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El Kurdis Kolumne im Juni: Die christliche Fett-weg-Spritze

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El Kurdis Kolumne im Juni: Die christliche Fett-weg-Spritze


In den USA wurde schon so manche fundamentalistisch-evangelikale Kirche nur gegründet, um deren Gottesdienste landesweit im Fernsehen übertragen zu können. Nur so hat man die Möglichkeit, Schwule und Lesben mit möglichst großer Reichweite zu hassen und gleichzeitig über regelmäßige Spendenaufrufe die Luxuswagen-Flotte des jeweiligen Kirchenbosses zu finanzieren. Oder seine 35-Zimmer-Villa. Ich wünschte übrigens, das wäre eine polemische Übertreibung. Nur ein Beispiel: Der Chef der Lakewood-Mega-Church Joel Osteen lebt in einem 1.600 Quadratmeter großen Anwesen, das zwölf Millionen Dollar wert ist. Osteens Vermögen wird auf mindestens 100 Millionen Dollar geschätzt, sein Einkommen beträgt über 70 Millionen Dollar pro Jahr. Soviel zum Erfolg der vermeintlich christlichen Botschaft mit Hilfe der traditionellen Medien.

Inzwischen werden im Christenmilieu aber auch modernere Kanäle genutzt, vor allem von einzelnen missionarisch beseelten jungen Menschen, den sogenannten „Christfluencern“. Auf YouTube, Instagram und TikTok bringen es die amerikanische Internetstars auf Millionen Followerzahlen. Aber auch deutsche Teens und Twens, die digital auf den Spuren des Nazareners wandeln, schaffen es, zehn- bis hunderttausende Anhänger auf ihren Profilen zu versammeln.

Dort erzählen sie ihren jungen Jüngern, was reaktionäre Christen labilen Menschen heutzutage eben so erzählen: Warum Abtreibung und Homosexualität Sünden sind, dass Männer Männer und Frauen gefälligst Frauen bleiben sollen, und sie loben die Freuden der vorehelichen Keuschheit, die „Purity Culture“. Der einzige Unterschied zu den Old-School-Predigern ist, dass die jungen Menschen sich äußerlich und oberflächlich irgendwie „hip“ geben. Und „authentisch“ – oder was sie dafür halten: Sie wuscheln sich zwischendurch cute durchs Haar, ordnen nachdenklich ihren Dutt oder tanzen auch mal unmotiviert zu Popmusik. Und hier und da streuen sie ein „nice“ oder „instantly“ in ihre Predigt-Reels.

Einer der Stars der deutschen Jesus-Szene ist Jana Hochhalter, die sich als Christfluencerin „Jana Highholder“ nennt. Die 26 Jahre alte Koblenzerin ist ein hyperaktiver Tausendsassa: Autorin von sieben Bücher, Podcasterin, Poetry Slammerin, „Speakerin“. Und sie sieht zudem nach den üblichen Internetmaßstäben gut aus. Wie überraschenderweise die meisten Christfluencer, ob Mann oder Frau: Alles tippitoppi gestylte „Germany‘s next Top-Christen“.

Interessant ist, dass die gerade fertig studiert habende Medizinerin Jana Hochhalter neben ihrer Christfluencerei auch noch als Ärztin praktiziert. Auch das ist für sie ein Gottesdienst. Auf Instagram zeigt sie ein Video, auf dem sie vor Arbeitsbeginn betet: Nicht kniend, mit gefalteten Händen, sondern stehend: Die Augen geschlossen, die Arme ausgebreitet und gen Himmel gerichtet, so als wäre sie eine menschliche Antenne und als wollte sie den Heiligen Geist auf Langwelle empfangen. Dazu schreibt sie: „Jeden Morgen vor der Arbeit bete ich für den Tag; für die Patienten, denen ich begegnen werde, für die Gespräche, die ich führen werde und für die Entscheidungen, die ich treffen werde. Ich lege all mein Wissen und meine Fähigkeiten in die Hände Gottes und bitte ihn, durch mich zu wirken.“

Nun hat sich Jana von allen Medizinbereichen, in denen man als frommer Mensch christliche Nächstenliebe praktizieren könnte, einen ganz besonderen ausgesucht: Sie bietet in einer Privatpraxis in einem Wellnesshotel „ästhetische Medizin“ an. Dort kann man sich so allerhand injizieren lassen: „Botox (ab 250 Euro)“, „Skinbooster (ab 290 Euro)“, „Hyaloron (ab 300 Euro)“ oder die „Fett-weg-Spritze (ab 350 Euro)“. Ein Spötter würde jetzt vielleicht fragen: Pfuscht Jana damit nicht dem Herrgott ins Handwerk? Unterstützt sie so nicht den Äußerlichkeitswahn einer egozentrischen, sexbesessenen Gesellschaft? Verrichtet sie damit nicht das Werk Satans?

Das Gegenteil ist richtig. Denn Jana ist eine dialektisch denkende Fundamentalistin. Sie weiß, dass sie selbst gesegnet und auserwählt ist, dass aber nicht alle Gläubigen so gut aussehen können wie sie. Vor allem aber weiß sie, dass der Fanatismus die Gesichter der meisten Frömmler langfristig brutal zeichnet. Und deswegen spritzt sie ihren Glaubensbrüdern und – schwestern die Enthaltsamkeits-Falte zwischen den Augenbrauen glatt, pufft ihre verkniffen-schmalen Bigotterie-Lippen auf und lässt per Lypolyse den Glaubenskummerspeck um die Hüften verschwinden. Eine schönere Definition von „Caritas“ kann es gar nicht geben.

● Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Mai: Der rauchende Mormonen-Colt

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El Kurdis Kolumne im Mai: Der rauchende Mormonen-Colt


Manchmal bin ich extrem neidisch. Auf andere Sekten. Wie ich ja schon öfter hier berichtete, verbrachte ich meine Kindheit bei den Zeugen Jehovas, einer bizarren, in den USA gegründete „religiösen Sondergemeinschaft“ – wie die Wissenschaftler*innen solche Kulte inzwischen nennen. Immer wenn ich Menschen von meinen diesbezüglichen Erfahrungen berichte, ernte ich verwunderte, neugierige Blicke. Liefere ich Details, werden diese Blicke mitleidig: Predigtdienst von Tür zu Tür, keine Weihnachts-, Ostern- oder Geburtstagsfeiern, das Verbot von Bluttransfusionen (auch bei Lebensgefahr, auch bei Kindern), der täglich drohende Weltuntergang, kein Sex vor der Ehe, striktes Masturbationsverbot, Homophobie deluxe …

Was andere verstört, war für mich normal: Aufstehen, Mini-Schlips und Mini-Sakko anziehen und mit einem Erwachsenen von Haus zu Haus gehen. Religiöses Klinkenputzen. Öffnete jemand, musste ich Sätze sagen wie: „Haben Sie sich schon mal gefragt, warum es soviel Elend auf der Erde …?““ Rumms, Tür zu. Nervig, repetitiv, deprimierend. Eine knochentrockene, freudlose Buch-Religion, die man nur durch ein gemäßigtes Doppelleben ausgleichen konnte. Das hieß als Kind z.B.: Einen Zündplättchen-Revolver in einem Schuhkarton unterm Bett verstecken – und als Jugendlicher: Bravo lesen und leichtes Petting mit Regina Grunewald. Mit anschließendem schlechten Gewissen.

Was ich damals noch nicht wusste, war, dass es vergleichbar strenge Kulte gibt, die zwar nicht besser, aber in ihrer Lehre und Historie viel interessanter – weil noch durchgeschepperter – als die drögen Zeugen Jehovas sind.

Aus naheliegenden Gründen bin ich inzwischen Hobby-Sektologe und habe mich vor allem mit den klassischen, im 19. Jahrhundert entstandenen christlichen Kleingruppierungen beschäftigt. Hier nun das Ergebnis meines kopfinternen Votings zur prickelndsten Schrullen-Religion. Trommelwirbel: Die Mormonen!

Es gibt viele Gründe für meine Wahl: Ihr Glauben, dass Gott in der Nähe des Planeten „Kolob“ in der Sternengruppe der „Kokaubeam“ lebt, die heilige mormonische Unterwäsche, die Vielehe – inzwischen nur noch von fundamentalistischen mormonischen Sekten, also von Sekten-Sekten, praktiziert – oder die Lehre, dass Jesus nach seinem Tod eine Stippvisite in Amerika machte, um zu den dortigen Bewohnern zu predigen …

Das Faszinierendste aber ist: Die Mormonen haben ihren eigenen Revolverhelden, mit einem richtigen Revolverhelden-Namen: Porter Rockwell. Sein Beiname: „The Destroying Angel of Mormondom“. Rockwell war ein Jugendfreund und später der Leibwächter des Sektengründers Joseph Smith. Er gehörte zu den ersten getauften Mitgliedern der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ – wie die Mormonen offiziell heißen. Er trug einen langen Western-Staubmantel, soff wie ein Loch (obwohl die Mormonen Alkohol verbieten) und schnitt sich – wie der biblische Simson – nie die Haare, weil Smith ihm prophezeit hatte, langhaarig sei er unbesiegbar. Rockwell soll hunderte von Leuten umgelegt haben und wird mit dem Satz zitiert: „I never killed anyone who didn’t need killing„. Als Porter Rockwell angeklagt wurde, ein – missglücktes – Attentat auf einen mormonenfeindlichen Politiker verübt zu haben, verteidigte er sich völlig logisch: „I’ve never shot AT anybody.  If I shoot, they get shot“. Womit er sagen wollte: „Wäre ich es wirklich gewesen – dann wäre er jetzt tot.“

Ich kann mir gut vorstellen, dass ein solcher Outlaw mein zehnjähriges, heimlich „Rauchende Colts“ schauendes und Spielzeug-Knarren versteckendes Doppelleben-Ich auf eine ambivalente Art schwer fasziniert hätte. Aber sowas gab es bei den Zeugen nicht. Im Zeugen-Jehovas-Königreichssaal wurde Gewaltverzicht gepredigt. Außer man bestrafte seine Kinder („Wer seine Rute zurückhält, hasst seinen Sohn“, Sprüche 13:24). Damals wurden elterliche Schläge ganz offen z.B. im „Wachtturm“ empfohlen, heute hält man sich diesbezüglich bedeckt. Meiner Meinung nach aus rechtlichen Gründen, aber ich mag mich täuschen. Die ultimativ erlaubte Gewalt aber ist natürlich die Gottes: Wenn Jehova bei Armageddon alle Ungläubigen in einem großen Feuersturm (oder ähnlichem) vernichtet. Aber sonst: Love and Peace.

PS: Interessant ist, dass die Mormonen Porter Rockwell und ihre auch ansonsten oft von Gewalt geprägte Geschichte inzwischen gerne mal unter den Tisch fallen lassen. So wie auch Protestanten nicht unbedingt freiwillig über die antijüdische Hetze Martin Luthers sprechen. Transparenz sieht allerdings anders aus…

● Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im April

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El Kurdis Kolumne im April


Kunst-Epiphanien an der Zonengrenze

Nicht erst seit im letzten Herbst die komplette Findungskommission zurückgetreten ist, fragen sich viele Leute: Wird die nächste Documenta im Jahr 2027 – also Nummer „16“ – überhaupt noch stattfinden? Und noch dazu in Kassel? Während des antisemitischen Skandals der letzten Ausstellung äußerten ja nicht wenige Kunstbetriebler aus der Hauptstadt, es sei sowieso schon lange eine Zumutung, eine Weltkunstausstellung ausgerechnet an dieser nordhessischen Milchkanne zu veranstalten.

Oft stellten sie sogar eine Verbindung zwischen der Provinzialität des Ortes und den judenfeindlichen Entgleisungen her. Wobei die diesjährige Berlinale-Preisverleihung ja sehr unschön bewiesen hat, dass eine simplifizierende „Palästina-gut-und-antikolonial/Israel-böse-und-genozidal“-Propaganda auch auf einer Kulturveranstaltung in Berlin nicht nur widerspruchslos verbreitet werden kann, sondern vom Publikum auch noch begeistert beklatscht wird.

Und obwohl oder grade weil mir bewusst ist, dass sich die Ausstellungsmacher*innen, die Ausstellenden und die Besucher*innen der Documenta noch nie für Kassel als den Ort des Geschehens interessiert haben – hier ein zutiefst provinzielles Plädoyer eines Ex-Kasselers für die Fortführung diese Kunstereignisses genau dort: In der nordhessischen Taiga, in – wie die Frankfurter sagen – „Hessisch-Sibirien“.

Zunächst einmal: Kassel ist kein übler Ort. Man kann da leben, arbeiten, aufwachsen, ohne traumatisiert zu werden. 200.000 Einwohner, viel Grün, viele Nachkriegsbauten. Stünde da nicht auf einem Hügel über der Stadt dieser verstörende große nackte Mann mit einer Keule könnte man Kassel ganz gut mit Braunschweig vergleichen. Und auch wenn viele Hannoveraner*innen ein Leben in Braunschweig als ungefähr so lebenswert einschätzen wie Loriot ein Leben ohne kleine faule Sofa-Hunde („Ein Leben ohne Möpse ist zwar möglich, aber sinnlos“), kann ich aus eigener Erfahrung sagen: Selbstverständlich hat Hannover wesentlich mehr zu bieten als seine ostfälische Nachbarstadt – aber Braunschweig ist eben auch okay. So wie Kassel. Beide Städte, Kassel wie Braunschweig, lagen übrigens ziemlich nah an der DDR-Grenze. Im Zonenrandgebiet. Böse Zungen behaupten, dass man das heute noch merkt. Worauf will ich hinaus? Vielleicht hierauf: Kassel ist so mittel.

Als Jugendlicher will man aber mehr als „mittel“. Man will Aufregung, Abenteuer, Leidenschaft. Man will am eigenen Leib erfahren, was so alles geht. Und da kommt die Documenta ins Spiel: Für viele in Kassel Aufgewachsene gab es mindestens eine Documenta, die sie im Nachhinein als Erweckungserlebnis interpretieren.
Bei mir waren es mehrere. Als Kind und als Jugendlicher liebte ich alle drei Ausstellungen, die ich bei vollem Bewusstsein erlebt habe: 1977, 1982, 1987. In meiner Erinnerung begann bei jeder dieser „Documenten“ die sonst eher dösende Stadt plötzlich zu vibrieren. Und zu klingen. Es war geradezu metaphysisch: Kassel sprach in Zungen. 100 Tage lang. Und das nicht nur, wie sonst an den Nebenspielorten, in den randständigen Einwanderer-Vierteln wie dem, in dem ich aufwuchs. Auch in der guten Stube der Stadt wurde von einem Tag auf den anderen fremdgesprochen: In der Fußgängerzone, in den Cafés, in den Geschäften. Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch… Sogar Japanisch. Überall sah man Leute in absurd-exzentrischer Kleidung. In Zeiten, in denen niemand das Wort ‚non-binär‘ auch nur gedacht hatte, begegneten wir Menschen, die wir beim besten Willen keinem der uns bekannten Geschlechter zuordnen konnten. Wir fanden es super.
Überall fand Kultur statt. Im offiziellen Rahmenprogramm, aber oft auch spontan und überfallartig: Draußen, auf Plätzen, in Parks, in Kneipen. Und vor allem: in unseren Köpfen. Ich wünschte mir damals, dass Kassel immer so wäre. Oder mein Leben.

Und obwohl wir keinen Dunst von Kunst hatten, lernten wir, sie zu verteidigen. Wir stritten mit Eltern, Tanten, Lehrerinnen, und – wenn es sein musste – auch mit Passanten, die sich zum Beispiel über Outdoor-Skulpturen aufregten. Manchmal erklärten wir auch – anderen Passanten gegenüber – irgendeinen beliebigen Bauzaun zum Documenta-Kunstwerk, und waren ein bisschen enttäuscht, wenn das schulterzuckend hingenommen wurde.
Anders gesagt: Wenn man wirklich will, dass Kunst eine Wirkung auf viele unterschiedliche Menschen hat – und nicht nur auf die üblichen Verdächtigen, das museumsbesuchende Bildungsbürgertum –, dann sollte man eine solche Ausstellung in ihrem lebensverändernden Potenzial nicht an Berlin verschwenden.

● Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im März: mein erstes Mal

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El Kurdis Kolumne im März: mein erstes Mal


Ich möchte nicht missverstanden werden: Poetry-Slam ist ein absolut begrüßenswertes Phänomen! Junge Menschen schreiben, lesen vor, hören zu – was will man mehr in Zeiten wie diesen, in denen 25 Prozent der deutschen Grundschüler*innen Probleme mit Buchstaben und Sätzen haben. Im Ranking der IGLU-Studie liegen wir damit nicht nur, wie zu erwarten war, hinter Hongkong, Norwegen, Dänemark und Singapur, sondern auch hinter Russland, Macau und Österreich!

Insofern: Gelobt sei die Jugend, die sich in der Kulturtechnik des Lesens und Schreibens übt, die Lyrik und Prosa produziert, die mit Worten spielt. Alles gut. Sicher, man fragt sich, warum alle Texte immer im gleichen künstlichen Slam-Singsang vorgetragen werden müssen, und wer diesen wann auf welcher Bühne erfunden hat – aber okay, genauso könnte man fragen, wieso circa 62,7 Prozent der Kulturwissenschaftsstudentinnen einen Micro-Pony kurz unterm Haaransatz tragen oder warum irgendwer glaubt, Süßkartoffel-Pommes wären ein guter Ersatz für Standard-Fritten. Oder gar ein kulinarischer Fortschritt.

Als ich anfing, auf Bühnen vorzulesen, war diese Form der Text-Darbietung noch nicht erfunden. Ich gehöre zur „Lost Generation“: Zu jung für „Social Beat“, zu alt für „Poetry Slam“. Ich bin quasi zwischen die Zeit-Sofapolster gerutscht. Wie schon zuvor, als ich zwischen die Fronten von Progrock und Punk geriet. Oder politisch in die Twilight-Zone zwischen K-Gruppen und Grüne. Nur für eine Sache befand ich mich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort: Für die Ausstrahlung einer Sitcom über einen abgestürzten Außerirdischen mit Katzenappetit. Das ist die einzige Generationen-Community, in die ich mich ohne Bedenken einordnen würde: Die „Generation ALF“. Weswegen ich in meinem Kopf bis heute vieles im Tonfall und mit der Stimme von Tommy Piper kommentiere. Aber darüber rede ich nur mit meiner Therapeutin.

Dennoch dachte ich vor einiger Zeit: Einmal muss ich das machen. Einmal in meinem Leben muss ich an einem Poetry-Slam teilnehmen. Also ging ich ins Kulturzentrum meines Vertrauens, ließ mich auf die Liste setzen und enterte den Backstagebereich. Als ich den Raum betrat, hörten alle auf zu reden und schauten mich an, als sei ich der Rektor, der unangekündigt im SV-Raum erscheint, um zu kontrollieren, ob da nicht vielleicht gekifft wird.

Ich sagte: „Hallo, ich bin Hartmut, ich lese heute auch.“ Die Gesichter entspannten sich. Die Gespräche wurden fortgesetzt. Um mich herum. Mit mir wurde nicht geredet. Vermutlich aus Respekt vor dem Alter. Vielleicht hatten sie auch Angst, ich würde Sütterlin oder Fraktur sprechen. Keine Ahnung. Irgendwann erbarmte sich eine junge Frau und sprach mich auf meine „Vintage-Freitag-Tasche“ an: „Die ist doch bestimmt 20 Jahre alt?“ In meinem Empfinden hatte ich sie mir erst vorgestern gekauft. Bei einem Basel-Besuch. Dann fiel mir ein, dass der Grund für den Besuch eine Lesung gewesen war, zu der mich mein Freund Mazze, damals Dramaturg am dortigen Stadttheater, eingeladen hatte. Es musste also 2002/2003 gewesen sein. „Ja, kommt ungefähr hin“, antworte ich. Sie nickte anerkennend. „Ey, wenn du die mal verkaufen willst …!“ – „Im Moment nicht, aber klar, dann sag ich Bescheid!“

Mein Auftritt rückte näher. Wahrscheinlich wirkte ich etwas nervös. Zumindest sprach mich ein anderer Teilnehmer – „Finn“, so Anfang zwanzig – freundlich und in vermutlich beruhigender Absicht an: „Bist Du aufgeregt? Ich hab Dich noch nie bei einem Slam gesehen“. – „Ist auch mein erster.“ – „Cool, neulich war ich bei einem Slam in Osnabrück, da war einer, der war siebzig oder so. Finde ich krass, wenn man das in dem Alter noch probiert.“ Ich nickte. Ich fands auch krass.

Ich zog meinen Text aus meiner „Vintage-Freitag-Tasche“. Finn zeigte auf die Blätter. „Ich mache meine Texte immer auswendig. Das würde ich dir auch empfehlen. Da ist man lockerer und viel freier.“ – „Nee klar“, sagte ich und beschloss meine Rolle als Senioren-Slammer noch auszubauen, „aber weißte, das Gedächtnis …“ – „Verstehe“, antwortete Finn „vorlesen geht natürlich auch“. Er gab mir dann noch ein paar Tipps für meine Performance, über den Umgang mit dem Publikum, den Sinn und Unsinn von Pausen und noch einiges mehr. Schließlich war er schon mindesten eineinhalb Jahre im Business. Ich bedankte mich höflich. Und dann ging ich auf die Bühne und las vor, wie ich eben so seit über 30 Jahren vorlese.

Ich wurde Vorletzter. Ich hätte mal lieber auf Finn – den souveränen Sieger des Abends – hören sollen.

 

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Januar

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El Kurdis Kolumne im Januar


Sekten, Sekten, nichts als Sekten

Spätestens seit der Pensionierung Rolf Seelmann-Eggeberts gelte ich als der führende „Haus Windsor“-Experte Niedersachsens. Oder zumindest Hannover-Lindens. Auch an dieser Stelle habe ich mich schon mehrfach zum britischen Königshaus geäußert, von der Personalunion – in der zunächst der Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg, dann der König von Hannover gleichzeitig der König von Großbritannien war – über die kolonialen Verbrechen des Empires bis hin zu den antroposophisch-homöopathischen Tendenzen König „Prinz“ Charles III. Immer mal wieder fand auch meine beachtliche Sammlung von Teedosen und -tassen mit royalen Motiven Erwähnung in dieser Kolumne.

Selbstverständlich lese ich alles, was in Buchform über die Royals erscheint. Und zwei Mal im Monat suche ich eine Arztpraxis auf, um dort die Fachpresse zu studieren. Seit einigen Jahren habe ich mir zudem einen Google-Alert zu den Suchbegriffen „Balmoral“ und „adelige Gendefekte“ eingerichtet. Im Zuge dieser Recherchen stieß ich vor zwei Jahren auf einen Artikel der US-Autorin Amanda Montell, in dem diese die These aufstellte, das Haus Windsor sei eine Art Sekte. In beiden Phänomenen gebe es: „Extreme Exklusivität, bizarre Regeln, Geheimhaltung, Lügen, Isolation, psychologische Kriegsführung und eine Wir-gegen-die-anderen-Haltung.“
Auf diesen Gedanken war ich – obwohl selbst bei den Zeugen Jehovas sektensozialisiert – noch nie gekommen, fand ihn aber sofort einleuchtend. Dann las ich die Memoiren von Prinz Harry, in denen er die Royals sogar als „Todeskult“ bezeichnete: „Schloss Windsor selbst war eine Gruft, die Wände voller Ahnen. Der Tower of London wurde von Tierblut zusammengehalten, das von den Erbauern vor tausend Jahren verwendet wurde, um den Mörtel zwischen den Ziegeln zu härten.“
Plötzlich wurde mir klar, warum ich mich seit Jahren weigerte, in den europäischen Hochadel einzuheiraten. Theoretisch. Praktisch stellte sich die Frage zugegebenermaßen noch nie. Egal. Aus dem gleichen Grund trete ich übrigens auch in keine Partei ein. Einmal dafür sensibilisiert – erkennt man Sektenstrukturen überall. Was nicht wirklich hilfreich ist, wenn man zu paranoidem Denken neigt …

Menschen treten zum Beispiel in die SPD oder bei den Grünen ein, weil sie für eine fortschrittliche Migrationspolitik sind – nicht nur aus humanistischen Gründen, sondern auch weil sie wissen, dass wir Arbeitskräfte brauchen und dass man sich in einer globalisierten Welt nun mal nicht abschotten kann. Dafür schien sich Rot/Grün in den letzten Jahren stark gemacht zu haben. Dann änderten die Chefetagen die Lehre. Es ist kein radikaler 180-Grad-U-Turn (wie z.B. bei den Sozialdemokraten in Dänemark), aber doch eine graduelle Tendenzwende. Klar, Migration immer noch, irgendwie, aber anders. Weil die Bürger*innen im Land das angeblich wollen, die Kommunen stöhnen, weil die rechte Opposition das Thema in Wahlkämpfen ausschlachtet, weil die Koalition sowieso wackelt … kurzum: weil man weiterregieren möchte. Also werden die Regeln angepasst, Ziele umdefiniert und ein neuer Ton wird angeschlagen. Bei uns im Zeugen-Jehovas-Königreichssaal wurde eine solche „Korrektur“, ein solcher Schwenk im Glaubensgefüge als „neues Licht“ bezeichnet. Und schwupps verteidigen (fast) alle Mitglieder die faktische Abschaffung des Asylrechts und finden es okay, dass der Kanzler sagt – so Law-and-Order-mäßig wie Olaf Scholz das eben kann – wir müssten nun „im großen Stil abschieben“. Beziehungsweise: Die rot/grünen Abgeordneten leugnen natürlich, dass das Asylrecht abgeschafft wird und sagen, man wolle ja nur die … die …. die Nichtberechtigten … und Straftäter … also die Sünder, die Bösen … in die Hölle … äh … zurück nach … na, ihr wisst schon…

Ich möchte jedoch auf keinen Fall alle Parteimitglieder solchen Sektendenkens bezichtigen. Ich kenne einige sehr ernsthafte und engagierte Menschen in verschiedenen Parteien, die ihrer Führung gegenüber sehr kritisch sind. Leider jedoch machen diese Leute selten wirklich Karriere in ihrem jeweiligen Verein. Oder ausnahmsweise doch mal – und dann wandeln sich spätestens im Zuge dessen zu strammen Parteisoldaten.
Aber vielleicht erübrigt sich das alles demnächst auch von selbst. Auch das passt zum Thema. Montell benennt als Sekten-Kriterium ja auch eine „extreme Exklusivität“. Und z.B. die 8,4 Prozent für die SPD bei der diesjährigen Landtagswahl in Bayern oder die 4,99 Prozent der Grünen 2022 im Saarland sind schon – das muss man zugeben – sehr exklusiv. Leider.

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im November

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El Kurdis Kolumne im November


Boris Palmers neuer alter Bart

Vor einiger Zeit saß der Ex-Grüne Boris Palmer in einem der Halbschalensesselchen in Markus Lanz‘ Fernsehstudio und präsentierte ein achtelherziges ‚mea culpa‘. Die Redaktion hatte ihn mit den Worten angekündigt: „Nach Rassismus-Vorwürfen hat sich der parteilose Tübinger OB eine Auszeit genommen.“ Palmer wolle in der Sendung „zu dem Eklat“ Stellung nehmen.

Zunächst fiel jedoch Palmers neuer Facial-Hair-Style ins Auge. Er hatte sich von seinem rebellischen unrasierten Bartschatten-Look verabschiedet, um sich in der einmonatigen Auszeit einen voluminösen Tippi-Toppi-Oppa-Vollbart wachsen zu lassen. Wohl um reifer zu erscheinen. Es fehlten nur noch Strickjacke, karierte Puschen und ein gemütliches Pfeifchen – und das neue Senioren-Image wäre perfekt gewesen.

Tatsächlich begann Palmer auch mit einer kurzen, scheinbar altersweisen Introspektion: Der Entschluss für seinen temporären Rückzug sei gefallen, nachdem er über den Vorfall vor dem Gebäude der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt nachgedacht habe. Dort hatte er vor aufgeregten jungen Menschen darauf bestanden, dass man in bestimmten Zusammenhängen sehr wohl das N-Wort benutzen dürfe, zum Beispiel, wenn man darüber diskutiere, ob man das N-Wort benutzen dürfe. Zum Beweis benutzte er das N-Wort dann gegenüber einem jungen schwarzen Protestierer, der ihn zuvor aufgefordert hatte, ihm das N-Wort doch ins Gesicht zu sagen. Als die aufgeregten jungen Menschen daraufhin noch aufgeregter wurden, behauptete Palmer, wenn man ihn nun wiederum als Nazi bezeichne, nur weil er das N-Wort benutze, sei das „nichts anderes als der Judenstern“. So weit, so dumm, so wenig überraschend.

In Lanz‘ Sendung folgte dann Palmers vermeintliche „Reflektion“. Er gestand ein, dass die Bemerkung mit dem „Judenstern“ unverzeihlich sei, weil man damit den Holocaust verharmlose. Kurz dachte man: Na, is da womöglich doch was passiert im Oberstübchen? Hat er vielleicht wirklich etwas kapiert? Aber schnell machte er klar, das Problem habe nichts mit seinem Denken oder seinen politischen Positionen zu tun, sondern mit seiner Impulskontrolle. An dieser müsse er arbeiten. Das habe er während eines Coachings in der Auszeit verstanden. Um nicht wieder auszurasten, sage er jetzt zu bestimmten Themen gar nichts mehr. Eine Therapie sei das übrigens nicht gewesen. Die brauche er nicht. Das habe er von Fachkräften checken lassen. Um aber im nächsten Moment ein Thema für mindestens drei Jahre intensive Psychoanalyse auszupacken …

Das Ganze hinge mit seinem Vater Helmut Palmer, dem „Remstall-Rebellen“ zusammen. Vater Palmer war ein Bürgerrechtler, der als parteiloser Einzelkandidat bei zahlreichen Bürgermeister-, Landtags- und Bundestagswahlen antrat, aber trotz einiger Achtungserfolge nie ein Mandat errang. Er kämpfte furios verbal um sich schlagend gegen den Nazi-Filz im Filbinger-Baden-Württemberg, gegen den Bau der Neckar-Alb-Autobahn und gegen Arschgeigen an sich. Aufgrund seiner Proteste saß er auch mehrere Male im Gefängnis, was sein Sohn als für sich traumatisch beschreibt.

Selbstverständlich ist die Inhaftierung eines Elternteils für ein Kind traumatisch, aber wie Boris Palmer aus dem ebenso interessanten wie exzentrischen politischen Leben seines Vaters und aus dessen Geburtsumständen – Helmut Palmer kam 1930 als unehelicher Sohn eines verheirateten jüdischen Metzgermeisters und einer Verkäuferin auf die Welt – für sich eine Erklärung zimmert, warum er einem schwarzen Menschen gegenüber das N-Wort benutzt, um kurz danach die Kritik daran als „Judenstern“ zu bezeichnen – das können wahrscheinlich wirklich nur Psycho-Experten erklären.

Abgesehen davon, dass Palmer sich inzwischen längst wieder zu „bestimmten Themen“, also zu Fragen von Flucht und Migration äußert, war es auch in der Sendung schon offensichtlich, dass er über seine wahren Defizite noch nicht mal im Ansatz nachgedacht hatte. Vor allem nicht über seine Obsession bezüglich der Herkunft von Menschen. Aber danach hatte sein vermutlich hochbezahlter Coach ihn wohl auch nicht gefragt. Palmer selbst kapiert ja überhaupt nicht, dass er dieses Problem hat. Wodurch er es ununterbrochen potenziert.

Dabei ist es gar nicht so schwierig: Wir alle denken immer wieder in Stereotypen, auch in rassistischen. Weil wir damit aufwachsen. Nur, wenn wir das wissen, können wir verhindern, dass sie uns und unser Handeln bestimmen. Das nur so als ganz therapiefreies Kurz-Coaching, Boris. Völlig umsonst. Immer gerne.

 

Hartmut El Kurdi

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