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Über Würde

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Über Würde


Wir haben viel zu verlieren und noch reichlich zu gewinnen

Würde. Ein großes Wort. Das gerne mal inflationär in Sonntagsreden in den Mund genommen wird. Aber was ist eigentlich mit Würde gemeint? Was beinhaltet dieser Begriff? Was gehört zu einem würdevollen Leben? Das zu beschreiben, ist gar nicht so leicht. Wir erfassen eher, was Würde bedeutet, wenn wir die Abwesenheit von Würde erleben. Wenn wir würdelose Zustände sehen. Dann bekommen wir eine ungefähre Idee davon, dass Würde eine ganz zentrale Basis für alle Menschen sein sollte. Ist sie aber nicht. Die Würde des Menschen ist offensichtlich ziemlich antastbar …

Sie scheint momentan überall auf der Welt sehr antastbar. Was teilweise kaum auszuhalten ist. Es macht wirklich traurig, sich umzusehen. In Afghanistan nehmen die Taliban zum Beispiel den Frauen ihre Würde. Sie werden unterdrückt, sie werden zu Sklavinnen der Männer degradiert, sie werden von der Bildung ausgeschlossen, sie werden schlicht zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Frauen sind in Afghanistan entwürdigt. Frauen sind überall auf der Welt, in vielen Staaten nach wie vor entwürdigt. Menschen werden wegen ihres Geschlechts entwürdigt, wegen ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihrer Religion und Hautfarbe. Und Menschen werden entwürdigt, weil sie mächtigen Interessen im Weg stehen. Menschen erleben im Krieg Entwürdigung. Wir erinnern uns kollektiv an die Bilder aus Butscha. Über 400 Menschen sind dort gefoltert, erschlagen und erschossen worden. Ein Kriegsverbrechen. Russland will den Menschen in der Ukraine ihr Recht auf Selbstbestimmung nehmen. Selbstbestimmung ist ein Teilaspekt des Begriffs Würde. Wenn Menschen sich über andere Menschen stellen, wenn sie ihre eigenen Interessen höher werten als die Interessen anderer, immer dann geht es auch um Würde, beziehungsweise um die Abwesenheit von Würde.

Aber würdelose Zustände sind nicht immer die Folge von direkter Unterdrückung. Manchmal entstehen solche Zustände in Systemen, die die Menschlichkeit zu sehr ausklammern. Der Kapitalismus ist wie gemacht dafür. Er dient der Kapitalakkumulation und nicht den Menschen. Dafür muss man ihn gar nicht kritisieren und kann ihn auch gar nicht kritisieren, der Kapitalismus ist ja kein Wesen und auch kein politisches Programm, sondern eine Form der Wirtschaft. Kritisieren muss man aber sehr wohl alle, die bisher dafür gesorgt haben, dass der Kapitalismus nicht weltweit starke soziale Leitplanken bekommen hat, sozusagen eine übergeordnete Gerechtigkeitskontrolle. Das ist nicht passiert. Und ebenso wenig sind bisher die tatsächlichen Kosten der Produktion umgelegt worden. Mit der Folge, dass Unternehmen noch immer hohe Gewinne mit Ressourcen erwirtschaften, für die sie kaum etwas bezahlen, zum Beispiel mit Trinkwasser. Und dass sie die Umwelt schädigen, ohne dafür irgendwen und im Zweifel uns alle entschädigen zu müssen.

Besonders schlimm wird es eigentlich immer dann, wenn der Kapitalismus zum politischen Programm erhöht wird, wenn möglichst freie Märkte gepredigt werden. Ein reichlich veralteter und blauäugiger Ansatz, der davon ausgeht, dass die Märkte es schon richten. Längst überholt und erwiesenermaßen grundfalsch, aber noch immer ein Glaubenssatz der FDP. Manche begreifen es halt nie. In Deutschland hat man beispielsweise gerne privatisiert, unter anderem im Gesundheitswesen. Und kann sich nun die Folgen anschauen. Die Lage in der Altenpflege ist ein Skandal. Unser Umgang mit alten Menschen ist bei uns insgesamt ein Katastrophe. Alte Menschen werden oft nur noch halbwegs verwaltet, im Minutentakt versorgt, abgearbeitet. Für viele wird die Unterbringung im Heim so zu einer späten Strafe. Wenn du deine Körperfunktionen nicht mehr im Griff hast, geistig aber voll auf der Höhe bist, deine Situation sozusagen anschauen, aber nichts tun kannst, und stundenlang warten musst, bis jemand deine Kleidung wechselt und dich wäscht, dann ist das würdelos. Für viele Menschen in Deutschland ist das aber leider bitterer Alltag. Und auf der anderen Seite leiden auch die Pflegenden, die in ihrem Job ausbrennen, die dem eigenen Anspruch an ihre Arbeit nicht mehr gerecht werden können. Warum? Weil das System auf kostensparende Effizienz getrimmt ist. Weil man viel zu viel den freien Märkten überlassen hat. Übrigens nicht nur im Gesundheitswesen. Wir sehen zum Beispiel, dass der Ausverkauf von Immobilien in den Städten zu ausufernden Mieten geführt hat, während es an sozialem Wohnungsbau fehlt. Die Not ist teilweise schon jetzt groß und nicht wenige Menschen leben bereits aus Kostengründen in „unwürdigen“ Verhältnissen.

Womit wir bei der Scham sind. Es ist beschämend, wenn es nicht reicht, wenn die eigene Leistung nicht genug einbringt, um sich ein halbwegs würdiges Leben zu finanzieren. Und das oft schuldlos, ausgestattet mit einer Minirente nach vielen Jahren Arbeit und Care-Arbeit. Inzwischen sind in unseren Städten sehr viele Menschen unterwegs, die Flaschen sammeln, manche eher tagsüber, um ihre Süchte zu finanzieren. Viele aber auch sehr früh morgens, fast noch in der Dunkelheit, um ihr Leben zu finanzieren, und der Blick in die Mülleimer ist eilig und verschämt, nach ein oder zwei Blicken über die Schulter. Niemand soll das sehen. Niemand von den anderen, die es besser hinbekommen haben, die sich keine Sorgen machen müssen. Wobei wir uns inzwischen ja zunehmend alle Sorgen machen müssen.

Und dann beginnen wir damit, unseren Besitz zu verteidigen. Und wir identifizieren argwöhnisch Menschen, die unseren Besitz bedrohen, zum Beispiel Flüchtlinge. Eine Klaviatur, auf der die AfD ihre völkischen Lieder anstimmt. Da kommen Kriegsflüchtlinge, und okay, die muss man natürlich eine Weile aufnehmen – aber müssen denen bei uns auch gleich die gebratenen Tauben in den Mund fliegen? Und da kommen – „viel schlimmer“ – sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge, die dann hier in unserem Sozialstaat schmarotzen. So ungefähr klingt der Sound. Dass diese Menschen kommen, weil es in ihren Ländern oft schlicht nichts mehr zu essen und keine Perspektive gibt, vielleicht, weil ihr Land im Zuge des vom reichen Westen verursachten Klimawandels ausgetrocknet ist, darüber wird lieber geschwiegen. Das wird ausgeklammert. Stattdessen versuchen wir in Europa, uns diese Menschen möglichst vom Leib zu halten. Wir halten sie an den Grenzen auf und verfrachten sie in überfüllte Lager wie Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Noch heute leben Menschen in all den Lagern in katastrophalen Verhältnissen. Wie muss sich das anfühlen? Du bist nicht gewollt. Nirgends. Du lebst im Dreck, überall Müll. Um dich herum viele andere Menschen. Du hast keine Privatsphäre, kannst dich nicht zurückziehen. Du hast die Geschichten vom gelobten Land geglaubt, du hast dich auf den Weg gemacht, viel Geld bezahlt, deine Familie, deine Kinder zurückgelassen. Aber das Paradies war nur ein Märchen. Und nun hängst du fest.

Oder du wolltest gerade dein Informatikstudium beenden, als dir plötzlich die Bomben um die Ohren geflogen sind und du fliehen musstest. Nur weg, hunderte, tausende Kilometer. Vielleicht hast du auf der Flucht deine Familie aus den Augen verloren. Vielleicht weißt du nicht, ob deine Eltern noch Leben. Und nun sitzt du in diesem Lager. Hat das auch nur entfernt etwas mit Würde zu tun? Ist es in Ordnung, Menschen so zu behandeln, die traumatisiert sind, die vor Krieg und Terror geflohen sind, die vielleicht mitangesehen haben, wie Verwandte, wie Nachbarn misshandelt und umgebracht worden sind? Nein, das ist ganz und gar nicht in Ordnung und jeder und jede von uns, würde sich mit Händen und Füßen zur wehr setzen, würde kämpfen, für eine bessere, eine würdevollere Behandlung. Allen, die heute AfD wählen, wollen wir wünschen, dass sie nie in eine solche Situation kommen wie die Flüchtlinge, und dann in einem fremden Land auf Menschen treffen, die dort irgendeine AfD-Variante wählen. Was verweigern wir diesen Menschen? Wir verweigern ihnen ein würdevolles Leben.

Ein Leben in Würde ist die Grundvoraussetzung für ein glückliches Leben. Ohne Ausnahme verdienen wir eine würdevolle Behandlung. In jeder Lebenslage ein ganzes Leben lang. Im Grundgesetz heißt es dazu: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Satz spukt den meisten in Deutschland aufgewachsenen Menschen im Kopf herum. Hat man schon mal gehört, meistens in der Schule. Was bedeutet eigentlich dieser Begriff? Zu welcher Zeit hat er sich entwickelt. Wann hat man Menschen zum ersten Mal Würde zugestanden?

Die Würde hat eine lange und reiche Geschichte. Bereits in der Antike, insbesondere im Werk von Aristoteles, wurde sie als eine grundlegende Eigenschaft des Menschen betrachtet. Aristoteles meinte, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunft und seiner Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen, eine einzigartige Würde besitze. Diese Vorstellung von Würde als etwas, das auf unseren inneren Qualitäten basiert, hat die philosophische Tradition stark beeinflusst. Im Laufe der Geschichte entwickelte sich die Vorstellung von Würde dann weiter. In der christlichen Theologie wurde die Würde des Menschen als göttliche Schöpfung betont. Und die Aufklärung des 18. Jahrhunderts brachte schließlich eine neue Perspektive mit sich, in der die Idee der individuellen Rechte und Freiheiten im Mittelpunkt stand. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde die Idee der menschlichen Würde in politischer Hinsicht verankert. Mit der Würde wurde ein Anspruch an Gesellschaften festgeschrieben. Alle Menschen haben gleichermaßen einen Wert.

Die Philosophen haben die Frage nach der Würde des Menschen immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Immanuel Kant, einer der einflussreichsten Denker der Aufklärung, argumentierte, dass die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit zur Vernunft und zur moralischen Autonomie liegt. Für Kant hat jeder Mensch intrinsische Würde, die nicht verhandelbar ist und unabhängig von seinen Handlungen oder Eigenschaften existiert. Und Hannah Arendt, eine uns in Hannover gut bekannte politische Theoretikerin betonte vor allem die soziale Dimension der Würde. Sie argumentierte, dass die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit liegt, sich in der Gesellschaft zu engagieren und politische Handlungen zu vollziehen. Arendt betonte die Bedeutung der Anerkennung durch andere Menschen für die Wahrung unserer Würde. Ein wichtiger Aspekt.

Der Wert der Würde, das gilt es unbedingt festzuhalten, ist unendlich hoch. Sie kann nicht mit materiellen oder immateriellen Gütern aufgewogen werden. Hieraus leitet sich beispielsweise das Verbot der Sklaverei ab. Es gibt keinen Preis, zu dem der Verkauf eines anderen Menschen oder auch der Verkauf der eigenen Person gerechtfertigt wäre. Also gibt es auch keine Rechtfertigung für Sklaverei. Gegner der Prostitution argumentieren ganz ähnlich. Befürworter entgegnen, dass in diesem Fall nicht der ganze Mensch, sondern nur der Körper verkauft werden würde. Es gibt bei dieser Frage sehr kontroverse Positionen und auch in Deutschland flammt die Diskussion immer mal wieder auf. Kann man in Würde seinen eigenen Körper verkaufen?

Und eine andere Frage: Kann man die Würde eines Menschen gegen die anderer Menschen aufwiegen? Wenn ich fünf totkranke Menschen habe, die alle ein jeweils unterschiedliches Organ zum Überleben bräuchten, darf ich dann einen Menschen töten, um die fünf Organe zu entnehmen und die fünf Leben zu retten? 1 zu 5 ist doch keine so schlechte Bilanz. Bei uns in Deutschland fällt die Antwort eindeutig aus. Natürlich geht das nicht, weil das Leben auch des einen Menschen unendlich viel Wert ist. In anderen Ländern hat die Würde aber leider keinen so hohen Stellenwert, was sich dort an unzähligen Operationsnarben bei jungen Menschen ablesen lässt. Dort ist die Würde des Menschen antastbar, wenn die Bezahlung stimmt.

Das Konzept der Würde war (und ist) nicht immer ein Maß der Gleichbehandlung und Menschlichkeit. In der Antike wurde Männern von Stand Würde zugesprochen (Frauen nicht), und man erhob sie damit zu etwas Besseren, ein Mann mit Würde war nicht mehr gleich unter Gleichen. Ein gewöhnlicher Mensch wurde zu einem besonderen Menschen. Die Würde (lateinisch Dignitas) war ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen mit Macht und solchen ohne Macht. Damit einher ging eine Besserbehandlung des Würdenträgers. Die würdelosen Menschen hatten ihn zu achten und ihm zu dienen. Das Konzept der allen zustehenden Würde ist aber auch nicht mehr jung. Man findet diese universale Würde bereits bei den alten Griechen.

Beispielsweise die stoische Philosophie kam bei der Frage, was den Menschen ausmacht, zu dem Schluss, dass es seine Vernunftbegabung ist, die in allen Menschen prinzipiell vorhanden ist, wobei man natürlich sagen muss, dass sehr viele Menschen diese Begabung ausgesprochen geschickt verstecken. Aber sei’s drum, im Gegensatz zum Tier kann der Mensch sich seines Verstandes bedienen und sich mit der Welt theoretisch auseinandersetzen. Genau diese Eigenschaft hebt ihn ab von Kuh und Hund und fordert eine besondere Art der Behandlung, eine würdevoll Behandlung. Die Christen haben an dieser Stelle noch mal was draufgepackt. Der Mensch ist nicht nur vernunftbegabt, sondern sogar von Gott höchstpersönlich nach seinem Ebenbild erschaffen. Er ist die Krone der Schöpfung, das auserwählte Wesen im Universum, das sich Erde und Tierwelt Untertan machen soll. Ein Teil des großen Erschaffers wohnt natürlich in uns allen, ein Teil seiner Göttlichkeit. Weswegen wir uns gegenseitig mit Würde und Respekt begegnen sollten. Also Liebe deinen nächsten wie dich selbst, denn ihr seid beide Würdenträger. Einen anderen Menschen in seiner Würde zu verletzen, ihn zu degradieren, wird somit in gewissem Sinne zur Blasphemie.

Wie gut die Befolgung jener Güte und Gnade, jener würdewolle Umgang mit anderen Menschen geklappt hat, steht freilich auf einem anderen Blatt. Unzählige Konfessionskriege, Unterdrückung, Folter, Inquisition, die Unterstützung von Sklaverei und Leibeigenschaft und vieles mehr – die Würde des Menschen war auch in christlichen Kreisen ziemlich antastbar zwischen all den Machtkämpfen und Ideologien. Die Würde hat es schwer in hierarchisch organisierten Strukturen. Wenn einer oben steht und einer unten, dann ist die Würde kein entscheidender Wert. Dann werden Menschen zu Opfern, zu entwürdigten Opfern. Insbesondere die katholische Kirche hat bis heute mit diesem Problem zu kämpfen.

Aber zurück zu unserer kleinen Geschichte der Würde. In der Neuzeit, nach dem Ende des Mittelalters, erleben wir die paradoxe Parallelität von Kolonialismus und Aufklärung. Man entriss Millionen Menschen aus Afrika mit blutiger Gewalt ihren Familien und Lebenswelten und machte sie zu Sklaven in der neuen Welt, während weiße Europäer überlegten, wie einzigartig der Mensch doch in seiner Fähigkeit ist, moralisch zu handeln, das Richtige zu tun, sich selbst Ziele zu setzen und als autonomer Akteur sein Leben in Freiheit zu verbringen. Wir sind wieder bei Immanuel Kant und seinen damals sehr beliebten Abhandlungen über die vier Menschenrassen. Okay, die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber wie ist das, wenn ein Mensch nun mehr Mensch ist als ein anderer Mensch. Schon damals funktionierte die Umgehung der Menschenwürde mit einem einfachen Trick. Man degradierte andere Menschen zu niederen Wesen. So sind alle Menschen gleich, wenn sie weiße Menschen sind. Die Unterteilung in Menschenrassen ermöglicht eine Differenzierung von Menschenwürde. Wenn es verschiedene Gruppen gibt, mit unterschiedlichen Fähigkeiten hinsichtlich ihrer Autonomie und einer anderen, vielleicht weniger ausgeprägten Vernunftbegabung, dann kann man für diese unterschiedlichen Menschen auch unterschiedliche Stufen des Respekts einführen. Ein Wiederschein des Würdeverständnisses antiker Standesgesellschaften, mit dem Unterschied, dass ein Aufstieg in Sachen Würde nun nicht nur unrealistisch, sondern auch biologisch unmöglich ist. Die Aufteilung in Menschenrassen und andere Formen der Entmenschlichung sind immer wieder probates Mittel totalitärer Herrscher und Systeme, um die Macht zu zementieren und die Menschenwürde vollständig zu ignorieren.

„Ich kann diesen Menschen nicht töten, er ist doch ein Mensch.“

„Ach, das ist doch kein Mensch, das ist nur ein Protestant, Katholik, Schwarzer, Jude, Moslem, Schwuler… „

Wir sind in der Gegenwart. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Noch heute mehr eine Wunschvorstellung als Realität. Nach dem Holocaust hat man diesem Satz wohlüberlegt im Grundgesetz einen Begleiter zur Seite gestellt. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Diese Satz nimmt den Staat mit in die Verantwortung, sich dem Schutz der Menschenwürde auch rechtlich bindend anzunehmen und alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Entmenschlichungen zu verhindern. So gewährleistet er zumindest auf dem Papier ein Leben in Würde für alle Bürger*innen. Der Begriff der Würde steht ganz gerne mal wichtig auf Papier. Er ist beispielsweise auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen.“

Klingt alles einleuchtend und einfach. Aber definiere Würde. Was sind in Deutschland beispielsweise würdevolle Lebensverhältnisse? Schon sehr oft ist diese Fragen auch vor Gerichten erörtert worden. Im April 2017 wollte beispielweise eine Bezieherin von Sozialleistungen per Eilantrag und mit Verweis auf eine Verletzung der Menschenwürde ein passendes Fernsehgerät als Erstausstattung für ihre Wohnung erhalten, damit so die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben gewährleistet sei. Das Gericht lehnte ihren Antrag ab. Und schon viele Gerichte haben ähnliche Anträge abgelehnt. Mit der Begründung, dass die Würde eher dem Schutz vor etwas diene, aber nicht so sehr ein Recht auf etwas Materielles begründe. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht hier auch schon andere Worte gefunden, zum Beispiel diese: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“

Gut so. Wir sind ein Sozialstaat. Wir schützen und unterstützen alle, die geschützt werden müssen. Weil wir ihr Recht anerkennen, in Würde zu leben. Das ist die Verabredung, die wir mit unserem Sozialstaat getroffen haben. Wir können ein bisschen darüber diskutieren, wie groß diese Unterstützung ausfallen muss und kann, aber von unserem Grundsatz sollten wie uns nicht verabschieden. Denn mit der Würde für alle fällt immer auch die Freiheit. Daran sollten wir uns im Hinblick auf die zunehmende Ausbreitung totalitärer Staaten und Systeme und der Beliebtheit totalitärer und faschistischer Ideen auch bei uns immer wieder erinnern. Die Würde ist ein wichtiger Baustein eines universalen Humanismus. Ein Mittel im Kampf gegen einen Kollektivismus, der bereits ist, das Individuum zum Zwecke der Mehrheit zu opfern und der seiner Bevölkerung nicht vertraut. Die Würde ist der Schutz des einzelnen vor staatlichen Eingriffen und Grundlage für ein freies selbstbestimmtes Leben.

Alles schön? Nein. Denn wenn wir uns in Deutschland Würde zugestehen, dann müssen wir folgerichtig allen anderen Menschen ebenfalls Würde zugestehen. Davon sind wir aber leider weit entfernt. Wenn wird weiter den Eindruck vermitteln, dass die Würde in erster Linie bei uns wichtig und schützenswert ist, eine feste Größe für Menschen im Westen, dann machen wir uns dauerhaft unglaubwürdig. Schon jetzt ernten wir nicht selten Hohn und Spott. Kein Wunder, wenn Menschen auch bei uns aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert werden. Wenn ein Menschenleben hier bei uns viel mehr Wert zu sein scheint als in vielen anderen Teilen der Welt. Kein Wunde, wenn Wasser gepredigt und Wein getrunken wird. Wenn die Umwelt weiter im großen Stil zerstört wird für unseren Lebensstandard und kein besonderer Wille zur Veränderung erkennbar ist. Wenn für Gold, Öl, Gas, Lithium und Kobalt ganze Länder destabilisiert werden. Wir müssen unser Handeln mit unseren Wertevorstellungen abgleichen. Die Würde ist weltweit ein Menschenrecht. Würde bildet die Grundlage für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Der Begriff der Würde verpflichtet uns, die Rechte und die Autonomie jedes Einzelnen zu respektieren. Er erinnert uns daran, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht, seiner Rasse oder seinen Überzeugungen einen inhärenten Wert besitzt. Die Anerkennung der Würde anderer Menschen ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer gerechten und humanen Gesellschaft. Und wenn jemand andere Menschen herabwürdigt, sollten wir wachsam werden.

Lak

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El Kurdis Kolumne im Mai

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El Kurdis Kolumne im Mai


Meine nominelle Arisierung

Für viele Deutsche ist es eine Herausforderung, jemandem mit einem nahöstlichen, asiatischen oder afrikanischen Namen zu begegnen.
Sie fangen an zu stammeln, machen hilflose Artikulationsversuche und sprechen den Namen dann halt irgendwie aus.
So wurde ein Mitschüler meiner Tochter von den Lehrer*innen konsequent „Aamett“ genannt, obwohl er selbstverständlich Ahmed hieß, und es ja nun wirklich nicht so schwer sein sollte, sich zu merken, dass ein solches „h“ in der Mitte tendenziell eher wie ein „ch“ gesprochen wird.
Aus diesem Grund habe ich meinen arabischen Vornamen schon 1971, kurz nach meiner Einschulung, selbständig gegen meinen urdeutschen Mittelnamen getauscht. Eigentlich heiße ich ganz vorne nämlich „Samer“, was hübscherweise soviel bedeutet wie „Jemand, der seine Freunde des Nachts mit Plaudereien unterhält“. Leider aber bekamen die Kinder in meiner Klasse diesen Namen einfach nicht über die Lippen. Obwohl „Samer“ ja keinerlei schwer auszusprechende Konsonantenanhäufungen, übermäßig viele Ypsilons oder andere komplizierte Buchstabkombinationen enthält.
Selbst meine Lehrerin konnte „Samer“ bei der Anwesenheitskontrolle nicht ohne Stocken aus dem Klassenbuch ablesen.
Damals hieß man als Junge in Deutschland üblicherweise Matthias, Andreas, Michael. Die mit exzentrischen Eltern hießen Oliver oder Pascal. Da ich in einem robusten Viertel in Kassel aufwuchs, nannten mich meine Mitschüler wahlweise „Samen“ „Besamer“ oder irgendwas anderes mit Sperma. Ein Junge nannte mich, warum auch immer, „Senftopf“.
Ich dachte mir: Dann doch lieber „Hartmut“. Das klang für mich eindeutig, unverfänglich und deutsch. Diesen Zweitnamen hatte mir meine deutsche, sommersprossige Mutter verpasst, weil sie, als ich ihr in Amman nach der Geburt in die Arme gelegt wurde, vermutlich dachte: Okay, es ist also, wie erwartet, ein kleiner Schwarzkopf geworden. Der kriegt jetzt mal zum Ausgleich einen germanisch-blonden SS-Mittelnamen. Quasi als Look-Name-Balance. Und als eine Art nominelle Arisierung.

Meine Umbenennung war allerdings nur so mittel erfolgreich: Mein Nachname „El Kurdi“ verwirrt manche Deutsche so, dass sie gar nicht anders können, als meinen Vornamen schriftlich zu „Hartmoud“ zu orientalisieren. Analog zum arabischen „Mahmoud“, was übrigens der Vorname meines Vaters ist. Der von Deutschen allerdings oft „Mammut“ ausgesprochen wird. Siehe: Aamett.
Auch schön: In verschiedenen Zeitungen – von TAZ bis ZEIT – erschienen schon Texte von mir unter meinem unfreiwilligen Pseudonym „HELMUT El Kurdi“. Daran gefällt mir, dass die Verantwortlichen hier gar nicht dazu kommen, meinen arabischen Nachnamen zu verhunzen, sondern sich vorher schon im deutschen Vornamengestrüpp verheddern: Hartmut, Helmut, Helmfried, Friedhelm – was soll’s? Alles eine Suppe! Lustigerweise nennt mich auch meine Freundin Mely Kiyak  – im Gegensatz zu mir halbkurdischem Hessen vollkurdische Niedersächsin – konsequent Helmut. Zumindest in unserer erschütternd albernen Digital-Korrespondenz. Beim ersten Mal war es wohl ein Versehen. Wir kannten uns noch nicht gut. Seitdem macht sie es aus Daffke. Ich nenne sie folgerichtig und durchgehend seit Jahren Melanie. Melanie ist, neben Claudia beziehungsweise „Claudi“, mein deutscher Lieblings-Frauen-Seventies-Name.  Obwohl: „Dagmar“ respektive „Daggi“ und „Petra“ finde ich auch nicht schlecht…

Abschweifung: Hätten meine Freundin und ich unsere Tochter „Petra“ genannt, dann wäre Petra kürzlich in Petra gewesen. Was mir sehr gefallen hätte. Die junge Frau war nämlich kürzlich zum ersten Mal in meinem Geburtsland und besuchte dort unter anderem die alte nabatäische Felsenstadt „Petra“. So war aber nur Salima in Petra. So heißt meine Tochter nämlich wirklich. In Jordanien war sie mit einer französischen Freundin, die den schönen, leicht ähnlich klingenden hebräischen Namen „Salomé“ trägt  – und die prompt bei der Einreise am Flughafen in Amman von den jordanischen Grenzbeamten gefragt wurde, ob sie Jüdin sei. Als meine Tochter mir davon berichtete, dachte ich: Die lassen aber auch kein Klischee aus. Vor allem: Was wäre passiert, wenn sie tatsächlich Jüdin gewesen wäre und mit „ja“ geantwortet hätte?  Abschweifung beendet.

Meine Tochter Salima wird in Deutschland übrigens mal Samira, mal Selina, mal Shalimar genannt. Selbst wenn die Leute ihren Namen vor sich auf einem Formular oder ihrem Ausweisdokument stehen haben. Manchmal glaube ich, dieses Land braucht dringend eine Alphabetisierungskampagne.

Hartmut El Kurdi

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