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Editorial 2022-06: Über Wohlstand

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Editorial 2022-06: Über Wohlstand


Liebe Leserinnen und Leser,

es lag natürlich nahe, nach dem Thema „Armut“ in der Ausgabe Mai, in dieser Juni-Ausgabe das Thema Wohlstand ein bisschen näher zu beleuchten.
Gesprochen habe ich darüber mit Dr. Athanasios Karathanassis, sein Hauptarbeitsfeld ist die Kritische Politische Ökonomie. Er beschäftigt sich also unter anderem mit den Hintergründen von Armut und Reichtum, mit den Krisen im Kapitalismus und mit der Rolle der Natur in einer auf maßloses Wachstum abzielenden Ökonomie. Und inzwischen stellt er zusätzlich auch die Frage nach grundsätzlichen gesellschaftlichen Alternativen.
Ich sage es besser gleich, der Kapitalismus kommt nicht besonders gut davon in unserem Gespräch. Im Gegenteil. Er scheint mehr Problem als Lösung zu sein. Man kommt tatsächlich sehr ins Grübeln, vor allem in diesen Zeiten.

Die Diskrepanz zwischen Wohlstand und Moral ist momentan sehr offensichtlich. Deutschland ist gespalten bei der Frage, ob man weiter russisches Gas und Öl importieren soll. Finanziert man so nicht sehr direkt den Krieg in der Ukraine? Aber wenn wir nun verzichten, fügen wir dann nicht unserer Wirtschaft auf der anderen Seite einen riesigen Schaden zu, der sich in den nächsten Jahren sicher nicht reparieren lässt?
Was ist dann mit unserem Wohlstand?
Aus der Wirtschaft und auch aus den Parteien hören wir Schreckensszenarien. Natürlich, ein vollständiges Embargo würde große Teile unserer Wirtschaft hart treffen. Aber wenn wir mit einem Embargo helfen können, den Krieg in der Ukraine schnell zu beenden, muss es uns das nicht Wert sein? Wie gesagt, Deutschland ist wie selten geteilter Meinung, übrigens auch bei der Frage zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine.
Ich würde es sehr spannend finden, die jeweiligen Hälften abzugleichen mit den jeweiligen Vermögensverhältnissen auf beiden Seiten. Und ich wage mal eine steile These: Ich glaube, all jene, die eher wenig haben, befürworten ein Embargo und die Lieferung schwerer Waffen. Und je besser die Vermögensverhältnisse sind, desto größer wird das Unbehagen angesichts solcher Schritte. Wer mehr hat, hat eben mehr zu verlieren. Und die Menschen in Deutschland haben viel zu verlieren. Zumindest vergleichsweise.

Wir leben in einem relativen Wohlstand, verglichen mit anderen Ländern. Aber haben wir auch ein gutes Leben, sind wir entspannt und zufrieden, sind wir glücklich? Was verteidigen wir da eigentlich für einen Wohlstand?
Ich habe nicht den Eindruck, dass wir besonders glücklich sind. Und ich habe ehrlich gesagt immer weniger diesen Eindruck. Mir kommt im Gegenteil unsere Gesellschaft angespannt und abgehetzt vor, müde, erschöpft. Alle rennen um die Wette, kaum jemand scheint anzukommen. Fast alle haben Angst um ihre Existenz, Corona hat deutliche Spuren hinterlassen.
Und nun noch dieser Krieg.
Und die Inflation. Die drohenden wirtschaftlichen Folgen. Ohne Frage, unser Wohlstand ist massiv bedroht. Wir bangen um unsere Ersparnisse. Wir haben Angst. Eben noch hat sich alles halbwegs sicher angefühlt, eben noch waren unsere kleinen Geldspeicher ganz gut gefüllt und nicht in Gefahr, nun merken wir, dass wir global gesehen schon eine ganze Weile an der Kante balancieren. Unsere Welt ist plötzlich fragil.
Und es sieht nicht so aus, dass eine Rückkehr in ruhigeres Fahrwasser möglich ist. Zumal wir auf die Krisen unserer Zeit aus meiner Sicht mit den Ideen aus dem vergangenen Jahrhundert reagieren. Wir bewaffnen uns wieder bis an die Zähne und Christian Lindner ist überzeugt, dass Wachstum und Innovation am Ende alles zum Guten wenden werden.
Zum Guten für wen?
„Im Jahr 2016 besaßen die 62 reichsten Menschen der Welt mehr als die ärmere Hälfte der Welt. Und auch in Deutschland ist diese Entwicklung nachweisbar: Nach Angaben der Europäischen Zentralbank von 2017 besaßen die reichsten zehn Prozent in Deutschland 60 Prozent des gesamten Vermögens. Die reichsten 45 Deutschen besaßen vermutlich mehr als 50 Prozent. Und das mit steigender Tendenz“, diese Zahlen höre ich von Dr. Karathanassis in unserem Gespräch.
Ja, irgendwas läuft hier schief und gewaltig aus dem Ruder. Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir uns endlich die richtigen Fragen stellen. Ich glaube, wir müssen den Begriff Wohlstand ganz neu definieren, ihn mit neuen Inhalten füllen, ich glaube, wir sind unterwegs auf diversen Holzwegen. Ich bin davon schon eine ganze Weile überzeugt, nach meinem Gespräch mit Dr. Karathanassis bin
ich (leider) noch überzeugter. Und noch skeptischer beim Thema Kapitalismus.
Dazu hier an dieser Stelle zuletzt noch ein paar Sätze von Dr. Karathanassis, über die es sich aus meiner Sicht nachzudenken lohnt:
„Es war nie Absicht dieser Form der Ökonomie, für Gerechtigkeit und eine Bedarfsdeckung der Bevölkerung zu sorgen. Für die Sieger einer sich universalisierenden Konkurrenz ist Kapitalismus ein privater Segen. Der Reichtum der Global Player, beziehungsweise multinationaler Konzerne hat astronomische Höhen erreicht. Für den überwiegenden Großteil der Menschheit sind die Folgen des Kapitalismus aber nicht Wohlstand und Emanzipation, sondern Härte, Überlebenskampf und Naturzerstörung.“
Das ganze Gespräch ab Seite 52.
Viel Spaß mit dieser Ausgabe!
Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind

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