Christoph Platz-Gallus
Photo: Marija Kanizay
Bevor wir über die aktuelle Ausstellung sprechen, zuerst ein Rückblick. Du bist im Frühjahr 2022 offiziell im Kunstverein gestartet. Wie waren damals der Start und die erste Zeit und wie würdest du deine ersten zwei Jahre resümieren?
Da war damals zuerst ein kleiner Spagat. Ich habe zu der Zeit noch beim „steirischen herbst“ gearbeitet, das ist ein interdisziplinäres Festival für zeitgenössische Kunst in Graz. Und mir war wichtig, dass ich auch mein fünftes Jahr noch gut abschließe. Meine Familie war auch noch dort. Ich brauchte also einen gleitenden Übergang. Das hat mir der Kunstverein ermöglicht, und so habe ich hier in Hannover zuerst das Programm von Kathleen Rahn abgeschlossen. Sie hatte zum Beispiel noch Yuri Ancarani eingeladen, die Ausstellung war Ende 2022, die habe ich bereits kuratiert. Und 2023 konnte ich dann mit meinem Programm starten, mit neuer Visual Identity und Website. Und natürlich macht man dazu noch das Übliche, wenn man startet: Komplett umstellen, ausräumen, neu streichen, die Räume anders benennen und ihre Nutzung ändern (lacht).
Kannst du mal erzählen, was das bedeutet, so ein Haus zu übernehmen … Man steht plötzlich zwischen fremden Wänden. Wie wird man heimisch? Ich denke da zum Beispiel auch an die Vereinsstrukturen, die Mitarbeitenden. Wo findet sich was? Da gibt es doch sicher viele Gespräche.
Dankenswerterweise gibt es hier Mitarbeitende, die teilweise bereits über 20 Jahre dabei sind. Die sind so ein bisschen die Seele des Hauses, und wenn man dann herzlich und offen aufgenommen wird, macht es richtig Spaß. Man erfährt in den Gesprächen ganz viel, auch über die Historie, über frühere Direktorinnen und Direktoren. Die bleiben ja meist nur ein oder zwei Perioden, so arbeiten seit der Professionalisierung eigentlich die meisten Kunstvereine. Die Direktorinnen und Direktoren, die Programmierenden wechseln, aber die Basis bleibt. Das ist das, was ich an Kunstvereinen so schätze. Sie bewirtschaften durch bürgerliches Engagement den Boden, auf dem man arbeiten kann. Großartig! Auch dieser Non-Profit-Gedanke, das ehrenamtliche Engagement. Das sollten wir in unserer Gesellschaft sehr wertschätzen. In vielen Städten, wie in Hannover auch, ist der Kunstverein die älteste Kunstinstitution der Stadt.
Kunstvereine waren auch immer die Experimentierräume, aus denen heraus Neues entstanden ist.
Sie waren ein Gegenentwurf und Vorläufer der meisten Museen der Zeit. Wenn man in die Historie der Kunstvereine und auch gerade der des Kunstvereins Hannover eintaucht, dann findet man zum Beispiel gleich die große Retrospektive von Niki de Sait Phalle 1969, oder um nur wenige zu nennen: Robert Rauschenberg, Piero Mazoni, Yves Klein, Donald Judd, Bridget Riley, Jasper Johns oder auch natürlich Joseph Beuys – man muss das im zeitlichen Kontext verstehen: das Sprengel Museum in Hannover gab es noch nicht. Die meisten dieser Namen hatten in der Museumswelt zu der Zeit noch überhaupt keine Relevanz und gehören heute zum Kanon. Man kann sagen, dass die damalige Studierendengeneration die Kunstvereine als Plattform, als Forum und Agora begriffen hat, für Kunst und Politik, für politische Kunst. Da wurde viel geraucht und debattiert. Und es gab natürlich auf der anderen Seite eine eher bürgerliche Basis in den Vereinen, die plötzlich mit einem ganz anderen Kunstbegriff konfrontiert war. Irgendwann haben dann die Museen mehr und mehr die Aufgabe übernommen, aktuelle Diskurse und Positionen aufzunehmen, womit wiederum die Kunstvereine ein bisschen Profil eingebüßt haben. Kontextualisierung dieser Geschichte und dieser Geschichten ist für mich als Kunsthistoriker absolut spannend. Wir bauen hier gerade das Archiv professioneller aus, denn viele Mitglieder unseres Vereins sind nicht selten Zeitzeugen.
Hast du dich in Hannover auch gleich gut vernetzen können?
Es gibt eine sehr gute Vernetzung zwischen den großen Kunstinstitutionen, dem Sprengel Museum, der Kestner Gesellschaft und dem Kunstverein. Aber auch zu anderen Kulturpartner*innen und neuerdings vielen Vereinen und Initiativen, wie dem Ukrainischen Verein Niedersachsen, Unter einem Dach oder Artist-Run-Spaces. Dazu ist es ein Glücksfall, in diesem Haus das kommunale Kino und das Literaturhaus zu haben. Und das Schauspiel sitzt nebenan. Viel Kultur, in diesem Kreis bewegt man sich natürlich zunächst hauptsächlich. Und dann lernt man nach und nach auch anderes kennen. Wo bekomme ich Vinylplatten, wo gibt es den besten Kaffee …
Dein eigenes Programm ab 2023 fand ich bisher durchgehend sehr politisch. Habe ich da den richtigen Eindruck?
Falsch würde ich den Eindruck jedenfalls nicht nennen (lacht). Kunst ist immer politisch. Selbst Landschaftsmalerei ist politisch, wenn man sich anschaut, in welchem sozio-historischen Kontext sie entstanden und rezipiert worden ist. Wobei der Begriff „politisch“ aus meiner Sicht in letzter Zeit ein bisschen überstrapaziert und durch rechte Kräfte sehr negativ besetzt worden ist. Wir hatten hier im Literaturhaus neulich ein Gespräch mit Peter Laudenbach, der ein Buch geschrieben hat über die Strategien rechter Parteien, die Kultur zu beschädigen. Da wird dann beispielsweise behauptet, dass alle Theater linksversifft sind, dass es nur ein einseitig linkes Programm gibt. Und dass darum einerseits die finanzielle Unterstützung gekürzt werden müsse, und andererseits andere Inhalte und Themen zugelassen werden müssten. Insgesamt eine ziemlich perverse Verdrehung des demokratischen Gedankens der freien Meinungsäußerung. Weil es ja nicht stimmt, dass gewisse rechtskonservative Werte in der Kunst nicht aufgegriffen werden. Der Angriff auf die Kultur geht aber noch einen Schritt weiter. Da wird dann immer gerne gesagt, wir müssten in die Kindergärten investieren, statt in die Kultur. Natürlich müssen wir das. Aber wir müssen uns auch immer wieder gewahr machen, dass es gerade die Kultur ist, die den Menschen definiert. Und wenn die Kultur verlorengeht oder geraubt wird, verschwinden ganze Gesellschaften. Wir müssen da sehr genau hinsehen.
Bei deiner ersten Ausstellung im Kunstverein hast du die ukrainische Künstlerin Zhanna Kadyrova gezeigt. Auch eine politische Ausstellung …
Ja, eine erste Retrospektive von Zhanna Kadyrova, einer wirklich großartigen Künstlerin. Aber ja, es war eigentlich klar, dass mein Programm deutlicher politisch wird. Ich komme ja aus so einer Bubble von Großausstellungen und Biennalen. Und ich finde, diese Blase ist ein bisschen problematisch geworden in den letzten Jahren. Ich wollte gerne weg von diesen Durchlauferhitzern, die sich aufblähen, die wahnsinnige Ressourcenfragen stellen und wieder weg sind, oft ohne nachhaltige Effekte. Ich wollte in ein traditionelles Haus, das auf einem hohen Niveau operiert im Vergleich zu den großen Häusern agil ist und damit relativ spontan reagieren kann, nah am Zeitgeist, mit entsprechenden Einladungen in die Kunst. 2023 war dann auch kein Jahr mit einem großen Jahrestitel, es war geprägt von diesem Auftakt mit Zhanna Kadyrova, die übrigens gerade auf der Venedig-Biennale eine neue Installation gezeigt hat, eine große Orgel, gefertigt aus den Hülsen russischer Raketen, die auch gespielt werden kann.
Im Kunstverein gab es von Zhanna Kadyrova Brot.
Ja, es gab Brot aus Stein. Wir haben diese erste große Schau mit ihr im Kunstverein in Zusammenarbeit mit dem PinchukArtCentre gemacht, wo mein Vor-Vor-Gänger aus den 1990er Jahren, Eckhard Schneider, künstlerischer Gründungsdirektor war. Zhanna Kadyrovas ist in der Ukraine noch im UdSSR-Regime groß geworden und hat dann Geburt und Aufblühen der jungen Demokratie mitbekommen. Sie ist nach dem Angriff auf Kiew zuerst nach Deutschland geflohen, aber bereits nach zwei, drei Wochen nach Kiew zurückgekehrt. Zwischenzeitlich war sie auch in den karpatischen Gebirgen, wo sie diese Arbeit mit den Steinbroten entwickelt hat. Im Grunde war das eine Charity-Aktion, um ihre Leute zu unterstützen. Was aus diesen Ausstellungen verkauft wird, geht zu 100 Prozent in die Ukraine. Und die Künstlerin sagt ganz klar: Wenn ich davon Waffen kaufen könnte, würde ich das tun. Dafür reicht es aber nicht und sie ist eine Zivilistin. Sie kauft stattdessen etwa Armeestiefel für Leute, mit denen sie studiert hat und die jetzt an der Front sind.
Nach Zhanna Kadyrova kam dann die Doppelschau mit Simon Denny und Agnieszka Kurant.
Ja, mich hat diese Thema Technologie interessiert, gerade in Hannover. Die EXPO hatte ja dieses wunderbare Motto „Mensch, Natur und Technik – Eine neue Welt entsteht“, was für eine sehr Technologie-optimistische Zeit steht. Und heute sind wir angekommen bei Deepfakes und AI. Wir geraten da gerade in ganz neue Sphären. Es stellt sich immer wieder diese Fragen zwischen Moral und Technologie. Und Simon Denny und Agnieszka Kurant gehen beide auf eine ganz unterschiedliche Art und Weise kritisch mit der Technologisierung um.
Dann kam 2023 noch die Herbstausstellung, eine feste Größe im Ausstellungsplan, und ganz zuletzt Akinbode Akinbiyi.
Die Herbstausstellung ist ganz wichtig: hier können in festem Rhythmus regionale Künstler*innen ohne Altersbeschränkung Arbeiten für eine große Gruppenschau einreichen. Sie ist jedes Mal extrem gut besucht. Der Call für die Ausstellung 2025 geht bald raus. Akinbode Akinbiyi ist ein Künstler aus einer nigerianischen Familie, der in Oxford geboren ist und seit 30 Jahren in Berlin lebt. Er ist ein Jahr lang zwischen Hannover und Berlin gependelt und hatte immer seine analoge Kamera dabei. Er war auf dem Schützenfest, auf dem Maschseefest, er hat viel in der Fußgängerzone fotografiert, er war auch in Badenstedt im Afrikanischen Viertel, wo viele Straßennamen Klischees aus der Kolonialzeit bedienen. Er arbeitet analog, er entwickelt seine Fotos selbst. Und wir haben über 100 dieser neuen Schwarz-Weiß-Bilder gezeigt, von denen 90 aus Hannover waren.
In diesem Jahr gibt es nun auch eine Überschrift, sozusagen einen Jahrestitel.
Ja, „I hope this finds you well.“ Ich hoffe, das erreicht dich bester Dinge. Oder einfach ich hoffe, es geht dir gut. Das referiert natürlich auf den aktuellen Zustand, auf diese Polykrise, die wir erleben.
Es gab bis in den April noch die „Akademie der Lebenserfahrung Intensive“, darüber haben wir bereits im Stadtkind geschrieben. Und auch über die Installation im Treppenhaus von István Csákány „Haus ohne Adresse / House Without Address“, die noch bis Anfang 2025 zu sehen sein wird. Jetzt aber zur aktuell laufenden Ausstellung „The Myth of Normal. Vom Können und Gönnen“. Ich habe mal aufgeschrieben, wer dabei ist. Viele Namen: Panteha Abareshi, Manuela Bolegue, Jeamin Cha, Emilie L. Gossiaux, Itamar Gov, Nikita Kadan, Marcos Lutyens, Berenice Olmedo, Perel, Benoît Piéron, Peter Schloss, Finnegan Shannon, Julischka Stengele und Imogen Stidworthy. Eine ganze Fußballmannschaft, passend zur EURO 2024 …
Konzept ist, vor dem Hintergrund der UEFA EURO 2024, die im Juni und Juli Hochleistungskörper in den sportlichen Wettkampf schickt, künstlerische Perspektiven zur Wahrnehmung und Erfahrung von Vulnerabilität, von gerade nicht solchen Körpern, zu zeigen und damit Populärkultur und Hochkultur zusammenzubringen. Wir injizieren auch Künstlerfilme in die Public Viewings. Wir stören die Spiele nicht, aber wir werden in der Halbzeitpause einen künstlerischen Kurzfilm zeigen. Während auf dem Platz die Sportspitze kämpft, erzählen im Kunstverein etwa chronisch kranke Künstler davon, wie man Normen ändern kann. Und dazu werden auch Blindenreporter für sehbehinderte Menschen von Hannover 96 dabei sein und sieben der Spiele moderieren, was weit über die Radioberichterstattung hinausgeht. Vielleicht ist auch mal das Bild aus (lacht). Es geht um solche Perspektivwechsel, das haben wir auch ganz stark in der Ausstellung: dass die Perspektiven von Künstlerinnen und Künstlern mit Einschränkungen, mit Behinderungen, ganz andere Horizonte aufmachen. Dass nicht die Idee von Behinderung als Einschränkung dominiert, sondern Variationen von Mobilität und Wahrnehmung das vermeintlich „Normale“ in Frage stellen, ergründen und auffächern. Ich erlebe immer wieder, dass uns Leute erzählen, sie haben eine Blindenführung mitgemacht und die Dinge plötzlich ganz anders verstanden. Die Annäherung auch an die Kunst ist anders. Wir glauben, dass die Themen Inklusion oder Accessibility nicht eine Übersetzungsleistung oder Reduktion sind, sondern eine Erweiterung.
Das Normale ist also nur ein Mythos.
Es gibt diese These des ungarisch-kanadischen Arztes und Bestsellerautors Gabor Maté, dass das Konstrukt des „Normalen“ als gesellschaftliche Interaktion verstanden werden muss, die es von unten nach oben zu erneuern gilt. Also ja, das Normale ist nur ein Mythos und wir befördern mit der Ausstellung einen Perspektivwechsel. Darum diese Gruppenausstellung, um eine Multiperspektivität zu öffnen, um das alles zu verschränken, mal mit Humor, mit einer persönlichen Geschichte, aber auch mit einer Trauma-Erfahrung.
Machen wir mal einen kleinen Rundgang durch die Ausstellung.
Es sind 14 Positionen, von denen allerdings einige performativ sein werden. Das Projekt hat drei Teile, die Ausstellung, ein Performanceprogramm und den „KunstRasen“ – das kulturelle Public Viewing mit dem KoKi, der Cumberlandschen, und dem Literaturhaus. Aber zur Ausstellung: Es wird eine große Videoarbeit von Jeamin Cha gezeigt, einer koreanischen Künstlerin, die etwas zum Thema ausbleibender oder uneindeutiger Diagnosen macht, das häufig Frauen betrifft. Dann gibt es eine wunderbare Installation von Julischka Stengele, die sich mit Körperbildern, Stigmatisierung und der Leistungsgesellschaft beschäftigt. Marcos Lutyens setzt sich mit Körper und Geist über Neurologie und Spiritualität auseinander. Er hat in einer Klinik für Herz- und Schlaganfallpatient*innen zu Fragen der Therapie mit olfaktorischer und haptischer Erfahrung geforscht: Der Geruchssinn aktiviert etwa viel stärker Erinnerung, als es das Sehen macht. Hier gibt es in der Schau also auch viel zu ertasten und zu riechen. Wir haben Emilie L. Gossiaux dabei, sie hat gerade eine große Einzelausstellung im Queens Museum in New York. Sie macht Kunst mit ihrem Blindenhund. Die Künstlerin ist mit 16 Jahren aufgrund eines Unfalls erblindet und sie arbeitet viel über die Symbiose von Mensch und Tier als Erweiterung des Körpers.
Ein israelischer Künstler ist auch dabei.
Ja, Itamar Gov, der in Berlin und in Rom arbeitet. Er zeigt eine Arbeit zur Farbe Blau, eine große Farbtafel mit 100 Variationen von Blau, wobei eine Farbe fehlt, nämlich Preußischblau oder Berlinblau. Das ist das erste moderne, künstliche entwickelte Pigment, das vor 300 Jahren durch einen Zufall entstanden ist und in den Nürnberger Prozessen eine forensische Rolle spielte. Seine Arbeit thematisiert Zusammenhänge von individueller Wahrnehmung und kollektiver Erinnerung. Dann ist noch Berenice Olmedo dabei, die sich mit dem Optimierungsgedanken durch Technik innerhalb der medizinischen Welt auseinandersetzt, die also zum Beispiel mit Prothesen arbeitet. Ein zentraler Indikator der menschlichen Überlegenheit hängt wesentlich mit dem aufrechten Gang zusammen, den wir lernen müssen und auch wieder aufgeben. Und Benoît Piéron ist ein chronisch kranker Künstler, der wirklich wahnsinnig viel Lebenszeit in Krankenhäusern verbringt. Er arbeitet humoristisch zum Beispiel mit Bettlaken, die er zu Stofftieren umwandelt, oder macht aus einem Infusionsständer spielerisch eine bunte Lampe.
Ein paar fehlen noch …
Imogen Stidworthy ist dabei mit Filminstallationen zu Neglect- und Aphasie-Patienten. Dazu hat sie einige Zeit in einer Klinik in Göttingen geforscht. Eine sehr feinsinnige Video- und Audio-Installationen zu ganz individuellen Geschichten. Dann haben wir Peter Schloss, der Kunstwerke in Brailleschrift zeigt, die wir als meist Sehende nicht beherrschen. Wir brauchen also jemanden, der das übersetzen kann. Er hat aber auch eine Bodeninstallation entwickelt, die sich durch die Ausstellung zieht: ein Leitsystem für blinde Menschen und gleichzeitig eine konzeptuelle Bodeninstallation, die zu der Kunst führt, die man anfassen kann und auch zu Audiodeskriptionen per QR-Code. Und dann haben wir noch Nikita Kadan, ein ukrainischer Künstler, der mit so einer Prothese eine Geschichte eines Veteranen erzählt und der auch über die Nutzung von medizinischem Cannabis und anderen Opiaten als Versehrter in der Ukraine berichtet. Nicht zu vergessen ist Panteha Abareshi, eine junge Künstlerin aus L.A., die an Sichelzellanämie leidet, das ist eine Blutkrankheit. Sie braucht sehr viel Dialyse, weil permanent ihr System verklumpt. Sie zeigt einen Film mit dem Titel „Not a Body“, in dem sie sehr symbolhaft diese Kunststoffbänder zeigt, die wir sowohl im Kreißsaal als auch auf der Palliativstation kennen, sobald man als „Körperobjekt“ im Gesundheitssystem mäandert. Und bei den Performances geht es schließlich auch um Körperlichkeit, um Körperpolitik. Um Normen, die natürlich nur ein Konstrukt der Mehrheit sind. Wir leben in einer Welt der Stigmatisierung, denn die Behinderung liegt außerhalb der Norm und wird als eine extreme Einschränkung wahrgenommen; vor wenigen Dekaden hat man Menschen im Rollstuhl oder mit Neurodiversität nicht in der Öffentlichkeit gesehen. Und mittlerweile gibt es in einigen Supermärkten einen Tag der Stille und auch Menschen mit nicht diagnostizierten „Einschränkungen“ empfinden das als unglaublich erholsam. Das ist der Perspektivwechsel.
Und die Vorbereitungen auf 2025 laufen auch schon, richtig?
Ja, wir werden im Januar wieder Künstler aus der Ukraine zeigen. Es kommt momentan sehr viel hochqualitative Kunst aus der Ukraine. Wir haben beispielsweise zwei junge Filmemacher, die in den 90er-Jahren geboren sind, die zeigen unter anderem einen Film über ein systematisch ausgeraubtes Heimatmuseum in Cherson. Da geht es den russischen Aggressoren natürlich darum, die identifikatorischen Elemente zu zerstören, die durch die Kultur gestiftet werden. Es geht darum, die Geschichte auszulöschen. Wenn jemand sagt, Kultur, das sei doch nur so ein bisschen Kino und Theater, dann zeigt dieser Film, dass es ganz anders ist, dass es um einen extrem identifikatorischen Punkt geht. Kultur wird ja gerne als Luxus bezeichnet, womit dann auch Kürzungen gerechtfertigt werden. Sie ist de facto aber Lebensmittel.
● Interview: LAK