Herr Krach, Sie sind gar nicht der aus Berlin, das haben ja viele noch so abgespeichert aus dem Wahlkampf zum Regionspräsidenten, Sie sind vielmehr der aus Hannover. Auf welche Schule sind Sie gegangen …
Auf die Ricarda-Huch-Schule, direkt am Bonifatiusplatz in der List. Das war sehr praktisch, weil wir direkt neben der Schule gewohnt haben. Ich konnte losgehen, wenn es zum ersten Mal geklingelt hat. Früher gab es ja noch das erste Klingeln, im Klassenraum musste man dann erst beim zweiten Klingeln sein. Ich bin nie zu spät gekommen. Das war aus der Haustür raus und dann knapp hundert Meter links die Straße runter. Ich hatte auch vorher keinen langen Schulweg. Wenn ich aus meinem Zimmerfenster geguckt habe, war rechts die Comeniusschule, das war meine Grundschule. Und später war dort auch die Orientierungsstufe. Da gab es mit der Comeniusschule einen gemeinsamen Schulhof.
Was haben Ihre Eltern beruflich gemacht?
Mein Vater war Lehrer. Allerdings war er nicht an der Ricarda-Huch-Schule, sondern in Wunstorf am Hölty-Gymnasium. Das war uns ganz wichtig, Eltern und Kinder an einer Schule, das ist ja ein bisschen problematisch. Mein Vater hat dort sogar sein Referendariat gemacht. Ich weiß gar nicht, ob es so etwas heute noch gibt, dass man über vierzig Jahre an derselben Schule bleibt. Das Hölty-Gymnasium feiert im September 100-jähriges Jubiläum. Da freue ich mich drauf – weil ich eingeladen bin, um ein Grußwort zu halten. Und meine Mutter ist Psychotherapeutin. Sie hat ganz lange in der Odeonstraße gearbeitet bei der Drobs, der Drogenberatungsstelle. Sie hat dort angefangen, als die sich gegründet haben. Ich denke, dass ich deswegen beim Thema Drogen immer eine besondere Sensibilität hatte.
Waren Sie mal Klassensprecher in der Schule?
Ich glaube, in der Grundschule oder der Orientierungsstufe, das weiß ich aber nicht mehr so genau.
Ich frage, weil ich schon oft gehört habe, dass es bei Politikerinnen und Politikern so losgegangen ist – sozusagen mit dem Amt in der Schule.
Das war bei mir nicht so. Oft hat es ja auch mit den Eltern zu tun. Das war bei mir allerdings nicht der Fall. Mein Vater war früher – ihm ist es nicht so recht, wenn ich das erzähle, ich erzähle das aber trotzdem – bei der CDU und beim Ring Christlich-Demokratischer Studenten engagiert. Meine Eltern sind beide nie in der SPD gewesen und auch keine langjährigen SPD-Wähler. Bei meiner Wahl zum Regionspräsidenten haben sie aber SPD gewählt. Zumindest haben sie das gesagt (lacht). Vielleicht haben sie vorher auch schon mal heimlich SPD gewählt. Oder die Grünen … Fest steht jedenfalls, dass meine Parteizugehörigkeit nichts mit meinen Eltern zu tun hat. Aber wir haben uns natürlich zu Hause über Politik auseinandergesetzt. Mein Vater war ja auch Gemeinschaftskundelehrer – wir haben schon viel über Politik gesprochen.
Wann ging es los mit der Politik?
Angefangen hat das bei mir 1989 mit dem Fall der Mauer. Wir hatten viele Verwandte in der ehemaligen DDR und waren alle paar Wochen dort. Der Mauerfall war dann natürlich ein Riesenereignis. Die Familie konnte jetzt umgekehrt einfach zu uns kommen. Damals habe ich zum ersten Mal verstanden, dass Politik etwas bewegen kann. So richtig gepackt hat es mich mit der Wahl in Niedersachsen 1998 und Gerhard Schröder, und dann im gleichen Jahr mit der Bundestagswahl. In den Monaten dazwischen bin ich in die SPD eingetreten. Mir ist klar, dass das momentan nicht so gut ankommt, aber ja, ich bin wegen Gerhard Schröder in die SPD eingetreten. Dazu stehe ich. Ich finde auch, dass er ein sehr, sehr guter Bundeskanzler war. Ich habe die Art gemocht, wie er die Dinge angepackt hat. Seinen Pragmatismus. Und mich hat sein Wahlkampf beeindruckt. Auch die Themen der rot-grünen Bundesregierung haben mich damals abgeholt, mit vielen neuen gesellschaftspolitischen Ansätzen, die doppelte Staatsbürgerschaft, die Diskussion um den Atomausstieg. Ich habe nicht im Detail alles gut gefunden, aber es gab doch sehr viel, was sich mit meinen Ideen gedeckt hat.
Was hatten sie damals für Ideen?
Bei mir spielen die sozialen Aspekte eine große Rolle: Aufstieg durch Bildung, Bildungschancen, Bildungsgerechtigkeit. Ich hatte ja das Privileg, dass meine Eltern zumindest teilweise mein Studium finanzieren konnten. Ich habe nebenher immer gearbeitet, auch schon vor dem Studium. Aber ich hatte die Gewissheit, dass ich nicht auf mich allein gestellt war, sondern dass meine Eltern mich immer irgendwie unterstützen würden. Das haben ganz viele andere nicht. Soziale Gerechtigkeit, Bildungschancen und die Idee der Aufstiegsmöglichkeit und der Teilhabe durch Bildung haben mich immer interessiert. Das sind große Themen der SPD. BAföG ist ja auch eine sozialdemokratische Idee.
Das mit der Bildungsgerechtigkeit ist noch heute ein Problem.
Das ist so. Es gibt sehr viele Studien darüber, dass Akademiker*innenkinder mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit auf die Hochschule gehen als Arbeiter*innenkinder, die sehr viel mehr darum kämpfen müssen. Und ich bin mir sicher: Wären meine Eltern nicht Akademiker bzw. Akademikerin gewesen, dann wäre ich nicht aufs Gymnasium gekommen. Die Orientierungsstufe war bei mir kein Selbstläufer. Ich hatte auch auf dem Gymnasium in der siebten, achten und neunten Klasse wirklich schlechte Noten. Ich habe lieber Fußball und Tennis gespielt. Damals sind die Lehrer*innen auf meine Eltern zugegangen und haben gesagt, dass sie überlegen sollen, ob das Gymnasium wirklich das Richtige für mich ist oder ob ich nicht auf der Realschule besser aufgehoben wäre. Ich bin mir sicher, wenn meine Eltern nicht davon überzeugt gewesen wären, dass ich das schaffe und noch die Kurve kriege, dann hätte ich einen ganz anderen Bildungsweg eingeschlagen. Und ich glaube, dass viele Eltern mit einem anderen Bildungshintergrund dem Vorschlag der Lehrer*innen gefolgt wären und es nicht an den Bedürfnissen des Kindes ausgerichtet ist. Die sagen dann, okay, geht er auf eine Realschule, auf eine Hauptschule, das passt dann halt besser. Natürlich kann das auch der Fall sein, es muss nur unabhängig vom Hintergrund der Eltern passieren. Ich bin niemand der sagt, alle Kinder müssen Abitur machen und studieren, eine Berufliche Ausbildung bietet auch unglaublich viele Chancen – es muss aber auf das jeweilige Kind ankommen.
Bei mir hat ein bisschen Nachhilfe geholfen, und irgendwie habe ich am Ende doch Abitur gemacht. Ich habe gesehen, dass andere Kinder vom Gymnasium abgegangen sind, die mindestens so fähig waren wie ich. Das Thema hat mich auch während meines gesamten Studiums begleitet. Ich habe zuerst in der Sozialberatung gearbeitet und war dann im Studentenwerk aktiv. Die eigentlichen Probleme liegen aber viel früher. Allein durch BAföG löst man gar nichts.
Wir sortieren noch immer zu früh, oder wir lassen die gesellschaftlichen Verhältnisse sortieren, der Hintergrund der Eltern ist entscheidend, der soziale Status.
Bei uns entscheidet sich in der vierten Klasse, welche Richtung es nimmt. Geht es aufs Gymnasium, auf eine Gesamtschule, in andere Schulformen. Aus meiner Sicht ist das falsch. Ich bin ein großer Fan davon, dass die Kinder in einer Klasse möglichst lange zusammenbleiben und das nicht zu früh und im besten Falle gar nicht sortiert wird. Jedes Kind hat seine Zeit, manche früher, manche später. Meine Eltern sind bei meinen Zeugnissen ein paar Jahre lang fast verzweifelt. Ich habe mich eigentlich erst so richtig konzentriert zu Beginn der zwölften Klasse, als ich wusste, dass jede Note in meinen Abischnitt eingeht. Und damit entscheidet, was ich nach dem Abi studieren. Irgendwann fällt also der Groschen, früher oder später. Bei uns in Deutschland fällt die Entscheidung aber noch immer sehr früh.
Nach dem Abitur kam der Zivildienst …
Ja, beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Eine prägende Zeit.
Das ist spannend, oder? Die Nebenjobs und auch der Zivildienst sind ganz große Eckpfeiler in sehr vielen Biografien.
Das stimmt, man lernt eine Menge. Ich habe im Sommer nach dem Abi auf der Expo gearbeitet, habe gezapft im ungarischen Pavillon, das war anstrengend und hat Spaß gemacht. Beim Paritätischen Wohlfahrtsverband habe ich dann acht Wochen individuelle Schwerstbehindertenbetreuung gemacht, das war eine sehr bewegende Phase für mich. Danach habe ich Essen auf Rädern ausgefahren, da sieht man natürlich auch eine Menge und bekommt Einblicke. Und wir hatten so eine Art Verbandszeitung für den Paritätischen Wohlfahrtsverband Hameln-Pyrmont, die habe ich nebenbei auch noch begleitet. In dem Rahmen war ich übrigens das erste und einzige Mal in Russland, rund zwanzig Jahre ist das her. Ich war damals an der ukrainischen Grenze nahe Tschernobyl. Die Gebiete, die nun täglich in den Nachrichten sind. Wir haben dort Kinderkrankenhäuser besucht. Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ereignete sich 1986. Wir waren dort 15 Jahre später, und es gab noch immer unglaublich viele Kinder mit Folgeschäden. Ganz furchtbar. Wenn man das gesehen hat, denkt man anders über Atomkraft und Laufzeitverlängerungen nach. Die Reise war für mich eine wirklich prägende Erfahrung. Und ich habe den Atomausstieg sehr begrüßt. So wie ich viele andere rot-grüne Projekte begrüßt habe. Ich bin ein Stück weit mit Rot-Grün aufgewachsen und ich bin auch heute noch der Meinung, dass man rot-grüneRegierungen bilden sollte, wenn die Mehrheitsverhältnisse das hergeben.
Dann folgte das Studium in Göttingen. Und da ging es auch schon los mit der Politik, oder?
Genau, nach dem Zivildienst in Hameln war ich zunächst zwei Jahre in Göttingen. Ich habe mich in der SPD-Hochschulgruppen engagiert und im AStA und habe dort soziale Beratung gemacht. Hauptsächlich ging es um die Finanzierung des Studiums, also um BAföG und Studienkredite und Fragen zum Wohngeld. Nach zwei Jahren bin ich nach Berlin gezogen. Nicht falsch verstehen, Göttingen war super. Zum Studienstart in eine kleinere Stadt zu gehen, das kann ich wirklich sehr empfehlen. In Göttingen ist der Campus direkt mitten in der Stadt. Zu Fuß waren das von mir fünf Minuten. Es ist alles ein bisschen direkter und persönlicher, man kommt schnell in Kontakt, lernt schnell Leute kennen. Direkt nach Berlin zu gehen, das stelle ich mir deutlich schwieriger vor. Dort ist alles größer und anonymer. Ich war in Berlin auch lange nicht so oft an der Uni wie in Göttingen.
Und dann ging es direkt in die Landesvertretung Rheinland-Pfalz?
Ich habe im Dezember 2005 meinen Abschluss in Berlin gemacht und hatte dann tatsächlich meinen allerersten Job in der Landesvertretung Rheinland-Pfalz, in den Ministergärten in Berlin, da residieren viele Landesvertretungen. Alle Minister*innen haben in den Landesvertretungen Referent*innen, die sich auf Bundeseben umsehen, über Gesetzgebungsverfahren informieren und zuarbeiten. Ich war also in diversen Arbeitsgruppen unterwegs und habe über die relevanten Entwicklungen nach Mainz berichtet.
Und so haben Sie den politischen Betrieb kennengelernt.
Ja, das war eine sehr schöne Zeit. Nicht nur wegen der politischen Arbeit. Die Landesvertretungen sind in der Nähe des Brandenburger Tors und damals im Sommer war die Fußball-WM in Deutschland. Die Fanmeile war in unmittelbarer Nähe des Büros. Ich bin auf die Straße und war direkt mittendrin. Ich habe diesen ersten Job sieben Monate gemacht, dann ist mein damaliger Chef Senator in Berlin geworden und hat mich gefragt, ob ich mit ihm in die Berliner Senatsverwaltung gehe. Weil ich ihn sehr geschätzt habe – und immer noch schätze – , war das für mich keine Frage. Trotzdem hätte ich auch den alten Job gerne länger gemacht: Er war überaus spannend, interessant und fordernd, gleichzeitig hatte ich viele Freiheiten.
Der Vorwurf bei so einer Karriere, vom Studium direkt rein ins politische Leben, mit dem Parteibuch in der Hand, ist ja immer, dass die Erfahrung fehlt. Noch nie richtig gearbeitet, und dann plötzlich ganz viel Verantwortung … Das haben Sie wahrscheinlich schon oft gehört?
Ja, das kenne ich tatsächlich. Und dann mit dem Zusatz „immer vom Staat gelebt“. Und es stimmt: Meine Jobs waren bisher alle öffentlich finanziert. Aber erstens frage ich mich, warum das keine „richtige“ Arbeit sein soll. Und zweitens bin ich nicht – und ich glaube, das ist durchaus hilfreich – sofort in einen Landtag oder einen Bundestag gewählt worden. Ich habe zunächst für andere Politiker*innen gearbeitet, aber nicht selbst Politik gemacht. Ich war einfach Mitarbeiter, sieben Monate persönlicher Referent, dann Büroleiter. Ich habe bis 2014 nicht selbst hauptamtlich politisch gewirkt, sondern ehrenamtlich in meiner Freizeit in der SPD.
Was hinter diesem Vorwurf steht, ist ja, dass man allein aus Karrieregründen in die Politik geht und im Grunde gar keine Überzeugungen und Ideen vorhanden sind, keine Visionen. Das erste Interesse ist das eigene Vorankommen. Was sagen Sie, wenn man Ihnen das vorwirft?
Dass das auf mich sicherlich nicht zutrifft. Mir ging es immer um Überzeugungen und Ideen, und das war für mich auch der Grund, in die Politik zu gehen. Das hat sich auch nicht geändert, und ich denke, das wissen die Menschen nach den neun Monaten, die ich jetzt im Amt bin.
Der Vorwurf kam ja immer wieder im Regionswahlkampf.
Ja, und das ist auch okay. Wenn jemand sagt, du bist nach dem Studium direkt in die Politik gegangen, hast nur in diesem Bereich gearbeitet und keine Erfahrungen beispielsweise in Unternehmen gesammelt, dann sage ich: stimmt. Das ist ja einfach Fakt. Ich war auch nie selbstständig. Aber Politik ist ebenfalls kein leichter Job. Da startet man nicht einfach so und kann sofort alles. Das ist anstrengend, teilweise nervenaufreibend, teilweise desillusionierend, mühsam. Politik ist schon eine enorme Herausforderung. Und man hält das Tempo und die enorme Arbeitsbelastung nur durch, wenn man für seine Ideale brennt und wirklich etwas verändern möchte. Man muss seine Ideen kontinuierlich vorantreiben, dranbleiben, fokussiert sein. Man darf nicht beliebig zwischen irgendwelchen Vorstellungen hin und her springen, sein Fähnchen in den Wind hängen. Es braucht eine gewisse Verlässlichkeit und auch Rückgrat. Nur so bekommt man im Gegenzug das notwendige Vertrauen. Das alles geht nicht ohne Überzeugungen. Ich bin mir sicher, wer keine echten Überzeugungen hat, wird nicht gewählt. Oder jedenfalls nicht wiedergewählt.
Aber die Überzeugungen schleifen sich schon ab im Laufe der Zeit, oder? Die Bürokratie hinterlässt ihre Spuren.
Da müssten Sie vielleicht jemanden fragen, der noch viel länger dabei ist. Bei mir sind jedenfalls noch alle Überzeugungen vorhanden. Natürlich würde ich mir viele Abläufe anders wünschen, schneller, das macht mich manchmal ungeduldig. Mich ärgert es ungemein, dass wir deutlich zu langsam neue Windkraftanlage in der Region bauen. Und ich hätte auch schon längst gerne das 365-Euro-Ticket für alle eingeführt. Für die Ehrenamtlichen kommt das Ticket nun am 1. September 2022, wir arbeiten uns nun Stück für Stück vor. Ich möchte meine Ideen umsetzen, etwas bewegen und verbessern. In welche Richtung das gehen muss, sehen wir ja sehr klar: Wir müssen einerseits das Soziale, den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Blick haben und uns andererseits der Energiewende widmen. Beides zusammen im Einklang. Gerade beim Thema Energie sind in der Vergangenheit sehr viele bürokratische Hürden eingezogen worden. Das müssen wir jetzt pragmatisch angehen. Und dabei unbedingt ehrlich sein: Die Energiewende wird nicht ohne eine gemeinsame Kraftanstrengung gehen und sie wird Zeit in Anspruch nehmen, das schaffen wir nicht von heute auf morgen. Das müssen wir klar und ehrlich kommunizieren und immer wieder erklären, auch wenn wir zum x-ten Mal gefragt werden. Nur so schaffen wir das nötige Vertrauen, das es braucht. Die Leute müssen und dürfen wissen, was passiert oder warum etwas nicht passiert. Transparenz ist da für mich ein wichtiges Stichwort. Und Ehrlichkeit – auch wenn das manchmal schwierig ist. Wenn Sie mich in der aktuellen Situation nach meinen Gründen für den Eintritt in die SPD fragen, und ich nenne Gerhard Schröder, dann bekomme ich natürlich skeptische Blicke. Für den Moment würde ich mehr punkten, wenn ich Willy Brandt oder Helmuth Schmidt nenne. Es wäre vielleicht populär, aber es wäre unehrlich, und das geht nicht. Also: Klar und transparent kommunizieren, gerne auch immer wieder und nicht dichtmachen. Geduldig bleiben, auch wenn eine Frage schon tausendmal gestellt worden ist. Diese offene und transparente Kommunikation, das Erklären, ist ein Anspruch, dem die aktuelle Bundesregierung aus meiner Sicht noch zu wenig Gewicht beimisst. Das muss besser werden, um mehr Vertrauen zu schaffen. Kommunikation ist aus meiner Sicht ein wichtiger Schlüssel. Und man sollte natürlich nicht täglich die Standpunkte wechseln. Das geht nicht, das ist Populismus und führt zu nichts.
Was ich ganz oft erlebe, wenn ich mit Politikerinnen und Politikern auf unterschiedlichsten Ebenen spreche, das ist so eine Verteidigungshaltung. Warum sind Sie in die Politik gegangen? Die Antworten darauf klingen oft wie Entschuldigungen. Dabei lebt unsere Demokratie von allen, die sich das antun. Mir fehlen so ein bisschen die klare Kante und die Selbstverständlichkeit. Natürlich will ich Verantwortung, natürlich habe ich eine Meinung und eine Haltung, natürlich will ich gestalten und verändern und natürlich glaube ich von mir selbst, dass ich etwas bewegen kann. Viele sind mir zu vorsichtig und eiern rum, wahrscheinlich aus Angst vor den üblichen Unterstellungen: Geld, Macht, Profilneurose. Ich würde mir da mehr Angriffsmodus wünschen, mehr positives Selbstverständnis, mehr Selbstvertrauen. Denn was wäre unsere Demokratie ohne all die Leute, die sich beispielsweise in der Kommunalpolitik engagieren? Die beispielsweise dafür sorgen, dass irgendwo ein neuer Sportplatz gebaut wird. Ich habe davor maximalen Respekt. Wer sich in den demokratischen Parteien engagiert, darf ruhig ein bisschen stolz auf seine Arbeit sein und das auch nach außen tragen. So, ich bin fertig mit meinem Plädoyer für politisches Engagement. Sie sind dran …
Mir macht Politik Spass und ich kann auch mit ordentlichem Gegenwind zurechtkommen. Jedoch stellen wir in letzter Zeit fest, dass viele Mandatsträgerinnen und Mandatsträger nicht nur Gegenwind bekommen, sondern Hass und Hetze. Gerade auch in der Kommunalpolitik. Ich würde mich freuen, wenn die Öffentlichkeit den Blick auf die Politikerinnen und Politiker richten würde, die trotzdem tagtäglich für unsere Demokratie arbeiten. Insgesamt ist die Arbeit als Politiker ein extrem harter und herausfordernder Job.
Der Terminkalender läuft über …
Der Terminkalender ist anspruchsvoll, das stimmt. Ich habe nicht allein im politischen Bereich und in der Verwaltung Termine. Hinzu kommen noch repräsentative Termine, so etwas wie der Schützenausmarsch, das war sehr beeindruckend, oder der Besuch der Ideenexpo, auch eine sensationelle Veranstaltung. Auch der Wahlkampf war nicht ohne. Das war ja mein allererster Wahlkampf in eigener Sache, vorher habe ich nur Wahlkampf für andere gemacht. Eine völlig andere Situation, sehr herausfordernd. Wenn man unter Beweis stellen will, dass man eine Agenda hat, dass man Ideen mitbringt, die man umsetzen will, dann muss man im richtigen Moment immer die richtigen Worte finden.
Wenn Sie eben über den oft schlechten Ruf von Politiker*innen gesprochen haben, dann liegt das aus meiner Sicht übrigens daran, dass es ja durchaus Einzelfälle gibt, die das Klischee von Macht, Geld und Profilneurose erfüllen, insbesondere auch in einigen anderen Ländern. Und solche Negativbeispiele dominieren dann die Nachrichten. Was aber tatsächlich geleistet wird, von vielen anderen, die es ernst meinen und die gestalten wollen, das bleibt dabei auf der Strecke. Man muss sich klar machen: Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten sehr stabil regiert worden, das liegt auch an den funktionierenden Strukturen. Diese Stabilität ist keine Selbstverständlichkeit, das sehen wir momentan zum Beispiel in England. Wir hatten und haben auf verschiedensten Ebenen, ob im Kommunalbereich, auf Landesebene oder eben auf Bundesebene, eine sehr große Stabilität. Das prägt auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, der aus meiner Sicht noch immer groß ist. Und darum gebe ich Ihnen gerne recht, wir könnten ruhig ein bisschen selbstbewusster sein. Übrigens ruhig auch in größeren Zusammenhängen: Unsere Demokratie ist ein Erfolgsmodell. Das müssen wir kommunizieren. Und ich stelle darum auch sehr offen dar, wie meine Tage aussehen. Ich versuche viel zu zeigen und viel zu erklären, Social Media ist dafür ein gutes Werkzeug.
Wo wir gerade beim Erklären sind, was genau ist eigentlich die Region Hannover? Können Sie mir das in ein paar Sätzen erklären?
Das ist eine Frage, die mir an den Wahlkampfständen immer wieder begegnet ist. Und die Region ist tatsächlich erklärungsbedürftig. Mit der Region Hannover hat man eine Großstadt und 20 Umlandkommunen in sehr zentralen Aufgabenfeldern zusammengebracht: Mobilität, Gesundheitsversorgung, Klimaschutz, Beschäftigungsförderung, Tourismus – viele Bereiche, in denen man gemeinsam mehr erreichen kann. Das ist die Idee, dass man den Lebensraum gemeinsam besser gestalten kann als jede Kommune für sich. In der konkreten Umsetzung ist das natürlich eine enorme Herausforderung, weil die 21 Kommunen teilweise ganz eigene Akzente setzen möchten und unterschiedliche Problemlagen haben. Ich habe regelmäßig meine Runden mit den 21 Bürgermeister*innen, da geht es manchmal hoch her, aber am Ende steht das Gemeinsame.
Was sind Ihre Ideen für die Region?
Ich denke, zuallererst sollten wir uns auf die Kernbereiche konzentrieren, für die wir tatsächlich zuständig sind. Mobilität ist für mich ein zentrales Thema. Und ich möchte, dass wir in puncto öffentlicher Nahverkehr und Verkehrsinfrastruktur zu einem Vorbild für andere Regionen werden. Wir müssen Umland und Großstadt zusammen denken, wie müssen Verkehrspolitik für Hannover, aber eben auch gleichermaßen für Uetze, Neustadt, Springe, Wedemark usw. machen. Das geht über die Anbindung und eine kluge Taktung. Für mich ist außerdem das 365-Euro-Ticket zentral. Aber unsere Zukunftsvisionen müssen über den öffentlichen Nahverkehr hinausgehen. Ich fordere nicht, dass morgen alle Autos weg sind. Aber klar ist auch, dass es deutlich zu viele Autos gibt. Dazu muss man sich nur die Straßen ansehen. Das gilt übrigens nicht nur für Hannover, sondern bundesweit. Das Auto nimmt im Vergleich zu Fußgänger*innen, Fahrradfahrer*innen oder eben auch zum öffentlichen Nahverkehr deutlich zu viel Platz ein. Das zweite große Thema ist die Gesundheitsversorgung. Das wird durch die alternde Gesellschaft und durch den Wegfall von Fachkräften in den kommenden Jahren eine immer größere Herausforderung werden. Wir brauchen eine wohnortnahe und qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung. Da spielt auch der Bereich Digitalisierung eine große Rolle, eine kluge Vernetzung. Wir werden in der Region Hannover nicht überall Krankenhaus-Standorte haben können. Aber wir wollen den Leuten die Sicherheit bieten, dass sie schnell und gut behandelt und versorgt werden, vor allem bei Notfällen. Wir werden darum jetzt für das Klinikum Region Hannover eine Medizinstrategie 2030 mit den unterschiedlichen Akteur*innen entwickeln, die all diese Aspekte berücksichtigt.
Die Familienfreundlichkeit ist ein weiteres großes Thema, das mit den beiden anderen Themen eng verknüpft ist.
Familienfreundlichkeit ist eine zentrale Überschrift, extrem wichtig für unsere Region. Wir wachsen, es kommen mehr Leute, das heißt, wir müssen kontinuierlich für Kita- und Schulplätze sorgen, wir müssen die Sportvereine fördern, auch die Kultur unterstützen. Ausreichend Wohnraum und Naherholung gehört zu Familienfreundlichkeit ebenso wie Digitalisierung der Verwaltung, mit dem Ziel, noch bürgerfreundlicher zu werden. Wenn wir im Wettbewerb um die Fachkräfte bestehen wollen, sind all diese Punkte essenziell. Familien müssen sich bei uns in der Region wohlfühlen, sie müssen gerne hier leben. Das Umfeld muss passen.
Mit dem Image hat vor allem Hannover aber nach wie vor zu kämpfen.
Das Image ist ein Thema. Da müssen wir besser werden und unsere Vorzüge deutlicher herausstellen. Wir haben sehr viele Pluspunkte, sehr viel Grün, sehr viel Kultur. Wir haben ein vergleichsweise starkes Niveau und müssen uns vor anderen Städten nicht verstecken.
Welche Bereiche sind Ihnen außerdem wichtig?
Ein Fokus liegt noch auf dem Klimaschutz. Die Region sollte Vorreiter werden in Sachen Windkraft. Da müssen wir jetzt richtig Fahrt aufnehmen. Das gilt auch für die Solaranlagen. Wir brauchen viel mehr Ausbau der Solarenergie auf unseren öffentlichen, aber auch auf privaten Dächern. Da ist noch viel zu wenig passiert. Aber es gibt gute Ideen. Zum Beispiel will enercity Flächen pachten, um sie für Solaranlagen zu nutzen. Ich halte das für einen guten Weg. Stellen Sie sich vor, was allein zusammenkommt, wenn wir die Dächer von allen öffentlichen Gebäuden nutzen. Daran sollten wir arbeiten.
Wie entwickeln Sie neue Ideen? Mit wem sitzen Sie zusammen, wenn es um den Blick in die Zukunft geht? Gibt es einen runden Tisch, eine Art Think-Tank? Wo auch einfach mal gemeinsam gesponnen wird. Oder fehlt dafür schlicht die Zeit?
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es das noch nicht, aber ich wünsche mir das. Ich hatte bei meinem vorherigen Job in Berlin immer einen Kreis, mit dem ich auch mal abends zusammengesessen und über verschiedenste Ideen geredet habe. Das war sehr konstruktiv. Bisher bin ich leider noch nicht dazu gekommen, das auch für die Region einzurichten. In den ersten Monaten gab es dafür einfach zu viel Krisenmanagement: Erst Corona, dann die Unterbring der Geflüchteten aus der Ukraine, nun die Energiekrise. Ich hoffe sehr, dass wir in einen normaleren Arbeitsmodus kommen, um uns dann auch den mittel- und langfristigen Herausforderungen stärker widmen zu können. Die Gefahr ist ja immer, dass man sich im Klein-Klein verliert. Ich bekomme schon jetzt sehr viele gute Ideen und Impulse in meinen Gesprächen mit den Dezernent*innen, es wird ja viel in den Fachbereichen entwickelt. Trotzdem, das ist alles noch zu kurz gekommen in meinen ersten Monaten.
Wie muss ich mir das vorstellen, gerät man gleich in so eine Tretmühle?
Ich habe am 1. November angefangen und am 2. November hat Jens Spahn gesagt, dass wir jetzt wieder große Impfzentren brauchen. Die hatten wir gerade vier Wochen zuvor geschlossen. So ging es los. Und dann haben wir in einem relativ hohen Tempo Impfteams aufgebaut. Vielleicht war das Tempo zu hoch, wir hatten ja bekanntlich Pannen. Darüber habe ich im Nachgang sehr viel nachgedacht. Es langsamer anzugehen, ist aber leicht gesagt, wenn der Druck – auch der mediale Druck – einfach da ist. Das soll keine Entschuldigung sein. Die Pannen hätten trotz des Tempos nicht passieren dürfen, das war großer Mist, und wir können froh sein, dass niemand ernsthaft Schaden genommen hat.
Man versucht pragmatisch zu sein, versucht Tempo zu machen, und dann passiert so etwas – führt das nicht automatisch zu mehr Vorsicht, im schlimmsten Fall zu mehr Zögerlichkeit.
Angst vor Entscheidungen sollte man nicht haben. Entscheidungen zu treffen, gehört zum Job des Regionspräsidenten dazu. Man muss Entscheidungen gut überlegen. Aber auch wenn mal etwas schief geht, sollte das nicht zu Zögerlichkeiten führen. Man braucht den Mut dafür. Es gibt durchaus viele Bereiche, in denen wir pragmatischer und mutiger werden müssen und ein höheres Tempo brauchen. Wir können auch mal neue Wege gehen in der Verwaltung. Ich glaube, unsere Schwimmoffensive ist dafür ein schönes Beispiel. Wir hatten keine direkte Zuständigkeit dafür, konnten aber alle Akteure für ein gemeinsames Engagement gewinnen. Das hat ein bisschen Überzeugungsarbeit gekostet und natürlich haben wir noch nicht alle Kinder erreicht. Aber wir haben für das Thema neu sensibilisiert und bereits über tausend Kinder in die Schwimmkurse gebracht. Das ist ein tolles Zwischenergebnis. Das war ein bisschen außer der Reihe, aber das war eine gute Sache. Und es hat gezeigt, dass wir in der Verwaltung durchaus flexibel sein können. Ich denke, dass die Struktur in der Verwaltung, wie wir sie weiterentwickeln und digitalisieren, sehr zentral und wichtig sein wird für die nächsten Jahre.
Kurz zum Schluss, wo steht die Region in zehn Jahren?
Ich hoffe, dass wir die meisten Ideen dann längst umgesetzt haben und die Region attraktiv bleibt für viele Menschen. Und dass wir damit auch bundesweit endlich ein ganz anderes Image bekommen, das näher an der Realität ist. Denn es ist ja schon jetzt so, dass man hier wunderbar leben kann, wir haben sehr viel Natur, ein tolles Kulturangebot, viele Sportmöglichkeiten, auch gute Unternehmen, gute Jobs. Wir müssen uns überhaupt nicht verstecken. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen, die hier leben, sich künftig noch viel mehr als Botschafter*innen sehen und ein bisschen mehr in die Welt tragen, welche Qualitäten unsere Region bietet.
Interview: Lars Kompa