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Ein letztes Wort im September

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Ein letztes Wort im September


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, wie war der Urlaub? Batterien wieder voll?
Mein Urlaub war rundum schön. Ich teile meinen Sommerurlaub ja immer ein bisschen auf. Zuerst war ich wandern im Riesengebirge, das hatte ich bisher noch nicht so auf dem Zettel, ist aber ein wirklich wunderschönes Wanderrevier mit großartigen Wäldern und beeindruckenden Felslandschaften. Wirklich sehr zu empfehlen für alle Tippelbrüder und Tippelschwestern. Und dann war ich mit meiner Frau in den Alpen im nördlichsten Italien, kurz vor der Grenze zur Schweiz. Da hatten wir ebenfalls eine richtig gute Zeit und auch nicht so viele Wetterkapriolen. Ich bin also mit aufgeladenen Akkus zurück am Schreibtisch und voller Tatendrang.

Hatten Sie Zeit für das Nebelmeer. Mal ein bisschen in die Landschaft gucken und den Kopf freikriegen? Neue Horizonte entdecken?
(Lacht) Ich hatte Zeit, mal die verschiedenen Horizonte zu sortieren. Es ist ja im Moment vieles in Bewegung – von der Energiewende über die Wirtschaftstransformation bis zur Künstlichen Intelligenz. Aber ja, das geht mir beim Laufen so und das geht mir beim Wandern so, da bekomme ich die besten Gedanken und kann eine Menge sortieren. Und gleichzeitig ist das für mich auch eine Form von aktiver Erholung. Es gibt wirklich nichts, bei dem ich mich so gut erholen kann wie beim Wandern.

Dann kehren wir mal gut erholt zurück in die Niederungen des bundesdeutschen Alltags. Und da haben wir nach wie vor ein Thema, das gibt immer mehr Anlass zur Sorge. Die AfD hat in Umfragen inzwischen die SPD überflügelt. Das scheint nicht nur ein kurzes Zwischenhoch zu sein. Verfestigt sich da ein Trend?
Nicht zwangsläufig. Wir haben an dieser Stelle ja schon häufiger darüber gesprochen. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass ein großer Teil der momentanen Zustimmung für die AfD eine Reaktion darauf ist, dass auf die Menschen von allen Seiten massive Veränderungen einprasseln, und sie gleichzeitig den Eindruck haben, dass sie sich auf den Staat nicht verlassen können. Das heißt für mich ganz klar, wenn die AfD schwächer werden soll, dann müssen die anderen Parteien wieder besser werden. Diejenigen, die in der Regierung sind, müssen Verlässlichkeit und Orientierung vermitteln, Vertrauen schaffen, und diejenigen, die in der Opposition sind, müssen erfolgversprechende Gegenvorschläge zur Regierung bieten. Beides gelingt im Augenblick nicht ausreichend, das gilt für die Ampel und das gilt in Berlin auch für die CDU/CSU. Die Union müsste ja unter normalen Bedingungen eigentlich in den Umfragen von der Schwäche der Regierungsparteien profitieren, tut sie aber nicht.
Auch in Niedersachsen sind die AfD-Werte zwar deutlich zu hoch, aber auch noch deutlich unter den Bundeswerten. Das mag daran liegen, dass wir es in Niedersachsen einigermaßen hinbekommen, mit unserer Landespolitik Vertrauen zu schaffen.

Was ich für absolut elementar halte in diesen Zeiten, das ist, dass die Mitte sich mehr zu Wort meldet. Seit Harald Welzer mit Richard David Precht die Köpfe zusammensteckt, bin ich ja öfter eher skeptisch, aber die These Welzers, dass Demokratien nicht wegen zu starker Ränder kippen, sondern wegen einer zu trägen Mitte, die zu spät reagiert, das halte ich für sehr stichhaltig und einleuchtend. Die Mitte in Deutschland scheint mir aber momentan im Dornröschenschlaf. Und noch schlimmer, ich erlebe bei bestimmten Themen auch zunehmend ein eher gleichgültiges, müdes Schulterzucken. Da läuft schon eine Weile so eine schleichende Verschiebung des Diskurses nach rechts. Sehen Sie das ähnlich?
Ich sehe diese Tendenzen mit großer Sorge. Ich habe Verständnis für Menschen, die momentan an vielen Stellen ratlos oder verunsichert sind und teilweise auch sauer auf die Politik. Mal ein kleiner Einschub: Um als Ministerpräsident nicht Ärger wegen mangelnder Neutralität zu bekommen, äußere ich mich mal kurz als SPD-Landesvorsitzender und sage klipp und klar: Die AfD löst keine Probleme, sie ist ein Problem. Es handelt sich um eine Partei, die in hohem Maße rechtsextrem beeinflusst ist. Der Verfassungsschutz hat genug Gründe, um die AfD zu beobachten. Wir müssen unsere Demokratie schützen vor diesen Leuten. Am Ende gilt immer noch das alte Wort von Winston Churchill: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Und gerade in Deutschland müssten alle wissen, dass unsere Demokratie uns über Jahrzehnte Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat. Das gilt insbesondere für die von Ihnen eben genannte Mitte. Das ist etwas völlig anderes als das nationalistisch- autoritäre Denken, das die AfD kennzeichnet. Nicht alle Wählerinnen und Wähler der AfD sind rechtsradikal oder rechtsextrem, aber sie wählen rechtsextrem – das muss jeder und jedem bewusst sein.

Die AfD ist ja sehr strategisch unterwegs, vor allem im Osten Deutschlands trifft man sie in Vereinen, in der Feuerwehr, sie sind nah dran und engagiert. Während beispielsweise SPD oder CDU vor Ort eher nicht so aktiv und sichtbar sind.
Mit solchen Aussagen wäre ich sehr vorsichtig. Die AfD versucht dieses Bild zu vermitteln, ob dieses den Tatsachen entspricht, würde ich doch sehr bezweifeln. Jedenfalls im Westen stimmt es definitiv nicht. Die anderen Parteien haben deutlich mehr Mitglieder und viele sehr engagierte Menschen in ihren Reihen. Man muss aufpassen, dass man den Erzählungen der AfD als „Partei des kleinen Mannes“ nicht auf dem Leim geht – zahlreiche Führungsköpfe der AfD gehören der vermeintlichen Elite an, die die Partei so gerne kritisiert.

Muss man es nicht trotzdem versuchen, die Basisarbeit wieder zu verstärken?
Natürlich! Ich kann nur alle aufrufen, sich vor Ort zu engagieren – davon lebt die Demokratie. Und man muss eben gleichzeitig auch von Seiten der Regierungen für Vertrauen sorgen. Und da ist leider manches in letzter Zeit schiefgelaufen, Stichwort Heizungsgesetz. Es gab sehr viel Konfusion und öffentlichen Streit und darüber ist dann letztlich auch der richtige und wichtige eigentliche Ansatz des Gesetzes völlig in den Hintergrund getreten. Also, die Regierungen müssen gut sein, die Opposition muss gut sein. Und gleichzeitig müssen wir tatsächlich auch versuchen, überall als Demokratinnen und Demokraten präsent zu sein, aktiv zu sein und nicht passiv. Und das ist nicht nur eine Sache der Parteien. Die Demokratie geht uns alle an. Es ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, unsere Demokratie so zu festigen, dass sie eben auch in unruhigen Zeiten stabil bleibt. Demokratien scheitern meistens nicht daran, dass sie zu viele Feinde haben, sondern dass sie zu wenig Freunde haben. Wir sind in Deutschland zum Glück nicht so weit, dass unsere Demokratie akut in Gefahr ist, aber wir erleben Verschiebungen und Tabubrüche.

Was halten Sie denn von den sogenannten Bürgerräten zur Stärkung der Demokratie? Der erste zum Thema „Ernährung im Wandel“ ist ja jetzt gerade an den Start gegangen.
Alles in allem können Bürgerräte durchaus eine sinnvolle Ergänzung sein. Im Prinzip aber sind wir mit unserer starken parlamentarischen Demokratie und einer starken Zivilgesellschaft bisher in Deutschland ganz gut gefahren. Ich finde es dennoch absolut in Ordnung, dass man das jetzt ausprobiert, erwarte allerdings auch keine bahnbrechenden Ergebnisse. Es gab ja auch bei den Grünen mal den Gedanken, je mehr Partizipation stattfindet, desto schneller kommen wir voran – das kann sein, muss aber nicht sein.

Ich sehe gar nicht so sehr die Gefahr, dass die Vorschläge nicht fortschrittlich genug sind, ich sehe eher die Gefahr, dass so ein Bürgerrat beispielsweise zur Verkehrswende ganz klar feststellt, dass wir sofort ein Tempolimit brauchen, die FDP dann aber trotzdem ablehnt, weil sie ihrer Klientel das nicht zumuten möchte. Da ist also ein Bürgerrat mit nachvollziehbaren und klugen Vorschlägen und die Ergebnisse werden nicht gehört …
Das ist auch ein wichtiger Punkt. Wenn ich diese Form der Partizipation zulasse, dann darf ich die Ergebnisse im Nachgang natürlich nicht einfach wegwischen, aber auch die Entscheidungen gewählter Repräsentanten nicht einfach übergehen. Gleichzeitig finde ich es aber auch wichtig, dass Bürgerräte die Machbarkeit ihrer Vorschläge mitbedenken. Sie müssen sich fragen, wie die Vorschläge umgesetzt und finanziert werden könnten. Nehmen wir das Thema Ernährung: bei Umfragen gibt es sehr hohe Zustimmungswerte für mehr Tierwohl, aber an der Supermarkttheke wird dann doch eher zum billigsten Angebot gegriffen.

Interview: Lars Kompa
(das Gespräch wurde Ende August geführt)

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Der Freundeskreis im Gespräch im September

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Der Freundeskreis im Gespräch im September


Der Freundeskreis im Gespräch
Dietmar Althof und Dr. Bala S. Ramani

Diesen Monat sprechen wir mit den Freundeskreis-Mitgliedern Dietmar Althof (DA), Gastronom, ehemaliger Seniorpartner der Schlossküche Herrenhausen, heute Grauwinkels und langjähriger Mövenpick Restaurants Deutschland Chef, und Dr. Bala S. Ramani (BR), u. a. Ratsherri m Stadtrat der Landeshauptstadt Hannover, über die Stärken und das Image Hannovers.

Zuerst wie immer unsere kleine Vorstellungsrunde …

Dietmar Althof

DA – Ich bin 1951 geboren und 1977 nach dem Studium nach Hannover gekommen, um damals das Café Kröpcke wieder mit aufzubauen, in seiner heutigen Form. Die Schweizer Firma Mövenpick hatte den Zuschlag bekommen und ich war neuer Vizedirektor und habe dort meine Sporen verdient. In der Zeit habe ich Hannover kennen und lieben gelernt. Die Stadt ist meine Heimat geworden. Ich fühle mich hier richtig wohl, ich bin Hannoveraner mit Leib und Seele. Und das Herz der Innenstadt hat mich immer besonders beschäftigt. Wobei ich mich insbesondere für die Oper interessiere. Die war ja nun – in dem Fall leider – gerade erst wieder in aller Munde, weil die Intendantin Laura Berman aufs Übelste antisemitisch beschimpft worden ist. Wir haben uns als Nachbarn natürlich zusammengeschlossen und uns solidarisch gezeigt. Ich bin auch selbst viel kulturell unterwegs, spiele immer noch gerne Theater. Ich bin außerdem seit vielen Jahren Mitglied im Freundeskreis und Kuratoriumsmitglied. Die Belange der Stadt interessieren mich. Ich durfte damals hautnah den Aufbau zur EXPO-Stadt miterleben. Und wir haben damals am Kröpcke auch das EXPO-Café angegliedert. Das war ein großer Erfolg, großartige Veranstaltungen, Events und tolle Partys. Also, Hannover bedeutet mir eine ganze Menge. Hannover ist mein Leben.

Du musst noch kurz verraten, was du studiert hast …
DA –
Ich habe die Aufnahmeprüfung bei einer berühmten Schauspielschule in Österreich gemacht und bestanden. Und bin dann jobben gegangen, in die Schweiz, bei Mövenpick. Und der Eigentümer hat gesagt: „Du bist so gut für die Gastronomie, du musst Gastronomie machen. Weißt du was, ich schicke dich nach Amerika auf die Cornell University. Da bekommst du Gastronomie, da bekommst du Wirtschaftspolitik“. Also habe ich dort Wirtschaftspolitik studiert.

Dr. Bala S. Ramani

Jetzt zu dir, Bala …
BR –
Ich heiße Balasubramanian Ramani, kurz Bala, das war immer einfacher für die Menschen hier (lacht). Ich bin promovierter Meeresbotaniker. Bei meinem Promotionsthema hier in Hannover an der Leibniz Universität ging es beispielsweise darum, zu untersuchen, wie Küstenpflanzen gegen den Klimawandel wirken können. Ich habe den Master in Meeresbiologie und ein Botanik-Studium. Ich bin in Indien geboren und vor 23 Jahren nach Hannover gekommen, im EXPO-Jahr 2000. Das ist auch für mich ein ganz besonderes Jahr, an das ich mich gerne erinnere. Ich bin noch immer an der Leibniz Universität Hannover tätig, ich bin dort beschäftigt, seit ich in Hannover bin. Zuerst war ich Doktorand in der Forschung, später wissenschaftlicher Mitarbeiter. Heute bin ich zuständig für die Internationalisierung der Hochschule, insbesondere für den asiatischen Raum und auch Afrika. Und ich bin weltweit an großen Projekten beteiligt, in Lateinamerika, Asien und Afrika, Länder, in denen wir Auslandsämter aufbauen, wo Studierende für den Austausch hinkönnen. Das gibt es bisher in vielen Ländern noch nicht. Wir unterstützen mit unserem Wissen, unserem Know-how. Ich bin dazu auch weiter in der Forschungskommunikation tätig, also nicht ganz getrennt von der Forschung, trotz Verwaltung und Koordination.

Und du bist im Stadtrat.
BR –
Ja, seit 2012 bin ich auch in der Politik tätig. Ich bin in die Sozialdemokratische Partei eingetreten und war zuerst im Bezirksrat Mitte. Seit 2021 bin ich nun gewählter Ratsherr für die Landeshauptstadt. Ich bin der umweltpolitische Sprecher der Fraktion und Mitglied im Kulturausschuss und im Ausschuss für Internationales. Ich bin außerdem Gründer des Indischen Vereins Hannover, den es mittlerweile schon 15 Jahre gibt. Wir waren maßgeblich daran beteiligt, dass die Büste von Mahatma Ghandi direkt am Rathaus steht. 2021 habe ich mich sehr gefreut über eine hohe Auszeichnung, ich bin mit dem Pravasi Bharatiya Samman Award für im Ausland lebende Inder ausgezeichnet worden, da geht es um die Würdigung des Einsatzes für die Zusammenarbeit zwischen Indien und Deutschland, vergleichbar mit dem Bundesverdienstkreuz in Deutschland. Aber auch wenn ich mich noch viel mit Indien beschäftige, Hannover ist längst mein Zuhause und Niedersachsen ist meine Heimat. Ich bin sehr gerne hier.

Zwei Hannoveraner mit Fleisch und Blut …
DA –
So kann man das auf den Punkt bringen, das könnte die Headline sein.

Was euch verbindet, ist auch die Liebe zur Kultur. Du, Dietmar, bist für die Kultur in Hannover auch mal in die Wanne gestiegen …
DA – Ja, das ist schon ein paar Jahre her. Das war damals auf dem Opernplatz. In der Sparte Ballett sollte u. a. gespart werden. Und wir haben gesagt: Die Kultur darf nicht baden gehen. Also bin ich in die Wanne. Wir müssen alle gemeinsam auf unsere Kultur aufpassen, wir müssen ein Auge darauf haben, dass sie insgesamt ausreichend gefördert wird. Das gilt für alle Bereiche. Bei mir war es damals das Engagement fürs Ballett, weil ich selbst mal Ballett getanzt habe. Damals haben wir auch die Ballett Gesellschaft gegründet, mit dem internationalen Choreografie Wettbewerb.
BR – Kultur ist das, was uns alle verbindet. Ich habe damals im Jahr 2000 die Oper zum ersten Mal kennengelernt, meine Professorin hat mich mitgenommen. Und das war schon ein spezielles Erlebnis, ich habe natürlich nicht viel verstanden. Die Kultur in Deutschland ist ganz anders als in Indien. In Indien gibt es eine wahnsinnige Vielfalt, man fährt 30 Kilometer und die Kleidung ist komplett anders. Man lebt seine eigene Kultur in der Familie. Indische Musik, das Theater, die Kunst ist komplett anders als im Westen. Inzwischen habe ich aber auch die westliche Kultur verinnerlicht und weiß, wie wichtig sie für unser Zusammenleben ist. Kultur ist wie Essen. Überlebenswichtig. Und alles ist Kultur. Wie wir kommunizieren, wie wir miteinander umgehen. Auch das gehört für mich zum Kulturbegriff. Ich fasse das sehr weit.
DA – Ich möchte noch ergänzen, dass aus meiner Sicht die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur gar nicht früh genug beginnen kann. Ich denke, dass das eine zentrale Aufgabe der Bildungs- und Sozialpolitik sein muss. Bildung fängt schon in der Kita an. Das ist essentiell, das sorgt für Chancen. Der beste Tänzer der Welt, die beste Sängerin, der beste Schriftsteller, sie werden nie erkannt, wenn sie keine Chance bekommen. Ich hatte hier in Hannover eine Patenschaft bei einer Kita und es stellen sich ja viele Fragen: Was essen die Kinder? Was bekommen sie zum Frühstück? Wird frisch gekocht? Aber auch: Was singen sie? Was lesen sie? Bildung beginnt in der Kita. Doch es gibt auch bei uns immer noch viele Kinder, die diese Chance, diese Notwendigkeit nicht bekommen. Kultur und Soziales ist in diesem Sinne für mich immer eine Einheit gewesen und nicht voneinander zu trennen. Ein kleiner Gesangsverein, der mit Kindern oder mit alten Leuten singt, macht wichtige Kulturarbeit und Sozialarbeit. Wenn ich davon rede, dass die Kultur gefördert werden muss, dann rede ich immer über das Ganze und nicht allein über die Hochkultur. Wir müssen da sehr in der Breite denken. Und alles auskömmlich fördern.

Aber es sieht jetzt so aus, dass im Bereich der freiwilligen Leistungen ziemlich umfangreich der Rotstift angesetzt werden soll.
BR – Der Stadtkämmerer, Herr von der Ohe, hat sich dazu schon klar positioniert und gesagt, dass Sport und Kultur eben nicht nur „nice to have“ sind, sondern überaus wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Es ist klar und wir wissen alle, dass gespart werden muss, es gibt die Vorgaben der Kommunalaufsicht. Aber wir dürfen trotzdem nicht dem Sport und der Kultur schaden. Wir müssen eine Lösung finden. Vielleicht auch viele Lösungen. Für mich ist ganz klar, wenn wir bei den Vereinen, bei der Kultur, beim ehrenamtlichen Engagement kürzen, dann stärken wir die Rechten. Ich finde das gefährlich, gerade in diesen Zeiten. Wir haben da eine große Verantwortung für den Frieden in dieser Gesellschaft. Die Kultur bringt alle zusammen. Ja, wir müssen sparen, aber wir müssen klug sparen.
DA – Wobei wir aber auch ein bisschen Vertrauen können auf das Engagement der Kulturschaffenden. Nicht alles muss finanziert und subventioniert werden. „die hinterbuehne“ ist da für mich ein herausragendes Beispiel. Es geht auch ganz ohne Förderung. Ich spiele dort seit Jahren selbst Theater mit unserer Gruppe, der „Tribüne“, die Fitzek-Stücke und jetzt diese wunderbare Extra-Wurst, bei dem ich die Hauptrolle habe. Die füllen dort ihr Theater mit verschiedensten Veranstaltungen. Man kann also auch in Eigenregie etwas auf die Beine stellen. Und „die hinterbuehne“ ist dafür ein leuchtendes Beispiel. Es ist beeindruckend, was Utz Rathmann und sein Team dort leisten.

Ich finde es trotzdem gut, wenn viel gefördert wird, eher mehr als weniger …
DA –
Ich sage auch nur, dass nicht alles eine Frage des Geldes ist. Man kann auch mit Eigeninitiative viel auf die Beine stellen. Das gilt ja nicht nur für die Kultur, das gilt auch für die Wirtschaft. Es braucht immer ein gewisses Maß an Eigeninitiative und Mut. Ich denke bei der Kultur zum Beispiel an den „Kulturhafen“ – ganz junge Leute, die das gemeinsam ins Leben gerufen haben. Absolut großartig. Oder auch der „Andersraum“. Ausstellungen, Bilder, Lesungen, Gruppen etc. – ein ganz toller Verein. Kultur für alle.

Es gibt ja momentan wieder die Diskussionen um das Image Hannovers. Und dann ist immer auch die Rede davon, dass Hannover kulturell nicht genug strahlt. Ich finde das nicht. Ich finde, wir gucken nur nicht genau genug hin. Es gibt ganz viel …
BR –
Wir sollten uns erstens nicht immer mit Berlin, Hamburg oder München vergleichen, und ja, wir sollten wahrscheinlich ein bisschen mehr Selbstbewusstsein entwickeln, denn Hannover hat kulturell wirklich unfassbar viel zu bieten. Manchmal fällt es schwer, sich zu entscheiden, weil so viel parallel läuft. Und es ist tatsächlich so, das vieles gar nicht gesehen oder gewürdigt wird. Wenn man zum Beispiel Leute aus Hannover fragt, ob sie schon mal im Historischen Museum waren, dann gibt es sehr viele, die das bisher ausgelassen haben. Dabei ist das ein ganz großartiges Haus. Ich denke, wir brauchen da ein Marketing in der Stadt, das sich gezielt an die eigenen Bürger*innen richtet. Und ich finde außerdem, wir sollten ein bisschen mehr eine andere Stärke herausstellen. Hannover ist multikulturell. Wir sind sehr international aufgestellt. Und das bildet sich aus meiner Sicht im Kulturangebot der Stadt noch nicht ausreichend ab. Vielleicht würde es sich lohnen, künftig ein bisschen mehr in diese Richtung zu denken. Außerdem brauchen wir Marketingstrategien, die gezielt auf jüngere Menschen zugeschnitten sind. Die schauen nicht mehr klassisch in die Zeitung. Da müssen wir neue und kreative Wege entwickeln.
DA – Hannover hat wirklich enorm viel zu bieten und muss sich nicht verstecken. Ich kenne auch keine Halbmillionenstadt, die in den letzten 20 Jahren einen Bundeskanzler, einen Bundespräsidenten und eine EU-Kommissarin gestellt hat. Irgendwas muss also dran sein an Hannover. Das gilt übrigens auch für den Sport. Und was ebenfalls immer gerne vergessen wird: Wir haben die Scorpions und Fury in the Slaughterhouse. Wir brauchen unser Licht wirklich nicht unter den Scheffel zu stellen. Ich denke, wir müssen noch mehr darüber nachdenken, wie wir Kultur für alle leichter erlebbar und zugänglicher machen. Da ist schon eine Menge auf dem Weg, aber da geht eventuell noch mehr.
Vielleicht freier Eintritt an Montagabenden oder Dienstagabenden für bestimmte Gruppen, für Rentner*innen, Schüler*innen, Arbeitssuchende. Da kann es gerne Zusatzangebote geben, die dann auch stärker kommuniziert werden sollten. Wie gesagt, wir haben schon jetzt wirklich schöne Angebote, wer an Kultur interessiert ist, hat in Hannover die Möglichkeit, Kultur zu erleben, und dazu braucht es gar nicht viel Geld, vieles ist kostenlos. Und jeder und jede ist aufgerufen, die Angebote auch in Anspruch zu nehmen. Aber ist das Angebot schon ausreichend genug in der Breite kommuniziert? Da müssen wir nachlegen. Und wirklich mit viel Selbstbewusstsein an die Öffentlichkeit gehen. Wir haben alles, was eine Großstadt braucht. Übrigens auch ein sensationelles Verkehrskonzept, das die Kultur mit den Tickets unterstützt. Wenn ich als Rentner ein Ticket bekomme, kostet das noch nicht mal 25 Euro und ich kann den gesamten Großraum abfahren. Also, wir müssen uns nicht verstecken. Und wir können alle zu Botschafter*innen werden.

Bala, du hast eben schon angesprochen, dass Kürzungen an den falschen Stellen möglicherweise die rechten Tendenzen in der Gesellschaft verstärken. Wie besorgt blickt ihr auf die aktuellen Umfragen?
BR –
Mit großer Sorge. Wir müssen die Realität erkennen, das ist kein Randthema mehr. Wobei natürlich viele sagen, dass sie AfD wählen würden, weil sie frustriert sind, enttäuscht von der Politik. Auf verschiedenen Ebenen. Und das kann ich insofern nachvollziehen, weil die Politik sich momentan zumindest auf der bundesdeutschen Ebene sehr um sich selbst dreht. Selbst, wenn Gutes auf den Weg gebracht wird, dringt das gar nicht mehr durch. Wir müssen weitaus mehr kommunizieren. Ich bin sehr viel unterwegs und ich stelle immer wieder fest, dass man mit den Menschen sehr ehrlich sein kann. Wir können ruhig sagen, was machbar ist und was nicht machbar ist. Wo wir Kompetenzen haben, wo auf Bundesebene oder Landesebene entschieden wird. Das müssen wir erklären und dafür müssen sich alle Politiker*innen die Zeit nehmen. Aber wir müssen vor allem auch zuhören. Und Zuhören ist ein großes Problem von Politiker*innen. Sie sagen immer „Ich muss, ich muss, ich muss …“, sie sind immer schon wieder auf dem Sprung. Und wenn das passiert, fühlen sich die Menschen nicht ernst genommen. Also wenden sie sich jenen zu, die vermeintlich zuhören. Und die die leichten Lösungen anbieten. Wobei sie natürlich ganz genau wissen, dass ihre einfachen Vorschläge niemals realisierbar sein werden.
DA – Dass da viel in die falsche Richtung läuft, sehen wir ja an so einem Vorfall wie mit Laura Berman. Aber wenn ich hier so in unsere Runde blicke, dann habe ich auch Hoffnung. Jung und multikulturell, das ist die Mitte. Und ich hoffe sehr darauf, dass diese neue Generation jetzt das Zepter von uns Alten übernimmt und es besser macht. Wir haben viele Fehler gemacht, nicht nur in der Umweltpolitik, in verschiedenen Bereichen. Klar, wir haben auch Positives erreicht in Deutschland, unseren Wohlstand. Aber was haben wir in Europa und in der Welt erreicht? Es ist uns nicht gelungen, die Schere enger zu machen. Es gibt ein großes Ungleichgewicht, immense Ungerechtigkeiten. Ich hoffe sehr, dass die kommenden Generationen das in den Griff bekommen.

Haben wir in unserer Gesellschaft noch genug Zusammenhalt, gibt es noch die Mitte, die aufeinander achtgibt, die sich gegenseitig unterstützt? Oder haben wir eher ganz viele Egoshooter großgezogen in den vergangenen Jahren?
BR – Ich bin überzeugt und erlebe auch jeden Tag, dass es diesen Zusammenhalt weiter gibt. Ich erlebe das an der Universität, im Verein, auch in der Politik, in der Nachbarschaft. Es gibt nach wie vor eine sehr große Hilfsbereitschaft, das haben wir wieder bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine erlebt. Oder nehmen wir das Erdbeben in Syrien und der Türkei – die Hilfsbereitschaft war riesengroß. Und wenn es Hassbriefe oder Ähnliches gibt, dann reagiert die Zivilgesellschaft ebenfalls noch immer sehr unmittelbar.
DA – Ich denke auch, dass wir weiterhin an den richtigen Stellen aufstehen und den Rücken gerade machen werden. Das müssen wir, das ist eine Hauptaufgabe. Paroli bieten. Couragiert sein. Ich denke, dass für die AfD und die Ideen dieser Partei in unserer Gesellschaft kein Platz ist. Wir können uns wirklich darüber freuen, dass wir eine so bunte, offene und freie Gesellschaft haben. Dass das so bleibt und vielleicht auch noch offener wird, dafür sollten wir alle mit großer Leidenschaft kämpfen.

Lak

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Verein Psychiatrie Erfahrener -VPE

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Verein Psychiatrie Erfahrener -VPE


Psychische Erkrankungen bedeuten oft spürbare Einschränkungen, Herausforderungen und Belastungen für Betroffene und deren Angehörige und Freund*innen. Der Verein Psychiatrie Erfahrener bietet Betroffenen ein niederschwelliges Hilfsangebot. Alles unter dem Motto: Willst Du etwas wissen, so frage den Erfahrenen und keinen Gelehrten.

Norman Sabbagh+Sabine Szillus

Depressionen, Angststörungen oder Störungen durch Alkohol- und Drogenkonsum – die Liste der psychischen Erkrankungen ist lang.
Knapp 18 Millionen Menschen in Deutschland sind psychisch krank.
Für die Betroffenen, ihre Angehörigen und Freund*innen bedeutet das oft sehr viel Leid und gesellschaftliche und soziale Isolation. Das Gesundheitssystem scheitert währenddessen an der schnellen Verteilung von Therapie- und Klinikplätzen. Auf ein Erstgespräch bei einem Psychologen müssen Betroffene oft monatelang warten, an überfüllten Kliniktüren werden sie abgewiesen.

„Da würde ich mir eine bessere ärztliche Versorgung wünschen“, sagt Sabine Szillus, die zweite Vorsitzende des VPE’s – dem Verein Psychiatrie Erfahrener. „Der VPE ist in erster Linie ein Selbsthilfeverein von Menschen, die selbst mal in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung waren oder es noch sind, erklärt Norman Sabbagh, der erste Vorsitzende des VPEs. „Aber auch wer nicht Psychiatrie-erfahren ist, kann hier gerne herkommen.

Der VPE möchte Mut machen, sich der Krankheit und den Folgen zu stellen. Das heißt auch, sich über die Krankheitssymptome, Medikamente und Behandlungen auszutauschen. So können sich Betroffene gegenseitig den Rücken stärken. Betroffene haben mit dem VPE also eine offene Anlaufstelle, wo sie Unterstützung erfahren. „Wir wollen, dass die Leute nicht allein zu Hause sitzen. Das ist schon ganz viel wert, wenn man einfach unter Menschen ist, sich unterhält, wenn man einfach mal rauskommt aus seinem Umfeld, aus seiner Wolke, in der man lebt. Dann ist alles schon viel einfacher“, erklärt Norman. „Für viele Menschen mit diesen Krankheitsbildern ist es schwierig, irgendwo aktiv hinzugehen. Das ist oft ein ganz großer Schritt. Hier wissen die Leute, hier sind Menschen, die haben die gleichen Erfahrungen gemacht wie ich. Die verstehen mich, die lehnen mich nicht ab“, ergänzt Sabine.
Der VPE bietet seinen rund 180 Mitgliedern und neugierigen Besuchenden eine offene Teestube und zweimal die Woche ein gemeinsames Frühstück. „Dass die Leute Sozialkontakte haben, ist sehr wichtig. Durch die Krankheit ist das bei vielen, das weiß ich aus eigener Erfahrung, extrem eingeschränkt“, erklärt Sabine. Darüber hinaus gibt es Gruppen, in denen Betroffene ihre Erfahrungen austauschen können – wie etwa in der Psychosegruppe, der Frauengruppe und der Depressionsgruppe. „Falls es mal akut irgendeinen Redebedarf gibt, wenn Leute einsam zu Hause sitzen und nicht weiter wissen, weil ihnen das Wasser bis zum Hals steht, haben wir hier zwei Sozialarbeiterinnen, die man zu den Sprechzeiten immer ansprechen kann“, erzählt Norman.
Darüber hinaus sitzt der VPE in verschiedenen Gremien, um sich für die Interessen und Bedürfnisse von psychisch kranken Menschen einzusetzen.

All das – die Gremienarbeit, die Teestube, das Frühstück, die Selbsthilfegruppen – ist nur möglich, weil zahlreiche Ehrenamtliche, die selbst Betroffene sind oder waren, diese Arbeit übernehmen und so einen sicheren Ort für andere Betroffene schaffen. Diese Arbeit wird von der Region Hannover gefördert. Und trotzdem werden Geld- und Sachspenden dringend benötigt. „Ganz wichtig ist, dass wir Spendende finden, die uns unterstützen“, betont Sabine – denn nur so kann der VPE weiterhin eine Anlaufstelle für die sein, die sie unbedingt brauchen. „Es ist keine Schande, krank zu sein. Es ist kein Makel, krank zu sein. Es ist nicht schlimm, krank zu sein. Aber es ist nicht so gut, sich keine Hilfe zu holen“, betont Sabine.

VPE – Verein Psychiatrie Erfahrener
Rückertstraße 17, 30169 Hannover
Tel.: 0511 131 88 52
vpehannover@arcor.de

Jule Merx

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Der besondere Laden: Lex & Julez

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Der besondere Laden: Lex & Julez


In der Fashion-Industrie läuft so einiges gewaltig schief – miserable Arbeitsbedingungen, Überproduktion, Zerstörung der Umwelt. Das Modelabel Lex & Julez möchten einen Unterschied machen: faire, nachhaltige Mode direkt aus der Posthornstraße in Linden-Nord.


„Wir wollen gegen die Fast-Fashion-Industrie ein Zeichen setzen“, meint Julia Bianca Berg, die alle nur Jule nennen, Mitgründerin von Lex & Julez. Die zweite Modedesignerin hinter Lex & Julez ist Alexandra Huhn, Spitzname Lexi. Die Beiden lernten sich 2015 während des Modedesign-Studiums in Hannover kennen und wurden beste Freundinnen. Gemeinsam absolvierten sie ihren Master – dabei entstand auch das Konzept für Lex & Julez. „Damit haben wir uns direkt selbstständig gemacht. Nach dem Abschluss mit einem Kopfsprung in die Selbstständigkeit“, erzählt Lexi. Zunächst bezogen sie ein kleines Atelier in Linden-Süd, seit September 2022 haben sie eine eigene Ladenfläche in der Posthornstraße. „Als wir das Atelier damals gemietet haben, war das wie in einem Film: ein leerer Raum, nur eine Nähmaschine und zwei Kaffeetassen. Wir mussten alles from scratch aufbauen“, erinnert sich Lexi zurück.

„Wenn man Lex & Julez in ein paar Sätzen zusammenfassen müsste, dann steht vorne dran auf jeden Fall ein riesiges Nachhaltigkeitskonzept, verbunden mit zeitlosem, minimalistischen Design und Handwerk“, erklärt Lexi. In das Label, in jeden Arbeits- und Produktionsschritt, fließen die Werte der beiden ein. Im Studium haben sie viel über die Fast-Fashion-Industrie und die damit verbundenen Abgründe gelernt. Für die beiden Freundinnen ist klar – das geht auch anders, das muss anders gehen: fair, nachhaltig und transparent. „Die Fashion-Industrie hat einen riesigen Anteil daran, dass unsere Umwelt komplett zerstört wird und Menschen leiden“, betont Jule. „Wir wollen auf diesen Zug nicht mit aufspringen und einfach mitmachen. Sondern an vielen Ecken und Enden Veränderung schaffen“, ergänzt Lexi.

Der Gegenentwurf zu Fast-Fashion ist Slow-Fashion. Darauf setzen auch Lexi und Jule: „Alles, was wir entwerfen und produzieren, kann miteinander kombiniert werden. Außerdem kann die Kollektion in einen bestehenden Kleiderschrank integriert werden.“ Es wird also nicht auf Trends gesetzt, auf immer neue Kollektionen, sondern auf klassische, minimalistische, langlebige Teile. „Vom Design her ist es super reduziert und schlicht. Wir arbeiten auch nur mit den Farben Schwarz und Weiß, sodass noch mehr diese Kombinationsfähigkeit gegeben ist“, erklärt Jule.

Auf Nachhaltigkeit setzen die zwei Freundinnen auch, wenn es um die Materialien geht: Naturstoffe aus Europa und plastikfreier Garn, plastikfreie Verpackungen, plastikfreie Knöpfe. „Da gibt’s bei uns keine Ausnahmen. Das ist herausfordernd“, meint Lexi. „Wir arbeiten ressourcenschonend“, ergänzt sie. Aus Verschnittresten werden zum Beispiel Taschen, Haarbänder und Haargummis genäht. Doch die ressourcenschonende Produktion beginnt schon ein paar Arbeitsschritte früher: bei den Entwürfen für die Schnitte und Detaillösungen. Schon hier wird so entworfen, dass zum Beispiel komplett auf Reißverschlüsse verzichtet werden kann.

Und das ist nicht die einzige Besonderheit bei den Entwürfen von Lex & Julez. „Bereits bei der Schnittentwicklung achten wir darauf, dass unsere Kleidung so größeninklusiv wie möglich ist“, erklärt Jule. Ein konventionelles Größensystem sucht man hier vergeblich. „Sich in so eine Nummer reinzudefinieren ist einfach super schädlich für die eigene Psyche“, meint Lexi. „Bei uns soll dieses Gefühl, was man hat, wenn man die Kleidung trägt, im Vordergrund stehen“.

Lex & Julez – ein wichtiger Gegenentwurf zur Fast-Fashion-Industrie. „Zu sehen, dass Leute das cool finden und supporten, und immer mehr Menschen irgendwie darauf aufmerksam werden, was wir machen, dass immer mehr mitbekommen, dass es uns gibt – das ist ziemlich schön“, meint Lexi.

„Wenn es um nachhaltige Mode geht, hat man, glaube ich, schnell das Gefühl, dass man als einzelne Person keinen großen Unterschied macht. Neben unserer Arbeit als Designerinnen möchten wir darauf aufmerksam machen, dass es eben doch eine Änderung schafft, wenn man sich mit diesem ganzen Konstrukt Fast-Fashion auseinandersetzt, und dass da wirklich viel passieren muss. Findet euren eigenen Weg, irgendwie eine Änderung zu schaffen. Wir würden uns natürlich sehr freuen, davon ein Teil sein zu können“.

Lex & Julez
Posthornstr. 9, 30449 Hannover
Öffnungszeiten Di 10-17 Uhr, Mi-Fr 15-18 Uhr, Sa 10-13 Uhr
Tel.: 0511 53846543
www.lexandjulez.de

Jule Merx

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Über Würde

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Über Würde


Wir haben viel zu verlieren und noch reichlich zu gewinnen

Würde. Ein großes Wort. Das gerne mal inflationär in Sonntagsreden in den Mund genommen wird. Aber was ist eigentlich mit Würde gemeint? Was beinhaltet dieser Begriff? Was gehört zu einem würdevollen Leben? Das zu beschreiben, ist gar nicht so leicht. Wir erfassen eher, was Würde bedeutet, wenn wir die Abwesenheit von Würde erleben. Wenn wir würdelose Zustände sehen. Dann bekommen wir eine ungefähre Idee davon, dass Würde eine ganz zentrale Basis für alle Menschen sein sollte. Ist sie aber nicht. Die Würde des Menschen ist offensichtlich ziemlich antastbar …

Sie scheint momentan überall auf der Welt sehr antastbar. Was teilweise kaum auszuhalten ist. Es macht wirklich traurig, sich umzusehen. In Afghanistan nehmen die Taliban zum Beispiel den Frauen ihre Würde. Sie werden unterdrückt, sie werden zu Sklavinnen der Männer degradiert, sie werden von der Bildung ausgeschlossen, sie werden schlicht zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Frauen sind in Afghanistan entwürdigt. Frauen sind überall auf der Welt, in vielen Staaten nach wie vor entwürdigt. Menschen werden wegen ihres Geschlechts entwürdigt, wegen ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihrer Religion und Hautfarbe. Und Menschen werden entwürdigt, weil sie mächtigen Interessen im Weg stehen. Menschen erleben im Krieg Entwürdigung. Wir erinnern uns kollektiv an die Bilder aus Butscha. Über 400 Menschen sind dort gefoltert, erschlagen und erschossen worden. Ein Kriegsverbrechen. Russland will den Menschen in der Ukraine ihr Recht auf Selbstbestimmung nehmen. Selbstbestimmung ist ein Teilaspekt des Begriffs Würde. Wenn Menschen sich über andere Menschen stellen, wenn sie ihre eigenen Interessen höher werten als die Interessen anderer, immer dann geht es auch um Würde, beziehungsweise um die Abwesenheit von Würde.

Aber würdelose Zustände sind nicht immer die Folge von direkter Unterdrückung. Manchmal entstehen solche Zustände in Systemen, die die Menschlichkeit zu sehr ausklammern. Der Kapitalismus ist wie gemacht dafür. Er dient der Kapitalakkumulation und nicht den Menschen. Dafür muss man ihn gar nicht kritisieren und kann ihn auch gar nicht kritisieren, der Kapitalismus ist ja kein Wesen und auch kein politisches Programm, sondern eine Form der Wirtschaft. Kritisieren muss man aber sehr wohl alle, die bisher dafür gesorgt haben, dass der Kapitalismus nicht weltweit starke soziale Leitplanken bekommen hat, sozusagen eine übergeordnete Gerechtigkeitskontrolle. Das ist nicht passiert. Und ebenso wenig sind bisher die tatsächlichen Kosten der Produktion umgelegt worden. Mit der Folge, dass Unternehmen noch immer hohe Gewinne mit Ressourcen erwirtschaften, für die sie kaum etwas bezahlen, zum Beispiel mit Trinkwasser. Und dass sie die Umwelt schädigen, ohne dafür irgendwen und im Zweifel uns alle entschädigen zu müssen.

Besonders schlimm wird es eigentlich immer dann, wenn der Kapitalismus zum politischen Programm erhöht wird, wenn möglichst freie Märkte gepredigt werden. Ein reichlich veralteter und blauäugiger Ansatz, der davon ausgeht, dass die Märkte es schon richten. Längst überholt und erwiesenermaßen grundfalsch, aber noch immer ein Glaubenssatz der FDP. Manche begreifen es halt nie. In Deutschland hat man beispielsweise gerne privatisiert, unter anderem im Gesundheitswesen. Und kann sich nun die Folgen anschauen. Die Lage in der Altenpflege ist ein Skandal. Unser Umgang mit alten Menschen ist bei uns insgesamt ein Katastrophe. Alte Menschen werden oft nur noch halbwegs verwaltet, im Minutentakt versorgt, abgearbeitet. Für viele wird die Unterbringung im Heim so zu einer späten Strafe. Wenn du deine Körperfunktionen nicht mehr im Griff hast, geistig aber voll auf der Höhe bist, deine Situation sozusagen anschauen, aber nichts tun kannst, und stundenlang warten musst, bis jemand deine Kleidung wechselt und dich wäscht, dann ist das würdelos. Für viele Menschen in Deutschland ist das aber leider bitterer Alltag. Und auf der anderen Seite leiden auch die Pflegenden, die in ihrem Job ausbrennen, die dem eigenen Anspruch an ihre Arbeit nicht mehr gerecht werden können. Warum? Weil das System auf kostensparende Effizienz getrimmt ist. Weil man viel zu viel den freien Märkten überlassen hat. Übrigens nicht nur im Gesundheitswesen. Wir sehen zum Beispiel, dass der Ausverkauf von Immobilien in den Städten zu ausufernden Mieten geführt hat, während es an sozialem Wohnungsbau fehlt. Die Not ist teilweise schon jetzt groß und nicht wenige Menschen leben bereits aus Kostengründen in „unwürdigen“ Verhältnissen.

Womit wir bei der Scham sind. Es ist beschämend, wenn es nicht reicht, wenn die eigene Leistung nicht genug einbringt, um sich ein halbwegs würdiges Leben zu finanzieren. Und das oft schuldlos, ausgestattet mit einer Minirente nach vielen Jahren Arbeit und Care-Arbeit. Inzwischen sind in unseren Städten sehr viele Menschen unterwegs, die Flaschen sammeln, manche eher tagsüber, um ihre Süchte zu finanzieren. Viele aber auch sehr früh morgens, fast noch in der Dunkelheit, um ihr Leben zu finanzieren, und der Blick in die Mülleimer ist eilig und verschämt, nach ein oder zwei Blicken über die Schulter. Niemand soll das sehen. Niemand von den anderen, die es besser hinbekommen haben, die sich keine Sorgen machen müssen. Wobei wir uns inzwischen ja zunehmend alle Sorgen machen müssen.

Und dann beginnen wir damit, unseren Besitz zu verteidigen. Und wir identifizieren argwöhnisch Menschen, die unseren Besitz bedrohen, zum Beispiel Flüchtlinge. Eine Klaviatur, auf der die AfD ihre völkischen Lieder anstimmt. Da kommen Kriegsflüchtlinge, und okay, die muss man natürlich eine Weile aufnehmen – aber müssen denen bei uns auch gleich die gebratenen Tauben in den Mund fliegen? Und da kommen – „viel schlimmer“ – sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge, die dann hier in unserem Sozialstaat schmarotzen. So ungefähr klingt der Sound. Dass diese Menschen kommen, weil es in ihren Ländern oft schlicht nichts mehr zu essen und keine Perspektive gibt, vielleicht, weil ihr Land im Zuge des vom reichen Westen verursachten Klimawandels ausgetrocknet ist, darüber wird lieber geschwiegen. Das wird ausgeklammert. Stattdessen versuchen wir in Europa, uns diese Menschen möglichst vom Leib zu halten. Wir halten sie an den Grenzen auf und verfrachten sie in überfüllte Lager wie Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Noch heute leben Menschen in all den Lagern in katastrophalen Verhältnissen. Wie muss sich das anfühlen? Du bist nicht gewollt. Nirgends. Du lebst im Dreck, überall Müll. Um dich herum viele andere Menschen. Du hast keine Privatsphäre, kannst dich nicht zurückziehen. Du hast die Geschichten vom gelobten Land geglaubt, du hast dich auf den Weg gemacht, viel Geld bezahlt, deine Familie, deine Kinder zurückgelassen. Aber das Paradies war nur ein Märchen. Und nun hängst du fest.

Oder du wolltest gerade dein Informatikstudium beenden, als dir plötzlich die Bomben um die Ohren geflogen sind und du fliehen musstest. Nur weg, hunderte, tausende Kilometer. Vielleicht hast du auf der Flucht deine Familie aus den Augen verloren. Vielleicht weißt du nicht, ob deine Eltern noch Leben. Und nun sitzt du in diesem Lager. Hat das auch nur entfernt etwas mit Würde zu tun? Ist es in Ordnung, Menschen so zu behandeln, die traumatisiert sind, die vor Krieg und Terror geflohen sind, die vielleicht mitangesehen haben, wie Verwandte, wie Nachbarn misshandelt und umgebracht worden sind? Nein, das ist ganz und gar nicht in Ordnung und jeder und jede von uns, würde sich mit Händen und Füßen zur wehr setzen, würde kämpfen, für eine bessere, eine würdevollere Behandlung. Allen, die heute AfD wählen, wollen wir wünschen, dass sie nie in eine solche Situation kommen wie die Flüchtlinge, und dann in einem fremden Land auf Menschen treffen, die dort irgendeine AfD-Variante wählen. Was verweigern wir diesen Menschen? Wir verweigern ihnen ein würdevolles Leben.

Ein Leben in Würde ist die Grundvoraussetzung für ein glückliches Leben. Ohne Ausnahme verdienen wir eine würdevolle Behandlung. In jeder Lebenslage ein ganzes Leben lang. Im Grundgesetz heißt es dazu: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Satz spukt den meisten in Deutschland aufgewachsenen Menschen im Kopf herum. Hat man schon mal gehört, meistens in der Schule. Was bedeutet eigentlich dieser Begriff? Zu welcher Zeit hat er sich entwickelt. Wann hat man Menschen zum ersten Mal Würde zugestanden?

Die Würde hat eine lange und reiche Geschichte. Bereits in der Antike, insbesondere im Werk von Aristoteles, wurde sie als eine grundlegende Eigenschaft des Menschen betrachtet. Aristoteles meinte, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunft und seiner Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen, eine einzigartige Würde besitze. Diese Vorstellung von Würde als etwas, das auf unseren inneren Qualitäten basiert, hat die philosophische Tradition stark beeinflusst. Im Laufe der Geschichte entwickelte sich die Vorstellung von Würde dann weiter. In der christlichen Theologie wurde die Würde des Menschen als göttliche Schöpfung betont. Und die Aufklärung des 18. Jahrhunderts brachte schließlich eine neue Perspektive mit sich, in der die Idee der individuellen Rechte und Freiheiten im Mittelpunkt stand. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde die Idee der menschlichen Würde in politischer Hinsicht verankert. Mit der Würde wurde ein Anspruch an Gesellschaften festgeschrieben. Alle Menschen haben gleichermaßen einen Wert.

Die Philosophen haben die Frage nach der Würde des Menschen immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Immanuel Kant, einer der einflussreichsten Denker der Aufklärung, argumentierte, dass die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit zur Vernunft und zur moralischen Autonomie liegt. Für Kant hat jeder Mensch intrinsische Würde, die nicht verhandelbar ist und unabhängig von seinen Handlungen oder Eigenschaften existiert. Und Hannah Arendt, eine uns in Hannover gut bekannte politische Theoretikerin betonte vor allem die soziale Dimension der Würde. Sie argumentierte, dass die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit liegt, sich in der Gesellschaft zu engagieren und politische Handlungen zu vollziehen. Arendt betonte die Bedeutung der Anerkennung durch andere Menschen für die Wahrung unserer Würde. Ein wichtiger Aspekt.

Der Wert der Würde, das gilt es unbedingt festzuhalten, ist unendlich hoch. Sie kann nicht mit materiellen oder immateriellen Gütern aufgewogen werden. Hieraus leitet sich beispielsweise das Verbot der Sklaverei ab. Es gibt keinen Preis, zu dem der Verkauf eines anderen Menschen oder auch der Verkauf der eigenen Person gerechtfertigt wäre. Also gibt es auch keine Rechtfertigung für Sklaverei. Gegner der Prostitution argumentieren ganz ähnlich. Befürworter entgegnen, dass in diesem Fall nicht der ganze Mensch, sondern nur der Körper verkauft werden würde. Es gibt bei dieser Frage sehr kontroverse Positionen und auch in Deutschland flammt die Diskussion immer mal wieder auf. Kann man in Würde seinen eigenen Körper verkaufen?

Und eine andere Frage: Kann man die Würde eines Menschen gegen die anderer Menschen aufwiegen? Wenn ich fünf totkranke Menschen habe, die alle ein jeweils unterschiedliches Organ zum Überleben bräuchten, darf ich dann einen Menschen töten, um die fünf Organe zu entnehmen und die fünf Leben zu retten? 1 zu 5 ist doch keine so schlechte Bilanz. Bei uns in Deutschland fällt die Antwort eindeutig aus. Natürlich geht das nicht, weil das Leben auch des einen Menschen unendlich viel Wert ist. In anderen Ländern hat die Würde aber leider keinen so hohen Stellenwert, was sich dort an unzähligen Operationsnarben bei jungen Menschen ablesen lässt. Dort ist die Würde des Menschen antastbar, wenn die Bezahlung stimmt.

Das Konzept der Würde war (und ist) nicht immer ein Maß der Gleichbehandlung und Menschlichkeit. In der Antike wurde Männern von Stand Würde zugesprochen (Frauen nicht), und man erhob sie damit zu etwas Besseren, ein Mann mit Würde war nicht mehr gleich unter Gleichen. Ein gewöhnlicher Mensch wurde zu einem besonderen Menschen. Die Würde (lateinisch Dignitas) war ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen mit Macht und solchen ohne Macht. Damit einher ging eine Besserbehandlung des Würdenträgers. Die würdelosen Menschen hatten ihn zu achten und ihm zu dienen. Das Konzept der allen zustehenden Würde ist aber auch nicht mehr jung. Man findet diese universale Würde bereits bei den alten Griechen.

Beispielsweise die stoische Philosophie kam bei der Frage, was den Menschen ausmacht, zu dem Schluss, dass es seine Vernunftbegabung ist, die in allen Menschen prinzipiell vorhanden ist, wobei man natürlich sagen muss, dass sehr viele Menschen diese Begabung ausgesprochen geschickt verstecken. Aber sei’s drum, im Gegensatz zum Tier kann der Mensch sich seines Verstandes bedienen und sich mit der Welt theoretisch auseinandersetzen. Genau diese Eigenschaft hebt ihn ab von Kuh und Hund und fordert eine besondere Art der Behandlung, eine würdevoll Behandlung. Die Christen haben an dieser Stelle noch mal was draufgepackt. Der Mensch ist nicht nur vernunftbegabt, sondern sogar von Gott höchstpersönlich nach seinem Ebenbild erschaffen. Er ist die Krone der Schöpfung, das auserwählte Wesen im Universum, das sich Erde und Tierwelt Untertan machen soll. Ein Teil des großen Erschaffers wohnt natürlich in uns allen, ein Teil seiner Göttlichkeit. Weswegen wir uns gegenseitig mit Würde und Respekt begegnen sollten. Also Liebe deinen nächsten wie dich selbst, denn ihr seid beide Würdenträger. Einen anderen Menschen in seiner Würde zu verletzen, ihn zu degradieren, wird somit in gewissem Sinne zur Blasphemie.

Wie gut die Befolgung jener Güte und Gnade, jener würdewolle Umgang mit anderen Menschen geklappt hat, steht freilich auf einem anderen Blatt. Unzählige Konfessionskriege, Unterdrückung, Folter, Inquisition, die Unterstützung von Sklaverei und Leibeigenschaft und vieles mehr – die Würde des Menschen war auch in christlichen Kreisen ziemlich antastbar zwischen all den Machtkämpfen und Ideologien. Die Würde hat es schwer in hierarchisch organisierten Strukturen. Wenn einer oben steht und einer unten, dann ist die Würde kein entscheidender Wert. Dann werden Menschen zu Opfern, zu entwürdigten Opfern. Insbesondere die katholische Kirche hat bis heute mit diesem Problem zu kämpfen.

Aber zurück zu unserer kleinen Geschichte der Würde. In der Neuzeit, nach dem Ende des Mittelalters, erleben wir die paradoxe Parallelität von Kolonialismus und Aufklärung. Man entriss Millionen Menschen aus Afrika mit blutiger Gewalt ihren Familien und Lebenswelten und machte sie zu Sklaven in der neuen Welt, während weiße Europäer überlegten, wie einzigartig der Mensch doch in seiner Fähigkeit ist, moralisch zu handeln, das Richtige zu tun, sich selbst Ziele zu setzen und als autonomer Akteur sein Leben in Freiheit zu verbringen. Wir sind wieder bei Immanuel Kant und seinen damals sehr beliebten Abhandlungen über die vier Menschenrassen. Okay, die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber wie ist das, wenn ein Mensch nun mehr Mensch ist als ein anderer Mensch. Schon damals funktionierte die Umgehung der Menschenwürde mit einem einfachen Trick. Man degradierte andere Menschen zu niederen Wesen. So sind alle Menschen gleich, wenn sie weiße Menschen sind. Die Unterteilung in Menschenrassen ermöglicht eine Differenzierung von Menschenwürde. Wenn es verschiedene Gruppen gibt, mit unterschiedlichen Fähigkeiten hinsichtlich ihrer Autonomie und einer anderen, vielleicht weniger ausgeprägten Vernunftbegabung, dann kann man für diese unterschiedlichen Menschen auch unterschiedliche Stufen des Respekts einführen. Ein Wiederschein des Würdeverständnisses antiker Standesgesellschaften, mit dem Unterschied, dass ein Aufstieg in Sachen Würde nun nicht nur unrealistisch, sondern auch biologisch unmöglich ist. Die Aufteilung in Menschenrassen und andere Formen der Entmenschlichung sind immer wieder probates Mittel totalitärer Herrscher und Systeme, um die Macht zu zementieren und die Menschenwürde vollständig zu ignorieren.

„Ich kann diesen Menschen nicht töten, er ist doch ein Mensch.“

„Ach, das ist doch kein Mensch, das ist nur ein Protestant, Katholik, Schwarzer, Jude, Moslem, Schwuler… „

Wir sind in der Gegenwart. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Noch heute mehr eine Wunschvorstellung als Realität. Nach dem Holocaust hat man diesem Satz wohlüberlegt im Grundgesetz einen Begleiter zur Seite gestellt. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Diese Satz nimmt den Staat mit in die Verantwortung, sich dem Schutz der Menschenwürde auch rechtlich bindend anzunehmen und alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Entmenschlichungen zu verhindern. So gewährleistet er zumindest auf dem Papier ein Leben in Würde für alle Bürger*innen. Der Begriff der Würde steht ganz gerne mal wichtig auf Papier. Er ist beispielsweise auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen.“

Klingt alles einleuchtend und einfach. Aber definiere Würde. Was sind in Deutschland beispielsweise würdevolle Lebensverhältnisse? Schon sehr oft ist diese Fragen auch vor Gerichten erörtert worden. Im April 2017 wollte beispielweise eine Bezieherin von Sozialleistungen per Eilantrag und mit Verweis auf eine Verletzung der Menschenwürde ein passendes Fernsehgerät als Erstausstattung für ihre Wohnung erhalten, damit so die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben gewährleistet sei. Das Gericht lehnte ihren Antrag ab. Und schon viele Gerichte haben ähnliche Anträge abgelehnt. Mit der Begründung, dass die Würde eher dem Schutz vor etwas diene, aber nicht so sehr ein Recht auf etwas Materielles begründe. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht hier auch schon andere Worte gefunden, zum Beispiel diese: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“

Gut so. Wir sind ein Sozialstaat. Wir schützen und unterstützen alle, die geschützt werden müssen. Weil wir ihr Recht anerkennen, in Würde zu leben. Das ist die Verabredung, die wir mit unserem Sozialstaat getroffen haben. Wir können ein bisschen darüber diskutieren, wie groß diese Unterstützung ausfallen muss und kann, aber von unserem Grundsatz sollten wie uns nicht verabschieden. Denn mit der Würde für alle fällt immer auch die Freiheit. Daran sollten wir uns im Hinblick auf die zunehmende Ausbreitung totalitärer Staaten und Systeme und der Beliebtheit totalitärer und faschistischer Ideen auch bei uns immer wieder erinnern. Die Würde ist ein wichtiger Baustein eines universalen Humanismus. Ein Mittel im Kampf gegen einen Kollektivismus, der bereits ist, das Individuum zum Zwecke der Mehrheit zu opfern und der seiner Bevölkerung nicht vertraut. Die Würde ist der Schutz des einzelnen vor staatlichen Eingriffen und Grundlage für ein freies selbstbestimmtes Leben.

Alles schön? Nein. Denn wenn wir uns in Deutschland Würde zugestehen, dann müssen wir folgerichtig allen anderen Menschen ebenfalls Würde zugestehen. Davon sind wir aber leider weit entfernt. Wenn wird weiter den Eindruck vermitteln, dass die Würde in erster Linie bei uns wichtig und schützenswert ist, eine feste Größe für Menschen im Westen, dann machen wir uns dauerhaft unglaubwürdig. Schon jetzt ernten wir nicht selten Hohn und Spott. Kein Wunder, wenn Menschen auch bei uns aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert werden. Wenn ein Menschenleben hier bei uns viel mehr Wert zu sein scheint als in vielen anderen Teilen der Welt. Kein Wunde, wenn Wasser gepredigt und Wein getrunken wird. Wenn die Umwelt weiter im großen Stil zerstört wird für unseren Lebensstandard und kein besonderer Wille zur Veränderung erkennbar ist. Wenn für Gold, Öl, Gas, Lithium und Kobalt ganze Länder destabilisiert werden. Wir müssen unser Handeln mit unseren Wertevorstellungen abgleichen. Die Würde ist weltweit ein Menschenrecht. Würde bildet die Grundlage für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Der Begriff der Würde verpflichtet uns, die Rechte und die Autonomie jedes Einzelnen zu respektieren. Er erinnert uns daran, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht, seiner Rasse oder seinen Überzeugungen einen inhärenten Wert besitzt. Die Anerkennung der Würde anderer Menschen ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer gerechten und humanen Gesellschaft. Und wenn jemand andere Menschen herabwürdigt, sollten wir wachsam werden.

Lak

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Stadtkinder essen: Tru Story

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Stadtkinder essen: Tru Story


Die Blumenauer Straße ist keine von Hannovers Schmuckstraßen. Es ist laut, man kann das Ihmezentrum in sämtlichen Stadien des Verfalls begutachten und es riecht nach Mensch und Abgasen. Allerdings, ganz am Anfang der Straße vom Schwarzen Bären kommend, findet sich ein hübsches, buntes und ungemein wohlriechendes Kleinod, nämlich das Tru Story.

Draußen einige hippe Palettenmöbel, drinnen petrolfarbene Wände, giftgrüne Cocktailsessel und asiatische Lampions, die von der im Industriechic belassenen Decke baumeln. Wir haben reserviert und auf der Tafel steht unser Name mit einem Herzchen dahinter. Schön!

Über einen QR-Code rufen wir die digitale Speisekarte auf – Donnerwetter! Da steht mehr drin, als wir vorher online ausgekundschaftet haben. Wir entscheiden uns für ein Tiger Bier (3,90€) und eine extrem leckere Limonade aus Yuzu-Zitrone (4,20€). Das sehr charmante Personal lacht uns nicht mal aus, als wir uns in der Aussprache der vietnamesischen Gerichte üben, wobei das auch am Anfang noch ganz einfach ist: Sommerrollen mit Garnelen (6,50€) und Gyozas (5,50€).
Von den Rollen gibt es gleich drei Stück. Sie sind schön fest gewickelt, so dass einem nicht gleich die Reisnudeln, das Gemüse, Thai-Basilikum, Minze und die Shrimps (an denen hier nicht gespart wurde) entgegen kommen. Dazu gibt es einen selbstgemachten Dip, der schön dickflüssig ist, so dass man reichlich davon auf die Sommerrollen verteilen kann. Sehr lecker und sehr frisch. Auch die Gyozas, die kunstvoll geformten und gebackenen Teigtaschen, überzeugen uns. Sie sind gefüllt mit einer Hähnchen-Gemüse-Masse, oben schön knusprig und unten weich, ohne matschig zu sein. Das war schon mal ein guter Anfang! Jetzt das Hauptgericht. Wir bestellen Bun Bo Lui und Bun Cha Gio (jeweils 14,90€). Dabei handelt es sich um lauwarme Reisnudelsalate, die uns im Vorfeld schon ans Herz gelegt wurden.

Bun Bo Lui kommt mit sehr zartem, kurz gebratenen Rindfleisch, erwähnten Reisnudeln, gemischten Blattsalaten, Sprossen, Karotten und Gurken, während sich auf auf dem Bun Cha Gio statt des Rindfleischs kleine gebackene Frühlingsrollen (ebenfalls mit Hähnchen-Gemüse-Füllung) und gehackte Erdnüsse finden. Das Dressing wird jeweils à part serviert, auf unseren Wunsch in mit frischen Chilis. Wir sind begeistert. Alles ist frisch und knackig, harmoniert super zusammen – das sind Wohlfühlgerichte per definitionem.

Wir sind fast ein bisschen traurig, dass der menschliche Magen nur eine begrenzte Kapazität hat, denn nach diesem Geschmackserlebnis sind wir gespannt, ob die Currys, besonders aber die eigenen Sushi- und Sashimikreationen genau so gut schmecken. Wir werden es wohl herausfinden müssen, indem wir wiederkommen und uns vielleicht dann auch durch die große Getränke- und Cocktailauswahl probieren. Ein Rat, den wir an dieser Stelle guten Gewissens geben können, denn mit diesem wohligen Gefühl im Bauch lässt sich sogar der Blumenauer Straße ein gewisser Charme abgewinnen.

Tru Story

Blumenauer Straße 3

30449 Hannover

www.tru-story.de

IH

Fotos: Gero Drnek

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