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Ein letztes Wort im Oktober

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Ein letztes Wort im Oktober


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil
Herr Weil, Deutschland ist zu kompliziert, zu langsam, zu teuer. Das wird momentan gerade wieder diskutiert. Die Erkenntnis ist aber nicht unbedingt neu, die Probleme sind seit Jahren bekannt. Durch die Krisen fällt uns das jetzt aber akut auf die Füße. Deutschland hat verschlafen, oder?

Sagen wir mal so, einige andere Länder sind momentan zumindest deutlich dynamischer unterwegs zu sein als wir. Und das hängt unter anderem damit zusammen, dass wir in der Tat leider viel Geld, Zeit, Kraft und Energie auf zu komplizierte Verfahren und Herangehensweisen verschwenden. Ein leider besonders bitteres Beispiel ist die Friesenbrücke in Weener bei Ostfriesland. Eines nebligen Novembermorgens im Jahre des Herrn 2015 näherte sich ein russischer Frachter der Friesenbrücke, das ist eine Eisenbahnbrücke, die dort seit 100 Jahren steht, und rammt einen Pfeiler. Glücklicherweise wird kein Mensch verletzt, der Frachter wird geborgen, aber die Brücke hat Totalschaden und muss ersetzt werden. Nach etwa sechs Wochen haben dann unsere niederländischen Nachbarn bei uns angerufen und gefragt, wann die Strecke denn wohl wieder offen sein werde. Und die zuständigen Stellen in Deutschland haben geantwortet: 2023, wenn es gut läuft. Die Niederländer dachten zuerst, das wäre ein Scherz. War aber keiner. Ich hoffe aber sehr, dass wir im nächsten Jahr nun die Wiedereröffnung feiern dürfen.

Fast zehn Jahre …
Die Konsequenz war aber tätige Reue. Wir haben ein paar Leute in die Niederlande geschickt, um denen dort mal über die Schulter zu gucken. Und das war wohl sehr spannend. Wie gehen die niederländischen Kolleginnen und Kollegen eine solche Aufgabe an? Als erstes plaudern sie miteinander mit unterschiedlichen Stakeholdern. Wir wollen diese Brücke neu machen, was fällt euch dazu ein, was müssen wir bedenken und so weiter. Das koste Zeit, die bekomme man aber hinterher, so sagen sie, drei- bis vierfach zurück. Dann gibt es auch in den Niederlanden vier Planungsabschnitte. Die Deutschen aber führen strikt und penibel einen Abschnitt nach dem anderen aus, jeweils mit einer eigenen Planung. Die Niederländer machen das parallel. Das spart natürlich viel Zeit. Und drittens sind die Niederlande zwar auch ein Rechtsstaat, aber wenn man dort in einem Gerichtsverfahren ein Argument gegen eine Maßnahme vorgetragen hat und damit nicht überzeugen konnte, dann war es das. Das ist die sogenannte Präklusion. Man kann in den Niederlanden nicht in mehreren Instanzen hintereinander dieselben Argumente vortragen wie in Deutschland. Darum hätte ein Ersatzbau wie die Friesenbrücke in den Niederlanden wahrscheinlich zwei oder drei Jahre gedauert, aber nicht neun, wie bei uns. Wir stehen uns also leider oft selbst im Weg.

Olaf Scholz möchte jetzt einen Deutschland-Pakt schmieden. Klingt erstmal gut. Aber bei der Bürokratie bin ich skeptisch. Sie zu entflechten, dazu bräuchte es ja Einigkeit in der Ampel und eine gemeinsame Richtung. Ich höre die Worte, aber ich glaube nicht dran.
Das ist auch eine Herkulesaufgabe, oder anders gesagt ein richtig hartes Stück Staatsreform. Wir haben aber punktuell auch schon gesehen, dass es klappen kann. Ein Beispiel ist der LNG-Terminal in Wilhelmshaven, der kurz vor Weihnachten eröffnet wurde. Ein echtes Leuchtturmprojekt. Wir können also auch in Deutschland ein Infrastrukturvorhaben in nur acht Monaten realisieren. Wenn wir es denn wollen. Damals war der Druck natürlich groß, die Energieversorgung musste sichergestellt werden, das musste funktionieren. Und es hat funktioniert. Robert Habeck hat im letzten Jahr auch im Bereich der erneuerbaren Energien viel Gutes auf den Weg gebracht. Da geht jetzt vieles schneller, Stichwort vorzeitiger Maßnahmenbeginn. Man wartet nicht bis zum letzten Gerichtsurteil, bis man zum ersten Mal eine Schaufel in die Hand nimmt. Das ist natürlich mit einem gewissen Risiko verbunden. Und jetzt besteht die Kunst darin, diese Erfahrungen zunächst im Bereich des Ausbaus unserer Infrastruktur zu verallgemeinern. Die Länder haben dem Bund bereits im letzten Jahr Vorschläge gemacht, der Bund hat geantwortet, jetzt haben die Länder die nächste Konkretisierungsstufe vorgenommen. Ich hoffe, dass wir namhafte Entbürokratisierungsschritte noch in diesem Jahr unter Dach und Fach kriegen.

Aber beschleunigen müssen wir nicht nur Infrastrukturprojekte …
Man muss das anschließend auf etliche andere Bereiche ausweiten. Wenn ich mir beispielsweise den Bereich Wohnungsbau ansehe, dann haben wir natürlich eine Vielzahl von unterschiedlichsten Auflagen und Verfahren, bis am Ende irgendwann einmal ein Haus errichtet ist. Sind alle diese Vorgaben und Standards wirklich notwendig? Wie machen es andere europäische Länder? Warum geht es da schneller? Unsere Prozesse zu verschlanken und zu beschleunigen, ist eine Herkulesaufgabe.

Als ein Heilmittel wird ja immer die Digitalisierung genannt. Aber dann sitzen die Leute in den Verwaltungen und drucken aus, was online eingepflegt wurde.
Ich denke schon, dass man mit der Digitalisierung schneller werden kann, aber eher nicht, wenn die Verfahren kompliziert bleiben. Wenn die Herangehensweise vereinfacht wird, dann kann man mit mehr Digitalisierung wirklich eine Menge rausholen. Ansonsten würde das viel weniger bringen.

Es gibt unfassbar viele Verordnungen, Gesetze, Gerichtsurteile, kaum jemand steigt noch durch. Wir ersticken in den Details. Wie legt man denn da die Axt an?
Man müsste mutig ein paar neue Maßgaben an den Anfang stellen. Wenn zum Beispiel nicht innerhalb einer bestimmten Frist entschieden wird, dann gilt ein Antrag als genehmigt. Das dürfte vieles schon wesentlich beschleunigen. Welche Erfahrungen macht man mit niedrigeren Standards im europäischen Ausland? Letztlich ist eine deutliche Vereinfachung unserer Regelwerke eine Aufgabe nicht nur für den Bundeskanzler und die 16 Ministerpräsidentinnen und -präsidenten. Da müssen am Ende ganz viele sich mitverantwortlich fühlen und mitmachen. Das wird ein anstrengender Prozess, dessen Komplexität man nicht unterschätzen darf, der aber trotzdem notwendig ist.

Verwaltungsbeamte werden bei uns vor allem juristisch geschult, wir haben eine legalistische Verwaltungskultur. Muss man bei der Ausbildung ansetzen? Weniger Jura, mehr Management?
Naja, wir haben eine an Recht und Gesetz gebundene Verwaltung und das ist ein großer zivilisatorischer Fortschritt.

Das stimmt einerseits. Andererseits haben wir so auch eine Kultur des sich Absicherns. Es geht oft um Selbstabsicherung, um nicht in die Haftung zu geraten. Und dann wird lieber ein Schritt zu wenig als einer zu viel gemacht.
Auch da ist sicher etwas dran. Leitungskräfte müssen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vermitteln: Ich stehe hinter Dir, wenn etwas schief geht, musst nicht du das Risiko tragen, ich trage das Risiko. Das erfordert Mut auf allen Ebenen.

Und dann wägt jemand ab, hat auf der einen Seite ein immenses Risiko und auf der anderen Seite persönlich vielleicht gar keinen großen Nutzen, sondern im Zweifel nur mehr Arbeit. Ist es nicht das, was sich in Deutschland ziemlich lähmend auswirkt?
Es ist immer leichter, politische Forderungen aufzustellen, als dann die Folgen praktisch durchzuhalten. Politik muss dann auch in der Umsetzung den Rücken breit machen. Nehmen Sie wieder das Beispiel des LNG-Terminals in Wilhelmshaven: Da hat sich Olaf Lies nicht nur massiv mit reingehängt, sondern auch die politische Verantwortung getragen.

Braucht es nicht insgesamt einen Wandel in den Köpfen, dass man wirklich auch von oben vermittelt: ihr könnt, ihr dürft, ihr sollt?
Genau darum geht es. Politik muss selbst mutig sein, neue Herangehensweisen vorleben und dafür werben. Wir sind bislang noch zu wenig ergebnisorientiert in Deutschland. Und das müssen wir jetzt zügig ändern.

Interview: Lars Kompa
(das Gespräch wurde Ende September geführt)

 

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Der Freundeskreis im Gespräch im Oktober

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Der Freundeskreis im Gespräch im Oktober


In diesem Monat haben wir mit Joachim König (JK), Geschäftsleitung des HCC, und Patrick Döring (PD), Vorstandsvorsitzender der Wertgarantie gesprochen: Über die Zukunft der Stadt Hannover, über die Entwicklung der Arbeit – und wie sie vor allem für den Nachwuchs attraktiver werden kann. Beide sind Mitglied im Freundeskreis Hannover e.V.

Beginnen wir damit, dass ihr euch vorstellt: Wer seid ihr und was macht ihr?
JK – Mein Name ist Joachim König. Ich bin beruflich seit über 40 Jahren im Tourismus und Veranstaltungsgeschäft tätig und inzwischen seit fast 17 Jahren in Hannover und zuständig für das Hannover Congress Centrum, die gastronomische Versorgung der Heinz-von-Heiden-Arena und für die Gastronomie im Congress Hotel am Stadtpark. Nach Hannover bin ich damals ganz einfach aufgrund einer Stellenausschreibung für die Leitungsstelle im HCC gekommen. Die Herausforderung die Verantwortung in einem der größten messunabhängigen Kongress – und Veranstaltungs- Centren in Deutschland zu übernehmen war natürlich sehr reizvoll, und nach der langen Zeit, die ich jetzt schon dabei bin, kann ich sagen: Es hat sich in jeder Hinsicht gelohnt und war genau die richtige Entscheidung

PD – Ich bin Patrick Döring, bin 1992 zum Studium der Wirtschaftswissenschaft aus dem schönen ländlichen und beschaulichen Stade, zwischen Hamburg und Cuxhaven, nach Hannover gekommen – und bin seitdem hier, habe mein Studium abgeschlossen und 1999 als Assistent des Vorstands in der Wertgarantie angefangen. Seit 2020 bin ich Vorstandsvorsitzender dieser Unternehmensgruppe, die sich in der Zeit wahnsinnig entwickelt hat. Ich habe außerdem ein Ehrenamt in der Kommunalpolitik seit 2001 und bin Mitglied des Rates der Stadt. Von 2005 bis 2013 war ich für die FDP im Deutschen Bundestag; sozusagen als zweites Standbein. Ich kann über mich sagen, dass ich ein überzeugter und engagierter Wahl-Hannoveraner bin.

Die Wertgarantie war ja an den Smart City Days 2023 beteiligt – da haben wir uns gedacht, dass wir einmal über das Thema Nachwuchs mit euch sprechen. Das Thema dürfte euch ja gleichermaßen berühren. Wie sieht es zum Beispiel beim HCC aus? Hat man dort Nachwuchsprobleme?
JK – Es ist natürlich so, dass wir sowohl Arbeits- als auch Nachwuchsprobleme haben. Arbeitskräfteprobleme und auch Nachwuchsprobleme. Die Dinge, die da eine Rolle spielen, sind bekannt. Die muss man nicht groß ausführen. Wir haben eine demografische Veränderung, die war aber mit sehr viel Anlauf schon seit vielen Jahren erkennbar. Und wir stehen im Wettbewerb bezüglich der Möglichkeiten, junge Menschen dafür zu interessieren, die Berufe zu erlernen, die wir anbieten, und in der Branche zu bleiben. Wir sind nicht die attraktivsten Arbeitgeber*innen, denn wir haben mit unserer herausfordernden Anspruchssituation – was die Zeiten, Wochenend-, Feiertagsarbeit angeht, was aber auch insgesamt die Lohn- und Gehaltsstrukturen im Bereich der Gastronomie und der Veranstaltungswirtschaft angeht – nicht die attraktivsten Angebote. Damit hat schon immer eine gewisse Begeisterungsfähigkeit dazu gehört, und die ist, auch durch die Coronazeit, zusätzliche in wenig abhandengekommen.

PD – Natürlich findet man immer noch Talente und engagierte Nachwuchskräfte. Wir bilden auch mehr aus als je zuvor, aber die Soft Skills, die man mitbringen muss, um als attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen zu werden, sind vielfältiger geworden. Wir haben ohnehin einen starken Wettbewerb in unserer Branche. Hannover ist der zweitgrößte Versicherungsstandort der Republik – und Wertgarantie ist das kleinste Unternehmen in Hannover. Das ist nicht neu. Neu ist aber die Diskussion über die Fragen: „Wie viel Zeit muss ich denn im Büro verbringen? Gibt es die Möglichkeit, Workation im Ausland zu machen? Wie digital seid ihr? Wie agil seid ihr? Wie schnell kann ich bereichsübergreifende Projekte mitgestalten als Neuling?“ Und diesen Fragen muss man sich stellen, da muss man Antworten drauf geben – und zwar realistische und ehrliche Antworten. Wenn man den Leuten ein X für ein U vorzumachen versucht, was man im betrieblichen Alltag dann nicht durchhält, dann sind die Leute noch schneller weg, dann gucken sie sich noch schneller um. Wichtig sind Klarheit und Wahrheit und auch als Führungskraft kontinuierlich an der Attraktivität der Arbeit zu arbeiten. Man darf auch nicht den Fehler machen, sich nur auf die, die man sucht, zu konzentrieren, weil man dann gegebenenfalls den Eindruck erweckt, dass man diejenigen vergisst, die sehr treu und sehr loyal über Jahre und Jahrzehnte dabei geblieben sind. Das hat dann auch eine enorme Sprengkraft und deshalb muss man diese Balance tatsächlich gerade in einem wachsenden Organismus sehr gut im Auge behalten. Es ist schon sehr anspruchsvoll geworden. Das Personalthema ist, muss ich sagen, in den letzten Jahren zu einem sehr, sehr starken Thema geworden im Vergleich zu all meinen Berufsjahren davor.

Es wurde schon gesagt, dass die Entwicklung teils lange im Voraus absehbar war. Wie hoch ist da dann der Frust?
JK – Es ist kein Frust. Es ist einfach so, dass man diese Herausforderung jetzt vernünftig beantworten muss. Denn wenn Frust in den Positionen, in denen Herr Döring und ich sind, eine Grundlage der Arbeit wäre, hätten wir uns an der falschen Stelle einsortiert. Es geht darum, das anzunehmen und damit umzugehen. Diese Entwicklungen waren schon vor Corona erkennbar, der demografische Wandel ist mit extrem langem Anlauf erkennbar gewesen. Nur die Dynamik ist eine andere. Jetzt muss man Antworten finden und ich finde es genau richtig, dass man offen und ehrlich ist. Das ist bei uns in der Branche auch wichtig, weil die Herausforderungen, die unsere Arbeitsplätze nicht für jeden gleichermaßen attraktiv machen, natürlich geblieben sind. Wir haben nun mal mit Veranstaltungen zu tun: Da sieht man gerne die bunten Scheinwerfer und die furchtbar wichtigen Menschen und Stars, mit denen man in Berührung kommt. Aber den Leuten muss eben auch klar sein, dass wir dabei die Dienstleister sind, die dafür sorgen, dass die Bühne für andere bereit ist und alles funktioniert. Das ist oft weit weniger sexy und spannend, als es auf den ersten Eindruck erscheinen mag. Ich habe auch bereits einzelnen Leuten gesagt: „Wissen Sie, ich habe ja verstanden, dass es das Thema der Work-Life-Balance gibt. Aber, wenn daraus eine Life-Work-Balance wird, dann wird es schwierig in unserer Branche.“ Was wir in unserer Branche haben ist eine große Flexibilität bezüglich Zeit und Aufwand und teilweise eine sehr projektbezogene Arbeitsstruktur, die viel Spielraum für unabhängige, selbstständige Arbeitsabläufe lässt. Das schafft Spielräume für Menschen, die gewohnt sind Verantwortung eigenständig in Arbeitsleistung umzusetzen und entspricht damit, meiner Meinung nach, durchaus in Teilbereichen an vielen Stellen den neuen, veränderten Erwartungen.

PD – Ich glaube, wir tun alle gut daran, das Thema Leistungsbereitschaft und Ergebnisorientierung auch in den Mittelpunkt unserer Führungsarbeit zu rücken und die Frage, wie man dann am Ende zum Ergebnis kommt, etwas in den Hintergrund zu stellen. Das ist die neue Führungsarbeit und die neue Führungsaufgabe, denn wir alle – und das merke ich auch an den Beschäftigten – haben den Anspruch, dass der Laden läuft. Und das immer wieder zu betonen, ist auch nicht falsch und auch nicht altmodisch. Trotzdem entbehrt das niemanden vor der Verantwortung und der Pflicht, einfach abzuliefern.

Wie sieht es denn mit der Erwartung für die nächsten Jahre aus? Wenn man von außen drauf guckt, dann kann ja die Erwartung eigentlich gar nicht groß sein, dass sich das über die nächsten Jahre irgendwie bessert.
PD – Ja, das wird so sein. Die Demografie hält sich … und die in den 70er-Jahren nicht geborenen Frauen werden heute auch keine Kinder bekommen. Das ist relativ einfach. Aber die Frage, wie die Menschen auf den Arbeitsmarkt blicken, die wird sich verändern. Ich bin ganz sicher, dass wir über die Frage, ob die Rente mit 63 eine kluge Entscheidung war, zunehmend kritischer diskutieren werden. Und ich nehme bei meinen älteren Arbeitnehmern auch wahr, dass die sehr gerne im Betrieb bleiben wollen, nur nicht Vollzeit. Also muss ich flexible Modelle bauen und sagen, dann fährst du eben bis 67 aus und arbeitest zwei Drittel, 50 Prozent, ein Drittel, aber du bleibst. Dieses Fallbeil, das wir in vielen Berufen immer noch haben, dass es mit 64½ oder wann auch immer zu Ende ist, ist falsch: Dann bist du von 100 auf 0. Das ist so gestrig. Wir können den Unternehmen flexible Modelle anbieten und sollten das auch zunehmend tun. Aber wir brauchen dann auch die Rahmenbedingungen, dass es für beide Seiten attraktiv ist, und dann werden auch genügend Menschen länger in der Arbeit bleiben.

JK – Ich glaube auch, dieses Thema ist ein Wechselspiel. Also die Erwartungen, dass es besser wird, habe ich sehr wohl. Wobei, die Dinge müssen sich unter den neuen Parametern einfach neu finden. Und das wird passieren. Die jungen Menschen haben ja auch heutzutage vergleichbare Qualitäten und wollen sich entwickeln und Perspektiven aufgezeigt bekommen und Dinge erreichen. Die Autonomiebereitschaft muss einfach eine sein, die Work und Life miteinander kombiniert. Und wenn das Miteinander in neue Formate übergeht und wir dann auch Chancen nutzen, Menschen, die fehlen, durch Optimierungsprozesse in technischer und anderer Hinsicht sozusagen zu ergänzen und uns dann neu aufzustellen, dann wird das auch ein Modell sein, das funktioniert.

PD – Ich würde mal gerne auch über die Frage sprechen, wie attraktiv eigentlich Hannover für den Nachwuchs ist? Die Debatte, die die Stadtgesellschaft gerade über das Image Hannovers führt, verbindet uns natürlich auch. Und deshalb lohnt es sich vielleicht auch darüber zu diskutieren, wie wir es schaffen, dass Hannover seine Attraktivität steigert. Wir müssen uns fragen: „Wie wollen wir eigentlich sein?“. Ich glaube, die Debatte beginnt gerade an vielen Stellen in der Stadt. Und die Frage, wie attraktiv Hannover auch als Standort ist, ist für ein Unternehmen, das hier Arbeitskräfte sucht, extrem wichtig.

Wie erklärt ihr euch das schlechte Image?
PD – Schlecht ist es, glaube ich, nicht. Ich glaube, wir haben gar keins.

JK – Ich glaube, die neue Diskussion, was das Image angeht, ist gar nicht so ganz neu. Zukünftig wird es, wahrscheinlich noch ein wenig mehr als in der Vergangenheit, darum gehen, dass man versucht, herausragende Themen herausragend zu positionieren. Also die Leuchttürme zu definieren und zu bestimmen. Es ist wichtig, die Grundlage – also das, worin man gut ist – zu verbessern und stärker zu werden und weniger darum, etwas anzufangen, bei dem man sich eher im hinteren Wettbewerbssegment befindet. Die Plattform ist hervorragend. Da ist wird in Hannover teilweise immer noch dramatisch unterschätzt. Im Übrigen häufig von den Hannoveraner*innen selber.

PD – Ja, das sehe ich komplett genauso. Wir haben Zentralität, also Erreichbarkeit – mega. Die Lebensqualität, wenn man den Radius von 400 Metern rund um den Bahnhof mal ausblendet, ist super. Einkaufsmöglichkeiten, gastronomische Möglichkeiten, auch wieder Sterneküchen. Auch das macht viel aus für das Image einer Stadt. Wir haben mit den Gärten, mit dem Maschsee, mit der Eilenriede, Naherholungsmöglichkeiten wie kaum eine Stadt in unserer Größe. Und wir haben so wahnsinnig diverse Stadtteile, aber ein bisschen mehr Selbstbewusstsein – da bin ich total bei Herrn König – ist auch nicht falsch. Ich gehöre ja, wie gesagt, zu den enthusiastischen Hannoveranern. Ich habe zum Beispiel entschieden, dass der jährliche große Kongress, den wir früher immer irgendwo in Deutschland abgehalten haben, nicht nur jetzt im Jubiläumsjahr – 60 Jahre Wertgarantie –, sondern auch zukünftig immer hier stattfindet. Hier ist unser Standort, hier ist die Firma gegründet worden, hier ist die Veranstaltung. Auch das ist ein Mindset. Und da fehlt es uns manchmal auch. Das Besondere an Hannover war doch früher, dass wir irgendwie immer diese Internationalität, die eine große Industriemesse mitbringt, auch gespürt haben in den Restaurants, in der Kultur, überall … Dann ist da immer was hängen geblieben. Und dann ist es so ein bisschen verloren gegangen, finde ich.

JK – Es ist dann auch die Herausforderung als Partner der Veranstalter in jeder Stadt, wo große Messen und Kongresse stattfinden, attraktive, unterstützende Geschichten zu entwickeln und Teile der neuen Formate in die Stadt zu holen. Die Menschen merken natürlich, wenn sie von auswärts kommen, ob sie willkommen sind oder nicht. Also diese Gastfreundschaft, die muss in der Breite und authentisch da sein. Und auf der Gastfreundschaft basiert dann der Erfolg in der mittelfristigen Ausprägung. Und das erfordert ganz häufig einen anderen Aufwand und eine andere Anstrengung, als früher. Da war es nämlich schon einmal unkomplizierter und bequemer. Am Beispiel Veranstaltungen festgemacht: Das Konzept für eine Ballveranstaltung. Das hat man vor zehn, zwanzig Jahren einmal gemacht – und dann hat man zehn Jahre lang nichts ändern müssen … außer, dass man jedes Jahr die Band getauscht hat. Wenn ich heute nicht bei jedem Format jedes Jahr mindestens drei, vier neue Aspekte anbiete, sagt das kritischere, jüngere Publikum mit weniger Treue zur Veranstaltung sofort: „Das ist ja doof und langweilig, da gibt es ja andere Formate, dann gehe ich da hin.“ So ähnlich sind eigentlich auch die neuen Herausforderungen, sowohl in der Stadt als auch in der gesamten Entwicklung, im Kongress-, Messe- oder Eventbereich.

Christian Kaiser

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Kreofant

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Kreofant


Ob Zeichnen, Malen, Basteln oder Töpfern – in der Deisterstraße 73 sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Die kostenfreie Kreativwerkstatt Kreofant vom Netzwerk Lebenskunst e.V. bietet kleinen Künstler*innen großes Programm.

Schon von außen fällt die Kreativwerkstatt Kreofant einem sofort ins Auge. Liebevoll mit Mosaiken verzierte Bänke laden vor der Werkstatt zum Ausruhen ein, die großen lichtdurchfluteten Schaufenstern sind bunt bemalt – „Kreofant“ steht dort in großen, bunten Buchstaben. Das kreative Chaos geht drinnen munter weiter. Die Wände sind mit Farbklecksen übersät, überall hängen Kunstwerke von kleinen Kunstbegeisterten. Farben, Pinsel, eine Drehscheibe zum Töpfern, Werkzeug zum Bearbeiten von Holz – in der Kreativwerkstatt auf der Deisterstraße sind die Möglichkeiten beinahe unbegrenzt. Zeichnen und Malen, Basteln und Bauen, Töpfern und Mosaik, Collagen und Drucktechniken – „du kannst hier alles machen“, meint Marianne Jubel, die seit drei Jahren ehrenamtlich unter anderem die offene Töpferwerkstatt begleitet.

Der Kreofant – das ist die Kreativwerkstatt des Netzwerkes Lebenskunst e.V. Im Herzen von Linden Süd werden hier für die Kinder aus der Nachbarschaft offene Werkstätten angeboten. Denn Kinder brauchen kulturelle Bildung – ästhetische Erfahrung, spielerische Schulung der Sinne und kreative Praxis sind Ausgangspunkt von Selbst- und Welterfahrung. In einer offenen Atmosphäre lernen die Kids sich auszudrücken und erwerben Sprachkompetenz und Selbstvertrauen. Soziale und finanzielle Benachteiligung soll es hier nicht geben: Die Angebote sind kostenfrei, eine Anmeldung für die offenen Werkstätten braucht es nicht. Unter der Woche findet hier dienstags die Eltern-Kind-Werkstatt für die Kleinsten von zwei bis fünf Jahren statt, mittwochs wird mit Kids ab sechs Jahren getöpfert und donnerstags können Kids ab sechs Jahren Linolschnitt und Jahreszeitenmotive fantasievoll erkunden. Und auch in den Ferien, wenn die Schule eine Pause einlegt, bietet der Kreofant in Kooperation mit anderen Projekten, wie dem Jugend- und Kinderkultursommer „JuKiKs, spannende Ferienkurse an. In Linden ist das Netzwerk Lebenskunst e.V. mit dem Kreofanten gut vernetzt, mit Kitas, Schulen, Freizeitheim, Stadtteilbibliothek, dem Stadtteilforum und der Kinder- und Jugend–AG arbeitet der Verein zusammen.

Beim Kreofant können sich die Kids einfach nur kreativ ausleben. „Es ist immer ganz entspannt. Keiner wird zensiert, keiner wird beurteilt. Das gefällt mir hier gut, wie die Kinder wertgeschätzt werden“, erzählt die ehrenamtliche Marianne. Die 72-Jährige ist gelernte Erzieherin und ehemalige Fachlehrerin an der Berufsbildenden Schule, wo sie Erzieher*innen, Heilerziehungspfleger*innen und Heilpädagog*innen ausbildete. Schon damals gefielen ihr die kreativen Aufgaben am meisten. Auf dem Weg zur Arbeit fuhr Marianne täglich mit dem Bus an dem Kreofanten vorbei: „Ich habe immer die Schaufenster gesehen und gedacht: Was ist das schönes? Und Netzwerk Lebenskunst, was soll das sein?“, erinnert sie sich.

Als sie in den Ruhestand ging, suchte sie nach einem Ehrenamt. „Und dann bin ich hier reinspaziert“, lacht sie. Seitdem ist sie eine tatkräftige Unterstützung. „Das Schönste ist irgendwie diese Offenheit und die Gelegenheit, alles Mögliche zu machen. Der Kontakt zu den Kindern, zu den Eltern, das finde ich ganz toll“, meint Marianne. „Das ist hier echt eine ganz großartige Atmosphäre. Ich bin immer völlig erstaunt, dass die Kinder so viele Ideen haben“. Mithilfe des Kreofanten werden diese Ideen zum Leben erweckt.

Kreofant
Deisterstraße 73, 30449 Hannover
E-Mail info@nele-linden.de
Tel.: 0511/642 19 140

www.nele-linden.de

Jule Merx

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Der besondere Laden: Miss Patty

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Der besondere Laden: Miss Patty


Mit dem Zufallen der Ladentür von Miss Patty in der Deisterstraße geht gleich eine andere auf: „die Tür zur Kreativität“. In ihrem von Buchstaben bewohnten Atelier bietet Sandra Paradiek, die Frau hinter Miss Patty, Handlettering-, Kalligrafie– und Aquarell-Workshops an und teilt so ihre „immerwährende Liebe zum Schreiben.“



Wenn Menschen Sandra Paradiek in ihrer Schulzeit gefragt haben, was sie einmal werden will, hat sie gesagt: „Mutmacherin“. Wenn es diesen Job doch nur geben würde … Heute weiß sie, den gibt es. „Ich merke, mit dem, was ich hier tue, bin ich das. Ich bin eine Mutmacherin, um die kreative Tür zu öffnen. Fast alle sagen in den Kursen ,Ich bin nicht kreativ’. Aber kreativ ist jeder und jede. Die Tür ist lediglich zugegangen.“

In ihrem Laden in der Deisterstraße findet man kaum einen Fleck ohne Buchstaben. Eine Wand ist liebevoll mit kunstvollen Schriftzügen verziert, gegenüber findet sich selbst gestaltete Mode, Stoffe, Postkarten – „eigentlich alles, auf dem Schrift Platz nehmen kann.“

In der Mitte des Raumes mit den luftig hohen Decken steht das Herzstück ihres Ladens – ein großer Holztisch, darauf unzählige Stifte, Pinsel, Papiere und Farben in allen erdenklichen Variationen. „Mir geht es um Fülle“, erklärt Sandra. „Darum, dass man sich wirklich vollends ausprobieren darf. Hier muss man nicht sparen an Stiften und Papier!“

An diesem Tisch finden die Kurse statt, die Sandra regelmäßig gibt. Ob Handlettering, Kalligrafie oder Aquarell – bei Sandras Workshops begegnen die Teilnehmenden immer der Schrift. Und damit auch sich selbst. „Das Schreiben ist definitiv mehr als nur gestalten oder dekorieren. Das Schreiben bringt einen unfassbar zur Ruhe. Das, was du denkst, fühlst und gehen lässt, bringt dich absolut runter und holt dich aus dem Stress.“ Während der Kurse ist es deswegen auch meist sehr ruhig, nur leise Klaviermusik läuft im Hintergrund. „Schreiben und sprechen gleichzeitig geht nicht. Am Anfang wird immer noch ganz viel gesabbelt. Und dann merkt man so richtig, wie es innerhalb der fünf Stunden immer ruhiger wird. Es geht wirklich um die Begegnung mit dir selbst“, erzählt Sandra.

Der erste Kurs, den Sandra gegeben hat, war nur für ihre Freundinnen. Und sie war zunächst skeptisch. Kann das, was sie in fünf Jahren an Technik im Designstudium mit Schwerpunkt Schrift gelernt hat, in einem Kurs weitergeben werden? Doch schnell änderte sie ihre Meinung: „Das können wirklich alle. Außerdem macht es a) mich glücklich und b) die anderen auch. In meinen Kursen ist es total wichtig, dass es leicht geht. Dass man sich hier weder quälen noch anstrengen noch Leistung erbringen muss. Alles, was ich mache, darf leicht sein und dient dem Loslassen, der Entspannung und der Freude.“

Zunächst hat sie nach der ersten Erfahrung mit ihren Freundinnen nur sporadisch weitere Kurse gegeben und weiterhin hauptberuflich als Selbstständige für Werbeagenturen gearbeitet.

Doch dann kam ein harter Cut. Wie für viele andere krachte während der Corona-Pandemie ihr Arbeitsalltag zusammen. „Von jetzt auf gleich stand ich tatsächlich vor dem Aus“. Bei Sandra stieß das ein Umdenken an: „Ich habe gemerkt, dass ich mich besser darauf besinnen kann, was ich selbst in der Hand habe. Ich habe mich dann auf das Schreiben bzw. auf die Kreativworkshops konzentriert“. Eine Entscheidung, die eine große Portion Mut benötigte. „Die größte Herausforderung für Miss Patty war, das Vertrauen und den Glauben in mich selbst zu finden. Denn bis dahin gab es immer nur Sandra Paradiek für die Werbeagentur, für die Designerin, für andere Firmen. Aber da stand nie mein Name dahinter.“ Heute steht hinter Miss Patty mehr als nur ihr Name. „Wenn man wissen möchte, wer ich bin, muss man nur hier reinkommen.“

Miss Patty
Deisterstraße 39, 30449 Hannover
Tel.: 0151 50672691
E-Mail hello@miss-patty.de
www.miss-patty.de

Jule Merx

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Politisches: Bitte, jetzt umkehren


Es ist nicht mehr zu übersehen, Deutschland driftet immer weiter nach rechts. Die jüngste Rechtsextremismus-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hat das noch einmal sehr deutlich unterstrichen. Und die Umfragewerte der AfD sprechen sowieso für sich. Die Populisten sind auf dem Vormarsch. Und alle auf der Regierungsbank und die CDU/CSU in der Opposition fragen sich, wie man das Problem möglichst bald wieder in den Griff bekommen, wie man die AfD wieder kleinkriegen kann, denn sonst könnte das bei den nächsten Wahlen ganz böse enden. Und während sie sich das fragen, geben sie sich zwischendurch wechselseitig die Schuld an der Misere und zeigen mit dem Finger aufeinander. Für die Union ist die Ampel der Ausgangspunkt für den Rechtsruck und sowieso der Untergang, für die Ampel ist die Union nur noch ein Brandbeschleuniger, ein Haudrauf ohne Skrupel. Und nun probieren sie es alle mit einer wahnsinnig klugen Idee.

Wenn eine Partei wie die AfD gegen Ausländer hetzt und die Angst im Land schürt, wenn so eine Partei Nationalismus predigt und die Wissenschaft diskreditiert, wenn so eine Partei Verschwörungen bedient und wissentlich Lügen verbreitet, wenn so eine Partei Lösungen verspricht, ohne für irgendwas eine Lösung zu haben, wenn so eine Partei auf solche Art und Weise punktet, was hilft dann gegen so eine Partei?

Die anderen Parteien scheinen ihre Antwort gefunden zu haben. Man macht es dieser Partei einfach nach. Rückt ebenfalls ein bisschen nach rechts. Bedient stellenweise die Ressentiments. Hetzt auch mal ein bisschen gegen Faule und Schmarotzer und gegen die woke Bubble. Probiert es auch mal mit einer kleinen Lüge hier und einer kleinen Übertreibung da. Oder lässt einfach ein bisschen was weg an der richtigen Stelle. Und rückt dann noch ein bisschen weiter nach rechts. Man blickt auf die Stimmung im Land, auf die Ängste und Sorgen der Menschen, und hängt das politische Fähnchen mehr und mehr in diesen Wind. Und weiß dabei: Viele Ängste und Sorgen sind künstlich hochgejazzt, die BILD fährt wildeste Kampagnen, im Internet kursieren die übelsten Fake News und haarsträubendsten Theorien. Und würde man mal ganz nüchtern die Fakten ansehen, wäre vielen Sorgen und Ängsten die Grundlage entzogen. Aber will man das? Vielleicht würde man bei so einem Faktencheck feststellen, dass es tatsächlich eine Menge Fragen gibt, die dringend gelöst werden müssen, aber eben ziemlich unpopuläre Fragen. Gar nicht gut. Wie ist das zum Beispiel mit der heiligen Kuh „Wachstum“? Auf wessen Kosten wächst da was? Und wie ist das mit unserem Konsum? Würden alle Menschen auf der Welt so leben wie wir in Deutschland, bräuchten wir drei Erden. Haben wir aber nicht. Und wie ist das mit der Verteilung des Kapitals? Wer profitiert und wer geht leer aus? Wo bleibt die Gerechtigkeit? Um solche Fragen überhaupt mal zu diskutieren, um vielleicht irgendwann zu nachhaltigen Lösungen zu kommen, müsste man sich zuerst den sehr unangenehmen Wahrheiten stellen. Mit unpopulären Wahrheiten und entsprechend echten, fundierten Fragen und Antworten ist aber anscheinend kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Das jedenfalls scheint momentan die Erkenntnis fast aller Parteien zu sein.

Dabei gibt es gegen die AfD, gegen Populismus, gegen den Rechtsruck nur ein probates Mittel: Seriosität. Ehrlich, klar, wahr, integer, faktenbasiert, pragmatisch, ideologiefrei. Gibt es noch Politiker*innen, die das alles auch nur entfernt für sich beanspruchen können? In der ersten und zweiten Reihe? Kaum. Eher im Gegenteil. Zu den ohnehin Irren von der AfD gesellen sich in letzter Zeit immer mehr Blender, so wie Söder und Aiwanger. Was diese Herren momentan im heißen Wahlkampf absondern, ist so krachend offensichtlich das Gegenteil von Seriosität, dass es kaum noch auszuhalten ist. Aber die Liste ist darüber hinaus natürlich lang und länger. Die Blender tummeln sich inzwischen in allen Parteien. Und es gibt auch schon ein paar Blenderinnen. Überall werden Fakten verdreht, wird geschwurbelt, wird gelogen, wird diffamiert, wird geblendet, inzwischen auch gerne auf offener Bühne in den einschlägigen Talkshows. Denn wer liest im Nachgang schon die Faktenchecks? Die Erkenntnis der Politiker*innen scheint klar. Das Wahlvolk will geblendet werden, es belohnt die größten Lügner und straft die Überbringer unangenehmer Wahrheiten ab. Darum muss man, will man erfolgreich sein und bleiben, das Spiel mitspielen. Blöd nur, dass bei diesem Spiel letztlich alle verlieren.

Dürfen sich Politiker*innen, dürfen sich Parteien, die doch eigentlich angetreten sind, um unsere Gesellschaft voranzubringen, um Probleme zu lösen, um es besser zu machen, aus Angst vor verlorenen Wahlen in diese Achterbahn setzen, die nach ein paar Loopings, die wir demnächst im Osten Deutschlands sehen werden, dann irgendwann krachend gegen die Wand fährt? Wäre es nicht allmählich Zeit für einen Schulterschluss aller, die morgens noch gerne in den Spiegel blicken möchten. Wie schafft das beispielsweise ein Jens Spahn nach einer Runde bei Maischberger, wie schafft das ein Volker Wissing nach einer Runde bei Lanz? Wie schafft das ein Olaf Scholz nach einem Sommermärchen, pardon Sommerinterview?

Gegen die AfD hilft langfristig nur eins: Seriöse Politik, seriöse Politiker*innen und ein Ehrenkodex, dem sich alle verpflichten. Bitte, jetzt umkehren! Kein Populismus, keine Lügen, keine Verdrehungen mehr. So gewinnt man Wähler*innen zurück, vor allem all jene, die sich längst angewidert ausgeklinkt haben, die gar nicht mehr wählen.

POL

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Ein offener Brief an Markus Söder

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Ein offener Brief an Markus Söder


Lieber Markus,

wir sind’s. Kurz vor der Wahl mit herzlichen Grüßen und ganz viel Hochachtung. Du bist echt ein Profi, du bist der Harry Kane der Politik, du netzt sie alle ein.

Klar, zuletzt haben die Umfragen nicht ganz so schön ausgesehen, da war die Geschichte mit diesem Nazi-Quälgeist, der in deiner Staatskanzlei rumspukt und nicht freiwillig verschwinden wollte und der dich jetzt wahrscheinlich auch noch einige Stimmen kosten wird, der Depp, der damische.
Aber sei’s drum, Schwamm drüber, man muss auch mal verzeihen können. Und du musstest dir bei der Geschichte ja auch selbst treu bleiben. Du brauchst den zum Regieren. Punkt. Prinzipientreue ist ja nichts, was man zwischendurch mal so leichtfertig über Bord wirft. Und du willst die Macht, dafür tust du wirklich alles, das ist dein Prinzip. Also Schwamm drüber. Der damische Depp hätte in Erding auch den rechten Arm ausstrecken und das Horst-Wessel-Lied anstimmen können, du hättest ihm im Zweifel auch dann noch eine zweite Chance gegeben. Oder nicht?

Naja, vielleicht auch nicht, je nachdem, was so die Mehrheit dazu gesagt hätte. Wenn die Mehrheit gesagt hätte, der Depp, der damische, hat doch nur eine Fliege vertreiben wollen und bei dem Lied hatte der Wind die falsche Seite im Liederbuch aufgeweht, dann hättest du bestimmt gesagt, okay, im Zweifel für den Angeklagten.
Aber ist ja jetzt auch einerlei, die Chose ist gelaufen, er wird dir erhalten bleiben. Die Frage ist nur, wie groß der Zwerg an deiner Seite demnächst wird. Und da ist jetzt kämpfen angesagt. Vielleicht kannst du ihm ja noch ein paar Stimmen abjagen bis zum 8. Oktober. Und der AfD eventuell auch. Versteht man irgendwie auch gar nicht, oder? Warum wählen die nicht das Original, also dich?

Aber du wirst es schon noch richten. Denn du weißt, was die Leute hören wollen. Man muss den Menschen einfach aufs Maul schauen und sie bedienen, sie bei ihren niederen Instinkten abholen. Als Politiker ist man halt auch Dienstleister. Also ist die erste Botschaft, dass Bayern einfach geil ist, das bessere Deutschland, zweitens dass die Ampel in Berlin mit dem Teufel höchstpersönlich im Bunde ist, drittens dass dieser Teufel die Grünen sind, diese Miesmacherpartei, die alles verbieten will, Fleisch, Verbrennungsmotoren, normale Familien, Gasheizungen, Werbung für Süßigkeiten, verständliches Deutsch, Böller, Atomkraftwerke, Fracking und sogar das Pony-Reiten auf der Wiesn, viertens dass die sich ihre Umerziehungspläne Richtung Wokeness und Gendern mal sonst wohin schieben können und fünftens dass in Bayern die Welt heile bleibt, solange du noch was zu sagen hast.
Solange du was zu sagen hast, wird sich in Bayern gar nichts ändern. Versprochen!
Und wenn die Idioten in Berlin zu viele Ausländer reinlassen, dann kontrolliert Bayern eben ganz allein seine Grenzen. Das wäre ja wohl gelacht.

Es ist immer wieder eine Freude, dir im Bierzelt zuzuhören. Wie du die ganze Klaviatur bedienst, wie du alle Hits anspielst. Wie du um die Macht kämpfst, um jeden Preis. Charakter? Ist was für Anfänger. Brauchst du nicht. Stört nur. Werte? Hast du jede Menge in der Hinterhand, je nachdem, was gerade so gefragt ist. Skrupel? Hast du Null. Du hast einfach das Spiel verstanden. Die Mehrheit der Menschen ist denkfaul, die wollen ihre Ruhe, die wollen ihre Wurst grillen und mit dem SUV samstags in den Baumarkt, die wollen nicht die Welt retten, die wollen aufs Oktoberfest und am Stammtisch ein bisschen, nur ein bisschen ausländerfeindlich reden dürfen. Und tja, das ist dann eben so. Wer Ministerpräsident bleiben will, der muss diese Realitäten einfach akzeptieren und auch verinnerlichen. So gewinnt man heute Wahlen. Wir drücken dir wirklich von Herzen alle Daumen.

VA

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