Vera Brand und Corinna Weiler
Diesen Monat haben wir mit den Freundeskreis-Mitgliedern Vera Brand vom Kulturraum Region Hannover e.V. und Corinna Weiler vom Andersraum e.V. gesprochen: über Diskriminierung sowie über Repräsentanz und Empowerment marginalisierter Gruppen, über Gegenwind sowie über Möglichkeiten der Aufklärung …
Stellt euch doch beide einmal vor.
VB – Ich bin Vera Brand und Vorsitzende vom Kulturraum Region Hannover e.V., ein ehrenamtlicher Verein. In der Reihe Kulturperlen stellen wir die Vielfalt der Kultur in den 21 Städten der Region vor.
Wir rücken deren kulturelle Highlights ins rechte Licht: etwa bei Ausstellungen in der Kröpcke Uhr, die der Künstler Joy Lohmann, 2. Vorsitzender unseres Vereins, kuratiert.
Wir vom Vorstand, vom Kulturraum, kommen aus unterschiedlichen Bereichen. Ich selbst als Kulturveranstalterin, eine Kunsthistorikerin, einer war im Marketing tätig. Es ist also eine bunte Mischung an Leuten, die das organisieren, und wir nehmen dann Kontakt mit den Verantwortlichen der Orte auf, besichtigen mit Kulturinteressent*innen verschiedene kulturelle Kleinode, so als Schnupperkennenlernen: auch mit den Künstler*innen in Ateliers und in Kirchen mit Konzerten … ganz unterschiedliche Dinge.
CW – Ich bin Cora Weiler, mein Pronomen ist sie. Ich sage Pronomen immer dazu, weil man ja nicht von sich aus wissen kann, mit welchem Pronomen eine Person angesprochen werden will. Und ich arbeite im Andersraum. Der Andersraum hat vier Projekte. Das Queere Zentrum in der Nordstadt, wo sich Gruppen treffen, wo Veranstaltungen und Beratung stattfinden. Angedockt daran ist ein Gesundheitsprojekt, in dessen Rahmen medizinische Fachkräfte zu queeren Themen fortgebildet und queere Menschen empowert werden, um ihre Rechte im Gesundheitssystem besser zu kennen. Dann das Queere Jugendzentrum mit Gruppen, einem offenen Café, Ferienfreizeiten, Workshops, Beratungetc. Dann haben wir das Schlau-Projekt: ein Bildungs- und Aufklärungsprojekt, wo peer-to-peer queere Jugendliche in die Schule gehen und dort über diese Themen sprechen. Das vierte Projekt ist der Christopher Street Day.
VB – Da ist ja auch der Freundeskreis sehr dabei.
CW – Genau, und es gibt inzwischen 28.000 Besucher*innen, hier am Opernplatz. Und eben CSD-Kulturtage übers Jahr verteilt, mit einzelnen Veranstaltungen. Das ist das Spektrum. Wir haben als Vision „Damit du sein kannst, wie du bist.“ Das klingt so unschuldig, ist aber ganz schön radikal und groß. Wir wollen, dass jeder Mensch frei und selbstbestimmt leben kann – egal wie er sich sozialstrukturell positioniert. Und da sind wir noch weit von weg, wenn wir uns anschauen, was es an Diskriminierung vielfältigster Art gibt. Wenn wir etwas veranstalten, gucken wir, ob das auf dieses Wirkungsziel Freiheit und Selbstbestimmung einzahlt: Das ist quasi die Grundüberlegung.
Wie weit sind wir denn von dieser Vision entfernt? Es scheint zwar viel Empowerment, viele Plädoyers für Queerness zu geben, aber auch Gegenwind, der anwächst.
CW – Die Wahrnehmung teile ich persönlich. Sie lässt sich auch durch Studien untermalen. Kürzlich gab es eine Fachtagung, die die Landeshauptstadt organisiert hat, wo Prof. Dr. Dominic Frohn aktuelle Studien zur Queerfeindlichkeit auch intersektional vorgestellt hat und sagen konnte, dass zum einen die Akzeptanz gestiegen ist … Aber die Diskriminierungserfahrungen sind – statistisch erwiesen – immer noch genauso hoch. Das ist also ein paradoxer Doppelbefund. Und ein Drittel der Bevölkerung sagt etwa: „Ich finde es ekelhaft, wenn sich ein Männerpaar in der Öffentlichkeit küsst.“ Ein Drittel. Das hat natürlich reale gewaltvolle Auswirkungen in der Praxis. Das haben wir jetzt beim CSD gesehen, wo es queerfeindliche Angriffe gab, auch sexualisierte Übergriffe. Ich habe den Eindruck, dass die Verrohung, die wir auch in den Schulen bemerken, nicht zufällig ist. Es werden durch rechtsextreme Netzwerke und russische Einflussnahme in den sozialen Medien gerade trans*Themen gezielt instrumentalisiert, um zu spalten und gegen eine Minderheit zu mobilisieren. Und wir sind wenige.
VB – Aber ich glaube ja, dass es wesentlich mehr sind, die sich nur nicht outen, die sich nicht trauen, zu ihrer Identität zu stehen. Ich habe im persönlichen Bereich, gerade bei Schauspieler*innen, viel derartiges erlebt. Vielleicht ist das jetzt heute auch ein bisschen anders, aber es war so. Oder gehen wir mal in diesen Bereich der Fußballer. Jeder weiß, wie viele Fußballer auch in den oberen Kategorien, nicht heterosexuell sind. Und da mag keiner was sagen … Es ist wichtig, dass wirklich Aufklärung in die normalen Bereiche gebracht wird. Dass viel erzählt und berichtet wird. Ich bin auch bei Soroptimist International, hier im Club Hannover 2000, und wir haben neulich einen Abend gehabt, der so aufschlussreich war: Da waren Pia und Luzi, das sind zwei Trans-Männer, die kamen in ihrem Trans-Outfit und haben eine Präsentation abgehalten, auch darüber, wie für sie das Coming-out war. Die waren allen so sympathisch, dass auch die, die sonst keine Berührung damit hatten, das nachvollzogen haben. Aufklärung klingt vielleicht zu belehrend – aber ein Kennenlernen, dass die Menschen sich näher kommen, sich austauschen, miteinander zu tun haben: das ist wichtig.
CW – Genau. Wir teilen unsere Arbeit auf in Empowerment- und Antidiskriminierungsarbeit. Empowerment-Arbeit richtet sich an eine queere oder sonst wie marginalisierte Zielgruppe, sodass sie Stärkung bekommen. Und die Antidiskriminierungsarbeit, liebevoll auch Erklär-Bär-Arbeit genannt, richtet sich an eine Mainstream-Bevölkerung. Die Schulworkshops sind dafür das beste Beispiel: rund 100 Workshops pro Jahr bei 300 Anfragen. Und der CSD an sich, der ist ja auf eine Art auch beides. Was übrigens das Coming-out am Arbeitsplatz, speziell in der Kulturbranche, betrifft: Es gab ja vor wenigen Jahren Act-out als Kampagne, wo sich eben Schauspieler*innen konzertiert geoutet haben. Und ich war total erstaunt, weil ich dachte, die Branche wäre so offen … Ist sie aber eben nicht! Die sagen sich: „Wenn ich mich oute, werde ich nicht mehr für bestimmte Rollen besetzt.“ Das hat reale Auswirkungen auf eine Karriere.
VB – In Hannover sind wir ja, was das Schauspiel betrifft, wirklich weit. Eine große Offenheit. Schade, dass Sonja Anders jetzt nach Hamburg geht. Auch großartig die Leiterin vom jungen Schauspiel, Barbara Kantel: ebenfalls eine ganz Offene. Was da für Aufführungen sind! Die fördern wir zum Beispiel von den Soroptimistinnen. In Hannover scheinen wir da schon weit zu sein. Ich glaube, dass die Probleme im ländlichen Bereich doch noch größer sind. Welche Erfahrung hast du da?
CW – Also da müsste man jetzt die Einstellung sozialwissenschaftlich untersuchen, ob das so stimmt. Mir sind keine Studien bekannt, wo Stadt-Land-Unterschiede diesbezüglich verschieden erhoben worden wären. Fakt ist aber, dass eine größere Infrastruktur auf dem Land schwerer herzustellen ist. Es gibt da einfach weniger queere Menschen. Und ich glaube, für queere Menschen ist immer noch das erste Mal präsent, wo sie zum CSD oder in eine Gruppe gegangen sind und gemerkt haben: „Ich bin nicht die einzige queere Person, es gibt andere.“ Gerade für Jugendliche ist es wichtig, dass sie ein breites Spektrum an Rollenvorbildern haben; dass sie auf dem Land nicht nur die eine andere lesbische Frau als Orientierung haben, sondern eben ein Spektrum.
Bleiben wir kurz beim Coming-out. Der Begriff wird ja teils auch kritisiert, weil er impliziert, dass man vorher etwas verbergen würde …
CW – Naja, es ja ein inneres und äußeres Coming-out. Das innere Coming-out wäre: Ich werde mir meiner Selbst, meiner Identität bewusst. Das kann sich auch noch ändern … für alle von uns. Das ist ja oft der langwierige Prozess. Wenn der durchlaufen ist, ist die Frage: „Zeige ich mich nach außen?“ Die Annahme ist ja in der Regel, dass ich cis-geschlechtlich und heterosexuell bin. Das wird ja auf mich projiziert. Das muss ich dann richtigstellen. Und das ist mein Coming-out.
VB – Und es ist auch so, dass jeder Mensch ja erstmal die Suche nach sich selber hat, ganz gleich, ob es ums Geschlecht oder andere Dinge geht. Man muss sich ja im Leben erstmal finden und selber annehmen, wie man ist – auch im heterosexuellen Bereich. Sich selber sagen, wer man ist, wer man sein möchte und wie man sich nach außen zeigt: das ist ein Lernprozess, den man immer durchlaufen muss – ganz gleich, ob queer oder hetero.
CW – Total, individualpsychologisch auf jeden Fall. Zugleich ist der Unterschied in der marginalisierten Identität, dass es ja gesellschaftsstrukturelle Gewalt gibt, die eben Cis-Hetero-Menschen, wenn sie weiß sind und nicht jüdisch etc., nicht erleben. Queere Menschen werden gesetzlich benachteiligt. Und wenn ich eine Frau in dieser Gesellschaft bin, egal ob cis oder trans, werde ich mit höherer Wahrscheinlichkeit sexualisierte Gewalt erleben … erlebe Belästigung im öffentlichen Raum, habe die Pay Gap. Das sind handfeste, belegbare Diskriminierungen.
VB – Ich finde, da sind sogar Rückschritte zu sehen: dass Frauen sich viel häufiger nicht mehr so offen nach außen begeben oder ihre eigenen Meinungen vertreten. Corona hat das verstärkt, dass viele sich wieder mehr ins Heim zurückziehen. Ich meine, ich komme ja aus dieser 68er-Generation: Das war schon eine Befreiungszeit und das hat sich wieder so gewandelt; eine wirklich beängstigende Entwicklung.
Was die Rückschritte betrifft: Einige sagen, es nerve sie … Gender, Queerness, Diskriminierung. Teils kommt der Vorwurf, dass sich Leute in einer Opferrolle suhlen würden. Gibt es diesen Nebeneffekt, dass mehr Sichtbarkeit, mehr Unterstützung in der Kultur zu solch einer Abwehrhaltung, einem Affront führt?
VB – Auf jeden Fall. Das gibt es aber in allen Bereichen: Wir hatten von Soroptimist letztes Jahr zu den Orange Days in der Kröpcke Uhr die Aktion Tabubruch zum Thema häusliche Gewalt mit der Künstlerin Kerstin Schulz, um den Frauen zu sagen: „Ihr müsst die Türen durchbrechen, ihr müsst rausgehen, ihr müsst anzeigen.“ Und da gibt es ganz viel „Oh, die schon wieder“ oder den Vorwurf, dass man das schon wieder in den Vordergrund stelle. Es gibt Menschen, die sich eh nicht länger mit einem Thema befassen wollen und können; gerade nicht mit Themen, wo sie Berührungsängste haben. In den Medien wird – wie ich finde – erfreulicherweise aber wesentlich mehr sowohl über Queerness als auch über Diskriminierung und Gewalt an Frauen gesprochen.
CW – Also mich nervt das auch kolossal, dass ich immer noch über geschlechtergerechte Sprache sprechen muss, aber es kommt ja real vor. Und wenn jetzt ein Mensch sagt: „Oh, wie nervig, plötzlich kommt es jetzt hier“, dann signalisiert mir das, dass die Person vorher wohl das Privileg hatte, sich nicht damit auseinander setzen zu müssen: Sie hatte mega Glück.
VB – Als nicht queere Person finde ich manchmal aber schwierig, dass man bestimmte Worte nicht mehr nutzen sollte. Es ist gut, über Sprache nachzudenken und sich zu fragen, wie man die Aussageansicht am besten rüberbringt. Und wenn mir jemand sagt: „So und so möchte ich adressiert werden“, dann mache ich das und finde das auch richtig so. Aber ich glaube auch, dass es bei vielen Begriffen so ist, dass es – wenn man sich vorher nicht damit befasst hat – erst einmal ein Störgefühl gibt. Und ich habe auch schon eine Diskussion erlebt, in der andere wenig zu Wort kamen und eine Gruppe wieder und wieder auf ihre Diskriminierung zurückkam …
CW – Vielleicht müssen sich Aktivist*innen so häufig und mit Vehemenz wiederholen, weil wir den NSU, NSU 2.0 und täglich Übergriffe haben. Dass man in dem gesellschaftlichen Kontext denkt, es ist wichtig, es wirklich gut zu erklären, verstehe ich total. Und wenn mir gegenüber etwa eine Schwarze Person auftritt und vielleicht in meiner Wahrnehmung eine Vehemenz hat, dann kann ich mich erstmal fragen: „Warum nehme ich denn diese Vehemenz wahr?“ Vielleicht habe ich ja eine Voreingenommenheit, was Stereotype von Dominanz angeht; vielleicht würde ich eine weiße Person, die so spricht, als gar nicht so dominant wahrnehmen, weil ich es nicht so gewohnt bin, dass eine Schwarze Person mir etwas erklärt. Das kann auch ein Effekt sein …
„Gewohnt“ ist ein schönes Stichwort, um auf die Abweichung zu kommen: Andersraum – da steckt ja „anders“ drin. „Anders als die anderen“ hieß 1919 das erste deutsche Spielfilm über Homosexualität, 1957 lieferte der frühere NS-Propagandafilmer Veit Harlan ein eher reaktionäres Remake – bezeichnenderweise nun unter dem Titel „Anders als du und ich“. Hat der Begriff „anders“ nicht teils so ein Geschmäckle?
CW – Ich war bei der Namensgebung nicht dabei, glaube aber, dass es schon ein Erleben von Anderssein im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft ist. Und ohne Ansatz sind ja eh alle Menschen anders. Für mich ergibt es Sinn, dass wir versuchen, im Andersraum oder im queeren Jugendzentrum wie eine kleine bessere Version der Gesellschaft zu sein. Ein kleiner Mikrokosmos, wo Dinge einen kleinen Zacken besser laufen.
VB – Ich finde das Wort mit dem „anders“ ganz interessant. Ich habe auch mal eines meiner Festivals „Anderswelten“ genannt, weil ich dachte, man will den Besucher*innen andere Dinge zeigen, als sie zu sehen gewohnt sind … um neue Sehgewohnheiten zu öffnen.
Wie blickt ihr in die Zukunft, wenn die Repräsentanz im Laufe der etwa letzten 10 Jahre merklich anwächst, die Diskriminierung aber nicht schrumpft? Muss man damit rechnen, dass sich sowas erst über 20, 30 Jahre langsam mit kommenden Generationen rauswächst aus der Gesellschaft?
CW – Also zum einen weiß ich gar nicht, ob wir uns jetzt da nur auf die letzten 10 Jahre beziehen sollten Das höre ich oft, das gesagt wird: „Wir waren in den 8oern auch schon mal freier.“ Nicht im gesetzlichen Sinne, natürlich war Homosexualität kriminalisiert, und von trans* haben die wenigstens überhaupt gesprochen … Trotzdem gab es eine empfundene Freiheit. Zum anderen steckt in der Frage ja eine Vorstellung von linearem Fortschritt. Und die teile ich nicht, es sind keine linearen Prozesse.
VB – Bekanntlich erfolgen gesellschaftliche Entwicklungen immer in Wellen!
CW – Und wenn wir bewegungsgeschichtlich, auf Emanzipationsbewegungen schauen, sieht man immer, dass es nicht linear läuft. Dein Wort in Gottes Gehör, dass quasi höhere Sichtbarkeit der Themen langfristig dazu führen wird, dass die Tendenz noch weiter steigt und vor allem die Gewalt und das strukturelle Diskriminierende abnehmen. Aber ob das so kommt, wissen wir nicht. Wir müssen weiter kämpfen und streiten, dass es hoffentlich so kommt.
CK/LD
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