass das Berufsfeld und die Ausbildung der Sozialpädagog*innen meiner Meinung nach zu Unrecht belächelt werden, hatte unser Studium tatsächlich sehr wenig damit gemein. Man konnte zwar Pädagogikkurse belegen, musste aber nicht, wenn man nicht wollte. Stattdessen konnte man auch Philosophie, Soziologie oder Politik als „Beifach“ zu den künstlerischen Fächern wählen. Oder so tun, als ob.
Wie dem auch sei: Die damalige Kulturpädagogik-Prüfungsordnung verlangte perfiderweise, dass man zunächst seine Abschlussprüfungen machte und erst dann, also im Anschluss, eine Diplom-Arbeit schrieb. Was dazu führte, dass eine erkleckliche Anzahl von Studierenden brav die mündlichen und schriftlichen Prüfungen absolvierte, um sich anschließend sofort und gnadenlos im Leben zu verfranzen. Indem sie ABM-Stellen annahmen, nachts in postmodernen Spelunken kellnerten oder schlicht depressiv wurden, weil die Freundin oder der Freund sich jetzt doch dafür entschieden hatte, lieber mit dem Ralf oder der Petra nach Freiburg zu ziehen.
Welche meine Gründe waren, kann ich nicht mehr genau rekonstruieren. Wahrscheinlich alle drei auf einmal. Vielleicht fand ich es auch einfach albern, diese Arbeit zu schreiben. Mein Lieblingsprofessor sagte in einer meiner mündlichen Prüfungen: „Sie machen den Eindruck, als ob sie es für eine Unverschämtheit halten, überhaupt geprüft zu werden.“ Ich konnte ihm nicht widersprechen. Schließlich hatte ich nicht nur die vorgeschriebenen neun Semester, sondern vor lauter Begeisterung sogar noch zweieinhalb Jahre länger in Seminaren und praktischen Übungen Engagement und neurodiverses Verhalten gezeigt, sogar hin und wieder die übermenschliche Leistung vollbracht, zu Veranstaltungen um 10 Uhr (s.t.) zu erscheinen, hatte mindestens drei Mal in der Woche in der am Bolognese-Tag nach Erbrochenem riechenden Uni-Mensa gegessen und dazu noch in meinem Nebenfach Musik eine Prüfung in „Ensembleleitung“ aka „Dirigieren“ nicht nur nicht verweigert, sondern – au contraire – auch noch bestanden, wofür ich mich heute noch ein bisschen schäme. Und jetzt sollte ich auch noch eine 100-Seiten-Arbeit schreiben? Pardon, irgendwo ist dann auch mal Schluss, finde ich.
Ich gebe das hier auch nur zu Protokoll, damit nicht etwa irgendwann jemand sagt: „Wie bitte? Sie schreiben seit Jahrzehnten eine Stadtmagazin-Kolumne OHNE Hochschulabschluss? Wie können Sie es wagen?! Normalerweise braucht man dafür einen Dr. phil. oder einen PhD! Mindestens einen B.Sc., Sie Hochstapler, Sie!“
Also, ich hab’s ja jetzt zugegeben. Nicht, dass sich da demnächst die Investigativ-Journalisten des SPIEGELS oder der ZEIT dahinterklemmen. Außerdem kann es ja auch sein, dass ich doch noch mal in ein Ministeramt schlittere oder man mich zwingt, auf dem Intendantensessel eines Drei-Sparten-Theaters oder einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Platz zu nehmen. Spätestens bei der Besetzung eines solchen Postens wird ja inzwischen jeder Lebenslauf, jeder Abschluss, jede Doktorarbeit sofort faktengecheckt. Hat man abgeschrieben, falsch zitiert oder aus einem Strandurlaub in Italien ein Erasmus-Semester gemacht: Zack, weg vom Fenster! Damit das jetzt mal endgültig klar ist, liebe Hannoveraner*innen, sehr verehrtes Deutschland: Die einzigen Abschlüsse, die ich besitze, sind: a) Die Fahrradprüfung aus der 4. Klasse und b) ein solides Zweikommairgendwas-Abi. Und natürlich: das Seepferdchen.
Mal sehen, ob ich doch noch zurücktreten muss, von was auch immer, wenn jemand rausfindet, dass das mit dem Seepferdchen gelogen ist.
● Hartmut El Kurdi