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Editorial 2022-04: Wie weitermachen?

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Editorial 2022-04: Wie weitermachen?


Liebe Leserinnen und Leser,
Wie weitermachen? Was kann man tun in solchen Zeiten? Spenden, die Wohnung mit Geflüchteten teilen, ein bisschen Farbe bekennen, so wie auf unserem aktuellen Titel? Ein paar große Worte schreiben? Reicht das?

Wir glauben, eine Aufgabe für uns alle kann auch sein, die Zuversicht nicht zu verlieren. Wir dürfen uns von Putin und Co. nicht deprimieren und nicht lähmen lassen. Dann hätte er gewonnen. Wir müssen weiter unser Leben leben, wir müssen zeigen, dass man auch friedlich und zivilisiert miteinander umgehen kann.
Womit wir bei der Kultur sind. Sie ist aus meiner Sicht immer ein Spiegel der Verhältnisse. Je freier und vielseitiger, desto freier und vielseitiger (und friedlicher) ist auch die Gesellschaft. Darum finde
n wir es wichtig, jetzt ganz bewusst wieder vor die Tür zu gehen, anderen zu begegnen, miteinander ins Gespräch zu kommen. „Kultur bedeutet Lebensqualität und Gemeinschaft, Offenheit, Vielseitigkeit“, hat Sonja Anders in der März-Ausgabe gesagt. Recht hat sie.
Und doch ist das alles gegenwärtig nicht so leicht. Alle Kulturschaffenden haben sich in den vergangenen Wochen ganz ähnliche Fragen gestellt: Wer möchte in solchen Zeiten ein Konzert besuchen, eine Vernissage, eine Lesung, ein Theaterstück? Dürfen wir uns überhaupt der Kultur widmen, wenn in der direkten Nachbarschaft Menschen so grausam leiden? Wie soll man eigentlich noch planen? In was für einer Welt werden wir morgen leben?
Alle Kulturschaffenden hatten gehofft, dass es nun wieder losgehen kann mit der Kultur, nach der Corona-Durststrecke. Alle hatten gleichzeitig Befürchtungen. Kommen die Leute wieder zu den Veranstaltungen? Oder haben sie während der Pandemie die Kultur ein bisschen „verlernt“?

Und nun auch noch dieser Krieg. Dürfen wir uns jetzt überhaupt noch mit schönen Dingen beschäftigen? Ja, wir müssen. Wir müssen die Kultur jetzt ganz bewusst geradezu zelebrieren. So ist die Idee entstanden, in dieser April-Ausgabe (mit 132 Seiten) ein starkes Zeichen für die Kultur setzen. Wir haben den Kulturschaffenden in Hannover und Region angeboten, bei uns etwas zu verlosen. Herausgekommen ist eine Versammlung vom 94 möglichen Gewinnen. Mitmachen lohnt sich! Denn Kultur lohnt sich für uns alle! Wir werden diese Aktion in unserem Hochschulmagazin, das direkt nach Ostern erscheint, darum mit teils anderen Gewinnen noch einmal wiederholen. Wir können nicht viel tun, aber vielleicht wenigstens ein paar schöne Impulse setzen … Mehr ab Seite 48.

Viel Spaß mit dieser Ausgabe!

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Tonträger im April

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Tonträger im April


The Jazz Defenders: King Phoenix
Der zweite Streich der Bristoler Jazz-Combo um Bandleader George Cooper bewegt sich zwischen klassischem, Bläser-getragenen Jazz der 60er-Jahre, breit orchestrierten Filmmusik-artig anmutenden Tracks und Bossa-Nova-Rhythmen. Gegründet aus der tiefen Liebe zu Blue Note Records heraus, transportieren die fünf, allesamt eigenständige Session-Musiker, diesen Sound mühelos.

 

 

 

 

 

Wet Leg: Wet Leg
Ein Debütalbum mit reichlich Vorschusslorbeeren, was die Zahl der Views der Single „Chaise Longue“ in den gängigen Portalen angeht, die dem britischen Duo ausverkaufte Hallen und Festivalzelte einbrachte. Rhian Teasdale und Hester Chambers haben mit und nach der Gründung der Band 2019 also alles richtig gemacht. „Ich wollte lustige Songs schreiben“, so Teasdale, „aber dann sickerte auch das Traurige durch.“

 

 

 

 

 

November Ultra: Bedroom Walls
Aufgewachsen mit spanischen und portugiesischen Eltern in Frankreich, fing sie schon als Jugendliche mit dem Songwriting an und wurde 2018 als Sängerin und Songwriterin des Indie-Trios Agua Roja entdeckt. Seit 2020 verfolgt sie ihren eigenen Weg, gilt bald als „Bedroom Pop Sensation“ und schlägt vor allem virtuell auf den gängigen Foren ein wie eine Bombe – nur watteweich und fluffig.

 

 

 

 

 

Theodore: The Voyage
Der griechische Komponist, Musiker und Multiinstrumentalist Theodore Polychronopoulos kombiniert elektronische und klassische Kompositionen und landet dabei irgendwo zwischen Ambient Post Rock und düsterem 80er Synth-Wave. „The Voyage“ ist ein atmosphärisch frei schwebendes Konzeptalbum rund um das Thema Weltraum, das in unseren dystopischen Zeiten eine optimistische Fluchthilfe sein soll.

 

 

 

 

 

Daniel Rossen: You Belong There
Er ist einer der Songwriter, Gitarristen und Sänger der US-amerikanischen Indie-Band Grizzly Bear und wollte nach 20 Jahren endlich einmal nur wie er selbst klingen. Der Multiinstrumentalist nahm Kontrabass, Cello, Holzblasinstrumente und natürlich die Gitarre mit an seinen neuen Rückzugsort, ein Haus in der Wüste von Santa Fe, um dort dieses vertrackte, hektisch-schöne und bezaubernd besungene Solodebüt aufzunehmen.

 

 

 

 

Playgrounded: The Death Of Death
Ein neues Album der griechischen, überwiegend im niederländischen Haarlem lebenden Progressive-Metal-Band um Sänger Stavros Markonis, der zudem ein preisgekrönter Filmkomponist ist. Elektronisch-düstere, basslastige Spannungsbögen werden immer wieder durch mehrstimmigen, melancholisch-melodiösen Klargesang aufgehellt, unterlegt von klickernd frickeligen Elektro-Rhythmen und brachialen Drums.

 

 

 

 

Samavayo: Payan
Das seit 2013 in dieser Form bestehende Berliner Stoner-Rock-Trio des iranischstämmigen Sängers Behrang Alavi und der Brüder Andreas und Stephan Voland hat sich für „Payan“, sein viertes Album mit einer illustren Schar an Studio-Gästen verstärkt: Igor Sydorenko (Stoned Jesus), Tommi Holappa (Greenleaf, Dozer), Nick DiSalvo (Elder) und Willi Paschen (Coogans Bluff) steuern hier den einen oder anderen ungewohnten Solo-Part bei. Hörbar sind nach wie vor Einflüsse von Kyuss, Led Zeppelin, Black Sabbath, den frühen Scorpions, Tool oder Queens of the Stone Age mit einer guten Prise Orient. Mehr als eine Prise ist es in „Talagh“, einem Cover eines 60er-Jahre-Popsongs der populären iranischen Sängerin Googoosh, das nicht nur das riesengroße Potential iranischer Musik zeigt, sondern vor allem das der Band, einen modernen, mitreißenden, heavy-düsteren Prügelsong daraus zu machen.

 

 

The Jeremy Days: Beauty In Broken
Mit ihrer 2019er, noch ironisch „The Unlikely Return“-betitelten Tour haben sie laut „Hier!“ gerufen und vor allem hochsympathisch ausgestrahlt, dass sie noch oder wieder einen Riesenspaß daran haben, gemeinsam nahezu in Originalbesetzung auf der Bühne zu stehen. Dabei wollten sie es wohl nicht belassen und schenken ihren Getreuen mit „Beauty In Broken“ 27 Jahre nach ihrer letzten Veröffentlichung wieder ein „Brand New Toy“. Das Schöne daran: Es gelingt den Hamburgern sehr entspannt, ein lupenreines Jeremy-Days-Album abzuliefern, ohne sich selbst zu kopieren. Jeremy Days 2022 ist hymnischer, intelligenter, phrasenarmer Gitarrenpop, getragen von Dirk Darmstaedters Lloyd-Cole-artiger Stimme, deren Wiedererkennungswert genauso hoch ist wie früher. Gar nicht so unlikely, dass hier bald wieder getourt wird, und very likely wird das richtig gut.
    ● Annika Bachem

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Die Versichertenälteste Angelika Ebeling

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Die Versichertenälteste Angelika Ebeling


In Niedersachsen kümmern sich mehr als 70 Versichertenälteste der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover ehrenamtlich um die Fragen rund um Rentenanträge. Viele Menschen fühlen sich mit der Antragstellung überfordert oder verstehen die Sprache der Formulare nicht. Die Versichertenältesten helfen dabei, das Versicherungskonto auf den neuesten Stand zu bringen. Eine von ihnen ist die ehemalige Betriebsrätin Angelika Ebeling.

Die gelernte Schauwerbegestalterin aus Linden ist seit 1973 Gewerkschaftsmitglied und setzt sich hier besonders für die Gleichstellung von Frauen und Männern ein. Beschäftigt in einen Konzern, war sie seit Mitte der Achtzigerjahre Betriebsrätin und Interessenvertreterin für Schwerbehinderte. Bis heute ist sie bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi aktiv. 2014 ging sie nach 48 Berufsjahren in den Ruhestand. Schon während ihrer Zeit als Betriebsrätin war sie, nicht zuletzt durch ihre Karriere bei Verdi, wo sie bis in die Bundesebene aufstieg, so kompetent im Thema, dass sich häufig Kolleg:innen mit Problemen bei Rentenanträgen an sie wandten.
Als sie 2014 in Rente ging, nahm sich Ebeling erst einmal ein Jahr Auszeit, um sich um ihre Familie zu kümmern, die aufgrund ihrer vielen Dienstreisen oft zu kurz gekommen war. Danach schlug sie Verdi vor, sie bei der nächsten Sozialwahl aufzustellen, um sich als Versichertenälteste wählen zu lassen. Denn das ist der etwas komplizierte Weg, der zu dieser Tätigkeit führt: Interessenten sollten sich an eine Gewerkschaft, eine sonstige Arbeitnehmervereinigung oder eine freie Wählerliste wenden, die bei den alle sechs Jahre stattfindenden Sozialwahlen der Sozialversicherungsträger ein Vorschlagsrecht besitzen. Anhand von Hospitationen und Einführungsseminaren werden neu Gewählte dann eingearbeitet. Eine einschlägige Vorbildung ist hierfür nicht notwendig. „Aber ein bisschen Empathie braucht man schon“, so Ebeling. Oft sind es Witwen oder Witwer, die sie beim Beantragen der ihnen zustehenden Hinterbliebenenrente unterstützt. „Ich fühle schon mit den Menschen mit, besonders wenn es Familien mit noch kleinen Kindern betrifft.“ Die Versichertenältesten sind bei der Deutschen Rentenversicherung gelistet und werden so an Hilfesuchende vermittelt. Viele kommen auch aus dem Raum Linden-Limmer, kennen Ebeling, die schon seit weit über 30 Jahren hier wohnt, und freuen sich über das niederschwellige, wohnortnahe Angebot. Etwa 30 bis 40 Fälle bearbeitet sie im Quartal, wobei der Zeitaufwand je nach Rentenart sehr unterschiedlich sein kann. „Einen Altersrentenantrag bearbeite ich in etwa einer Stunde, Erwerbsminderungsrenten sind etwas schwieriger.“ Aufgrund ihrer Erfahrung als Schwerbehindertenbeauftragte weiß Ebeling hier sehr gut, welche Unterlagen eventuell noch hinzugezogen werden müssen und wo man genau hinschauen muss. „Oft wurde noch gar kein Antrag auf Schwerbehinderung gestellt und ich sehe aufgrund der Unterlagen, dass das dringend nötig wäre. Das sagt den Leuten niemand! Ich mache das dann einfach, weil ich das Beste für die Leute will. Ich erwarte aber auch, dass sie dann mitziehen.“ Für Witwen- und Witwerrenten nimmt sie sich mehr Zeit. „Diese Menschen haben gerade einen Verlust erlitten und wollen häufig reden. Gar nicht so sehr über ihre Trauer, sondern eher über ihre Situation und ihre Möglichkeiten.“
Ist es denn eher eine Ausnahme, dass Leute bei Rentenanträgen Hilfe benötigen? „Es ist selten, dass jemand damit völlig alleine klar kommt“, so Ebeling. „Vieles ist in einer sehr formalen Sprache verfasst. Zum Beispiel die Frage nach ‚Zeiten im Beitrittsgebiet‘. Fast niemand weiß, dass damit die ehemalige DDR gemeint ist. Ich erkläre solche Begriffe und frage auch nach, ob alles richtig verstanden wurde.“ Manchmal wird es auch richtig kompliziert, wie zum Beispiel, als ein Kunde zu ihr kam, der lange im Ausland gelebt hatte. „In Fällen, wo wir nicht weiterkommen, können wir immer Tutoren bei der DRV anrufen, die uns dann helfen.“
„Ich bearbeite die Anträge aller Leute, die sich bei mir melden“, so Ebeling. „Wenn mir das zu viel würde, würde ich es schon sagen. Nur bei den Witwen- und Witwerrenten könnte ich niemals Nein sagen.“ Von Dienstag bis Donnerstag nimmt Angelika Ebeling Termine an. „Montag ist mein Ausschlaftag“, lacht sie, „und freitags und am Wochenende sind die Familie und mein Partner dran. Es ist nicht so ganz einfach, junge Leute für diese Tätigkeit zu finden, während meines Berufslebens hätte ich das nicht machen können. Aber jetzt macht es mir richtig Spaß und ich lerne jeden Tag etwas dazu.“
       ● Annika Bachem

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Ein letztes Wort im April

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Ein letztes Wort im April


Wir müssen sprechen – und das hätte ich nie für möglich gehalten – über einen Krieg mitten in Europa. Gehen wir mal an den Anfang: Über welchen Weg haben Sie die ersten Nachrichten über den russischen Einmarsch erreicht?
Das war ja an einem Donnerstag. Ich habe, wie immer nach dem Aufstehen, mein Tablet aufgeschlagen und nach meinen E-Mails gesehen, und da gab es eine mit dem Betreff „Russischer Einmarsch in die Ukraine“. Das hat natürlich alles über den Haufen geworfen. Das war eine Zäsur. Ein Einschnitt, der in seinen Auswirkungen wahrscheinlich noch weitaus stärker sein wird als 9/11. Wir reden jetzt Mitte März, die Konsequenzen kann wohl noch niemand ganz ermessen.

Ich habe es zuerst gar nicht wahrhaben wollen …
Ich habe in den Wochen zuvor eigentlich immer die Hoffnung gehabt und auch daran geglaubt, dass dieser Einmarsch am Ende nicht kommen würde. Weil ich in der russischen Politik immer noch einen Rest Rationalität gesehen oder vielleicht zumindest erhofft hatte. Inzwischen ist sie hochgradig irrational, verheerend für die Menschen in der Ukraine, aber nach meiner Überzeugung auch sehr, sehr selbstschädigend.

Ich hatte die Befürchtung, dass Russland in die Ukraine einmarschiert, seit ich einige historische Vorträge von Putin gehört hatte …
Ja, das ist Ausdruck dieser Irrationalität und unverhohlenes völkisches Denken. Da haben wir früher nicht genau genug hingehört.

Wenn wir jetzt mal zum Stand heute springen, zu einer Ukraine, die sich wehrt, zu einem Schulterschluss des Westens – hat Putin sich verschätzt?
Wahrscheinlich hat er mindestens die Tapferkeit der Ukraine unterschätzt, die hohe Bereitschaft, Widerstand zu leisten. Er hat zudem das Leistungsvermögen seiner eigenen Armee überschätzt. Und er hat wiederum die Härte der Konsequenzen unterschätzt, die der Westen nun sehr geschlossen umgesetzt hat. Es sind zu Recht sehr harte Maßnahmen, die tiefe Spuren in der russischen Wirtschaft hinterlassen werden. Und so habe ich, Stand heute, den Eindruck, es läuft insgesamt sehr anders als man sich das im Kreml vorgestellt hat.

Deutschland hat da zuerst nicht unbedingt eine gute Figur gemacht. Man gehörte anfangs eher zu denen, die zögerlich waren mit wirklich harten Sanktionen …
Ich habe eher den Eindruck, dass es im Vorfeld eine sehr intensive Abstimmung des Westens gegeben und die Bundesregierung genau in diesem Rahmen gehandelt hat. Man kann sagen, dass die Regierungserklärung von Olaf Scholz am Sonntag nach dem Einmarsch historisch war. Die Konsequenz, mit der Deutschland im Anschluss seine Politik geändert hat, finde ich beeindruckend.

In der Rückschau war man wahrscheinlich lange nicht konsequent genug …
Ja, im Nachhinein müssen wir uns einfach eingestehen, dass wir nicht wahrhaben wollten, dass die russische Politik nun wirklich endgültig in die Irrationalität abgedriftet ist. Das ist jetzt Imperialismus pur. Dieser Imperialismus stößt allerdings auf eine immense und geschlossene Gegenwehr, in der Ukraine und international. Ich fand es zum Beispiel gut zu sehen, dass in der Vollversammlung der Vereinten Nationen gerade mal vier Staaten an Russlands Seite gestanden haben. Außer Russland selbst waren das Nordkorea, Syrien, Eritrea und Belarus. 141 Staaten haben Russland aufgefordert, den Angriffskrieg sofort zu beenden. Ein ganz starkes Signal. Weil man nicht zulassen darf, dass die Regeln so eklatant gebrochen werden. Wobei ich mir insbesondere von China eine noch viel klarere Haltung wünschen würde.

Die Haltung von China, sich zu enthalten, wurde ja von manchen schon als positiv gewertet.
Ja, aber das ist nicht genug. Wir hatten jetzt 50 Jahre lang ein System von kollektiver Sicherheit – mit Beginn der Ostpolitik, mit Helsinki, wo die Unverletzlichkeit der jeweiligen Grenzen anerkannt wurde, mit vielen weiteren internationalen Abkommen, mit dem Fall der Mauer, mit dem Ende des Kalten Krieges Ende der 80er Jahre. Putin hat nun sehr brutal die Schwachstelle dieses Systems aufgezeigt. Das System setzt nämlich voraus, dass sich alle an die gegenseitigen Zusicherungen halten. Es muss jetzt das klare Signal geben, dass man gut daran tut, sich künftig wieder daran zu halten.

Ein komplettes Embargo von russischem Öl und Gas lehnt Deutschland weiter ab. Wobei die Bevölkerung das durchaus mittragen würde. Wenn ich die Begründungen aus der Politik dazu höre, wird von den wirtschaftlichen Schäden und vom kommenden Winter gesprochen. Aber muss es nicht genau jetzt darum gehen, Russland maximal die Grenzen aufzuzeigen?
Das muss sehr genau bedacht sein. Wir haben genug Reserven für diese Heizperiode, aber eben nicht genug für die nächste. Und wenn Deutschland sich einem solchen Embargo anschließen würde, obwohl wir überdurchschnittlich auf russisches Gas angewiesen sind, dann wäre die Folge wahrscheinlich eine wirklich harte Wirtschaftskrise. Viele energieintensive Unternehmen, die vor allem von Erdgas abhängig sind, würden massiv unter Druck geraten, viele müssten aufgeben. Diese Firmen würden dann auch nicht mehr wiederkommen. Ich denke da beispielsweise an die Stahlindustrie – am Ende würden dabei auch neue Abhängigkeiten u.a. zu China entstehen. Diese Gefahren muss eine verantwortungsbewusste Politik mit einkalkulieren. Ich verstehe durchaus den Impuls, dass man an allen Stellen versucht, Russland jetzt die rote Karte zu zeigen, aber wir müssen immer auch auf die Folgen im eigenen Land achten, und die wären in diesem Fall, so fürchte ich, dramatisch.

Das ist ja jetzt insgesamt die Gretchenfrage. Wandel durch Handel ist offensichtlich gescheitert, insofern muss jetzt ohnehin ziemlich hart umgesteuert werden.
Wir werden diese Abhängigkeit von russischem Erdgas sehr schnell und sehr konsequent reduzieren müssen. Darum sehen wir nun zum Beispiel auch fast über Nacht den Kurswechsel bei Robert Habeck, der jetzt für LNG-Importe plädiert. Die Konsequenz ist grundsätzlich klar: Deutschland muss raus aus dieser abhängigen Position. Wenn man das jetzt aber sehr hart und schnell mit einem Embargo machte, dann hätte man es voraussichtlich mit sehr großen und nicht wieder zu reparierenden Schäden zu tun. Da geht es also nicht nur darum, ob wir mal ein paar Wochen frieren, sondern da geht es um deutlich mehr.

Wenn Sie zurückblicken auf die vergangenen Jahre, auf die Idee eines Wandels durch Handel, auch immer wieder befördert durch die SPD, dann muss man heute von einem Fehler sprechen, oder?
Ich denke, der Fehler war eher, dass wir insbesondere die Erneuerbaren nicht genug ausgebaut haben. Der Ausbau ist in den letzten Jahren ja fast zum Erliegen gekommen, und das war in der Tat ein krasser Fehler. Das war für den Klimaschutz schlecht, und es war schlecht für die Energieunabhängigkeit. Uns hat ein längerfristiger, strategischer Kompass in der deutschen Energiepolitik gefehlt. Das muss man kritisieren, das kann niemand mehr bestreiten.

Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, das weiß ich aus vielen Gesprächen, hätten wir bereits seit Jahren ein Drehbuch.
Ja, ein sehr konkretes Drehbuch, mit dem wir heute bereits einen wesentlichen Schritt weiter wären.

Müssen wir uns auch im Handel insgesamt ganz neu aufstellen? Muss man jetzt sagen, wenn bestimmte Grundrechte in einem Land nicht eingehalten werden, dann gibt es keinen Handel?
Das ist ganz schwer. Wenn ich es richtig sehe, dann lebt nur eine ziemlich kleine Minderheit der Menschen weltweit unter den gleichen demokratischen Bedingungen wie wir hier in Deutschland – was die persönlichen Freiheitsrechte anbelangt, etc. Alle anderen haben, gemessen an unserem Standard, diverse Abstriche hinzunehmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auf solche eklatanten Völkerrechtsverstöße, wie wir sie jetzt in der Ukraine erleben, hart reagieren müssen. Aber ob wir generell unsere Maßstäbe auf die inneren Verhältnisse in den Ländern anwenden können, da mache ich ein Fragezeichen. Und erinnere an Nelson Mandela, der sich nach dem Ende der Apartheid in Südafrika ausdrücklich bei den westlichen Unternehmen bedankt hat, die dageblieben sind. Das sei für viele Menschen ein Zeichen der Hoffnung gewesen. Ich bin relativ sicher, dass ein Boykott die Situation dort für die Opfer der Apartheid eher verschlechtert hätte. Es bleibt eine extrem schwierige Frage und die perfekte Antwort haben wir wohl alle nicht.
● Interview: Lars Kompa

 

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Neu in der Stadt im April

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Neu in der Stadt im April


Anette Spitzl – Textilart Kleidermanufaktur
Mit Einfühlungsvermögen und Kreativität entwirft Anette Spitzl Kleidung, die sich nicht dem Modediktat unterordnet, und das schon seit 1985. Damals hat sie ihre kleine Textilmanufaktur in Hannovers Altstadt eröffnet. Anfang dieses Jahres hat Spitzl für ihre zeitlosen Kollektionen ein neues Zuhause gefunden: Seit Februar ist das Geschäft in der Deisterstraße in Linden zu finden. Abgesehen vom Ortswechsel hat sich an der Philosophie jedoch nichts geändert: Stilempfinden und Unabhängigkeit werden hier großgeschrieben. Eine Basiskollektion, die durch Geradlinigkeit der Schnitte gekennzeichnet ist, wird regelmäßig durch neue Entwürfe und Farben erweitert, die sich vielfältig miteinander kombinieren lassen. Außerdem werden fast ausschließlich GOTS-zertifizierte Naturmaterialien verarbeitet, was einerseits dem Credo entspricht, nachhaltige Mode zu produzieren, andererseits aber auch ungeahnte Qualitäten bedeutet. So erhalten beispielsweise Seide, Leinen und englische gewachste Baumwolle durch ungewöhnliche Bearbeitungstechniken eine ganz besondere Optik. Eine weitere Besonderheit: Anette Spitzl verweigert sich dem „Größenterror“. Kund*innen erhalten in der Manufaktur alle Modelle auf ihre persönlichen Proportionen abgestimmt und in ihren Lieblingsfarben. Natürliche, luxuriöse Materialien, großzügige bequeme Schnitte und harmonisch auf einander abgestimmte Farben vermitteln sinnlichen Tragegenuss. Ein aktuelles Thema ist die Rettung vorhandener, teils historischer textiler Schätze durch die Schaffung ganz besonderer Bekleidungsunikate. Das analoge Angebot und die kompetente persönliche Beratung werden demnächst von einem neuen Onlineshop ergänzt. Die neue Adresse: Deisterstr.31, 30449 Hannover. Öffnungszeiten: Mo–Fr 11–18 Uhr, außerdem die ersten beiden Samstage im Monat 11–16 Uhr. Kontakt über Tel. (0511) 32 35 76 oder E-Mail anette.spitzl@t-online.de. Mehr Infos gibt es auf www.anette-spitzl.de.

 

Flauschecke
Vielen dürfte Anika Friedrich bekannt sein als Mitglied der Fraktion DIE FRAKTION der Partei DIE PARTEI, die im Rat der Stadt Hannover „sehr gute Politik“ macht. Etwas weniger bekannt ist ihre große Leidenschaft fürs Stricken, Häkeln und andere Handarbeiten, für die man Wolle braucht. Nachdem Ende 2021 in der Südstadt die Wollkultur schloss, übernahm Friedrich die ansprechenden Räumlichkeiten und eröffnete Anfang März darin ihren eigenen Laden: Die Flauschecke ist die neue Anlaufstelle für Wollsüchtige in der Südstadt, die hier fachliche Beratung, ungewöhnliche Garne und natürlich auch das passende Zubehör finden. Zum Sortiment gehört alles, was man zum Stricken, Häkeln, Sticken, für Punch-Needle-Arbeiten oder auch Makramee braucht. Dabei legt Friedrich besonderen Wert auf natürliche Fasern, Woll-Alternativen für Menschen mit Allergien und/oder empfindlicher Haut sowie vegane Garne ohne Polyacryl (also Plastik) oder ähnliches. Hier finden sich viele hochwertige Marken aus Skandinavien (z.B. Sandnes, Isager, Kaos Yarn oder Sysleriget), aus Portugal (Rosários 4) und aus deutscher Produktion die Firmen Pascuali, Seehawer und Lamana. Komplettiert wird das Angebot durch Zubehör und Anleitungen von PetiteKnit. Sallstraße 81, 30171 Hannover. Öffnungszeiten: Di 14–18 Uhr, Mi 14–19 Uhr, Do und Fr 12–18 Uhr, Sa 11–15 Uhr. Kontakt über Tel. 0176 4386 1711 oder E-Mail anika@flauschecke.com. Mehr Infos auf www.flauschecke.com und instagram.com/flauschecke.

 

Klaver  
Hannovers Südstadt ist um ein Bistro-Schrägstrich-Café reicher – und zwar mit ausschließlich vegetarischen und veganen Speisen auf der Karte: Am 8. März hat das Klaver in derStolzestraße 60 eröffnet. Die Idee dazu kam Geschäftsführer Olli Müller bereits 2013. Damals baute er seinen Anhänger zu einer fahrenden Küche mit dem Namen „Ollis ESSENzielles“ um und bot auf Marktplätzen und Veranstaltungen vegetarisch-vegane Gerichte an – von Kartoffeln und Gemüse über Schafskäse bis hin zu selbstgemachten Quarkdips, veganer Mayonnaise und Chutneys war alles dabei. Als 2020 die weltweite Corona-Pandemie dem einen Riegel vorschob, verlegte sich Olli auf Bowls, die er bis nach Hause oder in die Büros seiner Kund*innen geliefert hat. Die „BOWLLIs“ mit abwechslungsreichem Gemüse, Basmati-Reis oder Bulgur-Dinkel-Mix sowie einem gekochten Bio-Ei und Avocado werden auch weiterhin auf Bestellung am Vortag zur Mittagszeit geliefert. Im Bistro sind aber noch weitere leckere Speisen zu genießen, zum Beispiel warme Mittagsgerichte wie Rosmarinkartoffeln mit gebratenem Gemüse, der Black Bean Burger oder die „Soep van de dag“, außerdem viele köstliche Desserts wie Kokos-Soja-Milchreis, Schokoladenbrownies, eine Auswahl an Kuchen und die Süße kleine BOWLLi, bestehend aus Overnight-Oats mit Apfel-Kompott, Kiwi, gepufftem Amaranth, Himbeersauce, karamellisierten Walnüssen und Honig. Auch Caterings für Feiern oder größere Veranstaltungen können gebucht werden. Stolzestr. 60, 30171 Hannover. Öffnungszeiten: Di–Sa 10–18 Uhr. Mehr Infos auf www.klaver-hannover.de.

Foto: Awid Safaei

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Heinrich Jacobi und Kurt Prenzler


In dieser Ausgabe treffen wir die Geschäftsführer zweier Unternehmen mit langjähriger Tradition: Heinrich Jacobi (HJ) vom VW-Vertragshändler Gessner & Jacobi und Kurt Prenzler (KP) von der Parfümerie Liebe. Beide kennen sich seit Jahren, nicht zuletzt, weil sie Kunden beim jeweils anderen sind. In unserem Gespräch geht es um die Zusammenarbeit mit der Familie, historische Meilensteine und aktuelle Herausforderungen. Zu Beginn kommt, wie überall derzeit, der Krieg in der Ukraine zur Sprache, der ein paar Erinnerungen weckt … 

KP – Meine Mutter gebar mich in der Kriegszeit – in Uetersen bei Elmshorn, wohin sie mit meiner zwei Jahre älteren Schwester geflohen war. Unser Geschäft war nach einem Bombardement 1943 ein Raub der Flammen geworden, und als wir zurückkehrten, haben wir es komplett wiederaufbauen müssen. Das war 1948. Übergangsweise waren wir ausquartiert in der Königstraße, wo wir unser Geschäft weiter betreiben durften, da wir Waren für den täglichen Gebrauch anboten – Sanitäts- und Reinigungsartikel, so wie heute eine Drogerie. Eine schlimme Geschichte, aber wir haben es als Unternehmen überstanden und können nun auf eine mehr als 150-jährige Tradition zurückblicken. Mein Urgroßonkel Wilhelm Liebe hat die Firma am 1. Oktober 1871 in der Georgstraße gegründet. Anfang des 20. Jahrhunderts war dann diese Lokalität in der Karmarschstraße zu kaufen, seitdem sind wir hier. Mit einigem Stolz darf ich sagen, dass wir mittlerweile die größte Parfümerie in ganz Deutschland sind. Wir haben seit unseren Anfängen drei sehr maßgebliche Firmen als erste im Land geführt: Einmal Elizabeth Arden, das war 1923, die Firma Lancôme 1957 und, was ich schon miterlebt habe, Estée Lauder 1968. Das sind schon ganz tolle Meilensteine. Ansonsten haben wir hier im Haus etwa 90 bis 100 Kosmetikdepots, eigentlich alles, was Rang und Namen hat. 1.200 Damendüfte, 750 Herrendüfte. 90 Mitarbeiter auf vier Etagen – das sind schon beeindruckende Zahlen, wie ich finde. Mein Beruf macht mir aber auch ungeheuer viel Spaß! Ich denke, man kann etwas nur dann gut machen, wenn man auch viel Spaß daran hat. Neben mir ist auch meine Tochter in der Geschäftsführung, ihr gehört die andere Hälfte. Wir sind ein reines Familienunternehmen, meine Tochter jetzt in der fünften Generation.

Sie sind also gleichberechtigte Geschäftsführer?
KP – Meine Tochter hat den hälftigen Anteil meiner Schwester übernommen, als die vor vier Jahren aus dem Unternehmen ausgeschieden ist. Der beinhaltet auch die Mode, die immerhin 500 von unseren fast 2.000 Quadratmetern ausmacht. Wir sind aber für dasselbe verantwortlich. Und sie ist so fair, dass sie mich ab und zu fragt, wenn sie sich bei etwas unsicher ist (lacht).
HJ – Das ist so wie bei uns! Wir sind auch ein Familienunternehmen. Ich führe es zusammen mit meiner Frau – oder andersherum, meine Frau mit mir. Sie sitzt inzwischen ein bisschen mehr im Driver Seat als ich. Fachlich hat sie mir auch ein bisschen was voraus, sie hat nämlich Kfz-Mechanikerin gelernt.
KP – Ich finde, Sie ist eine tolle Fachfrau! Ich habe zwei alte VW-Käfer, mit denen ich immer wieder gerne zu Herrn Jacobi komme. Nicht, weil etwas kaputt wäre, dafür bewege ich sie zu selten, aber zur Kontrolle. Und ein Nutzfahrzeug zur Auslieferung haben wir auch von VW.
HJ – Uns freut es immer, wenn Herr Prenzler vorbeikommt und ich das Auto mal wieder sehe, weil das so schön mit „Liebe“ beschriftet ist. Es ist natürlich auch für uns eine Anerkennung, wenn wir namhafte Familienbetriebe als Kunden haben.

Ihr eigenes Unternehmen ist aber auch sehr namhaft – und sogar noch älter als Liebe.
HJ – Ja, uns gibt es sogar schon seit 1820! Vor zwei Jahren hatten wir 200-jähriges Jubiläum, leider nicht gefeiert, aus den bekannten Gründen. Das möchten wir diesen Sommer aber endlich nachholen! Gegründet wurde unser Unternehmen am selben Standort in Linden wie heute von meinem Urgroßvater, damals noch als Stellmacherwerkstatt. Nachher wurden hier Kutschen für den Calenberger Landadel gebaut und „Pferdebahnen“ – also Straßenbahnen, die von Pferden gezogen wurden. Ein paar davon stehen heute im Straßenbahnmuseum. Während der Kriege hat das alles fortbestanden, aber natürlich vermindert. Und nach dem Zweiten Weltkrieg kam mein Vater aus Kriegsgefangenschaft wieder und hat mit Herrn Gessner zusammen die Firma neugegründet. Irgendwann ist er ausgestiegen und dafür habe ich übernommen. Seit 1950 sind wir nun Volkswagenvertragspartner. Karosseriefirmen gibt es ja nicht mehr in der Form wie früher, da die Fahrzeuge heutzutage industriell gefertigt werden. Wir haben zwei Standorte: In der Falkenstraße haben wir den Volkswagen-Service und im Bauweg einen eigenen Nutzfahrzeugbetrieb, weil wir uns darauf ein bisschen spezialisiert haben. Da verkaufen wir die Bullis und alles, was damit zusammenhängt, und wir reparieren sie auch. Wir haben in beiden Betrieben round about 110 Mitarbeiter samt Azubis, bilden auch stark aus.

Gerade scheint es eine schwierige Zeit für den Autohandel zu sein. Woran liegt das?
HJ – Das hat viele Gründe. Zum einen findet ja derzeit ein struktureller Wandel der Mobilität statt in Richtung Elektro. Ein unvermeidlicher Wandel, aus meiner Sicht, aber es sind eben noch viele Hürden zu nehmen für den Markt. Was die Situation gerade hauptsächlich beeinflusst, ist aber natürlich die Pandemie, die vielerorts zur Unterbrechung von Lieferketten geführt hat. Bei der heutigen Just-in-Time-Logistik der Hersteller bricht die Produktion schnell ein, wenn irgendein Staat in Ostasien, der zum Beispiel Halbleiter liefern soll, in den Lockdown geht. Dann steht so ein Auto auf dem Band und kann nicht fertiggestellt werden, und das führt automatisch zu großen Problemen in allen weiteren Prozessen, es entstehen lange Wartezeiten … Und das führt natürlich für uns ganz konkret zu weniger Umsatz und außerdem zu geringerer Kundenzufriedenheit, die wir voll abbekommen. Wir sind die Schnittstelle zum Kunden – die beschweren sich ja nicht direkt bei VW, sondern bei ihrem Autohändler. Auch der katastrophale Krieg in der Ukraine hat Anteil daran, dass die Lieferketten eingebrochen sind. In dem Land gibt es viele Unternehmen im IT-, aber auch im Zuliefererbereich. Die deutsche Automobilindustrie, nicht nur VW, bezieht zum Beispiel ganz wesentliche Kabelbäume von dort, ohne die kein Auto gebaut werden kann. Jeden Tag kriegen wir Mails aus Wolfsburg, die sagen: Das geht nicht mehr, das auch nicht, und das geht erst wieder nächstes Jahr. Die Planbarkeit ist gar nicht mehr gegeben, und man muss versuchen, Alternativen zu finden. Gebrauchtwagen, haben Sie überall gelesen, sind teurer geworden, einfach, weil Nachschub knapp ist. Und dann noch die gestiegenen Treibstoffpreise … Man muss klar sagen: Das wird sich alles irgendwann wieder normalisieren, wir erleben gerade eine Ausnahmesituation.

Die aber, mehr oder weniger akut, bereits zwei Jahre anhält. Wie sind Sie beide bislang durch die Pandemie gekommen? Gerade Schönheitsprodukte dürften in der Home-Office-Zeit weniger stark angefragt worden sein …
KP – Ja, allein Make-up verkaufen zu wollen in dieser Zeit, das konnte man fast vergessen! Und dabei macht Farbkosmetik bei uns einen großen Sektor aus. Sie können diese Produkte momentan kaum vorführen: Alle kommen mit Maske, und wenn Sie Make-up auflegen, ist die Maske von innen verschmiert. Nicht alles ist kussecht … Unsere zehn Kosmetikerinnen, die wir hier im Haus in acht Behandlungskabinen haben, bieten zwar immer noch verschiedene Behandlungen an, aber kein Make-up. Und auch der Modesektor ist ziemlich am Boden. Die Menschen gehen ja kaum raus. Es gibt keinen Opernball, dann werden auch keine Ballkleider verkauft.
HJ – Aber Sie haben ja trotzdem viel gemacht! Ich habe das über die Sozialen Medien verfolgt: Abhol- und Bringdienste bis nach Hause.
KP – Ja, wir haben mit unserem Wagen Bestellungen zu unseren Kunden geliefert.

Und Sie hatten einen Liebe-Kiosk in der unteren Etage.
KP – Das ganze Geschäft war zeitweise ein Kiosk! Die Leute wurden an der Tür bedient, rein konnten sie nicht. Es war ein Hilfsmittel. Wenn wir sonst 1.000 Kunden am Tag haben, haben wir auf diese Weise zumindest 100 bedienen können. Außerdem mussten wir unsere Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken, das wäre früher völlig undenkbar gewesen bei uns! Wir haben jetzt aber entschieden, diesen Zustand nicht mehr zu verlängern, auch wenn die Möglichkeit nun wieder bis Juni gegeben wäre. Das können wir unseren Mitarbeitern nicht antun … War das bei Ihnen ähnlich, Herr Jacobi?
HJ – Nun, unsere Werkstätten durften geöffnet bleiben, weil sie systemrelevant sind. Wir haben nämlich ganz viele Kunden, die aufs Auto massiv angewiesen sind. Da meine ich nicht nur Taxen, sondern auch Rettungsfahrzeuge, Behördenfahrzeuge, die Feuerwehr Hannover, die Müllabfuhr, Einsatzwagen der Polizei, die wir mit in der Wartung haben. Wir haben sogar eigene Notdienste installiert, um den Anfragen gerecht zu werden. Die Werkstatt war offen, aber der Verkauf war anfangs genauso geschlossen wie bei Ihnen. Die Kunden durften zur Besichtigung nicht in den Laden, wir haben sie dann auf dem Hof empfangen, wo sie sich den Wagen angucken konnten – und dabei mit dem Verkäufer telefonieren. Es gab also ein paar Bypässe, die wir legen konnten, um den Beratungsaspekt zu retten. Der ist sehr wichtig. Ein Parfüm möchte man vorher ja schließlich auch probieren, bevor man es kauft, nicht wahr?

Wie sieht die Beratung bei Liebe eigentlich aus, wenn man einen neuen Duft sucht?
KP – Sie können versuchen, dass der Kunde, wenn er selber ein bisschen duftgebildet ist, Ihnen beschreibt, was er bevorzugen würde. Das grenzt die Suche schon einmal ein. Unsere Mitarbeiter sind so gut ausgebildet, dass sie sich wirklich sehr gut auskennen, das sage ich ohne jede Überheblichkeit. Ich glaube, dass wir da erstaunlich gut liegen und die Kunden wirklich begeistert sind, wenn wir ihnen gleich ein Produkt mitgeben, dass ihnen gefällt. Wir füllen aber auch gerne Proben in kleine Röhrchen ab, damit man zu Hause noch einmal in Ruhe und mit etwas Abstand ergründen kann, welcher Duft einem am besten gefällt. Meistens kommen die Kunden danach mit einem konkreteren Wunsch wieder. Darum geht es nämlich: Dass ein Kunde auch in Zukunft Kunde bleibt, wiederkommt und weiterempfiehlt. Ich glaube, wir haben uns durch diesen Service eine treue Stammkundenschaft geschaffen.

Auch Prominente?
KP – Nun, ich will jetzt nicht mit der aktuell sehr problematischen Prominenz Gerhard Schröders angeben (alle lachen), aber vielleicht mit seiner Ex-Gattin, Doris Schröder-Köpf, die ist ja deutlich beliebter und ein sehr gern gesehener Gast bei uns. Es sind wirklich viele, zum Beispiel der Fürst von Bückeburg, Ministerpräsident Weil, viel Lokalprominenz. Aber auch die Familie Estée Lauder, die war schon fünf Mal hier und hat mich jedes Mal nach New York eingeladen – das zeigt eine gewisse Wertschätzung des Lieferanten, die mich stolz macht. Es ist wirklich schön, so eine Vielfalt an Lieferanten zu haben. Das ist dann wohl der große Unterschied zu Herrn Jacobi …
HJ – Na, wir haben schon ein paar mehr, nicht nur VW. Wir kaufen natürlich auch mal extern Teile oder Dienstleistungen ein. Die Neufahrzeuge sind aber ausschließlich von VW. Dafür erhalten wir aber auch eine gewisse Exklusivität. Es gibt nämlich nur eine beschränkte Anzahl von Verkaufsstätten für VW-Modelle in Deutschland. Das nennt sich „Selektives Vertriebssystem“. Ich glaube, das haben Sie in Ihrer Branche zum Teil auch – dass nicht jeder alles, jede Marke verkaufen kann.
KP – Ja, das heißt bei uns „Depotvertrag“.
HJ – Sehen Sie. Ich halte es ganz klar für einen Vorteil. Gerade, wenn ein neues, vielversprechendes Modell auf den Markt kommt wie der E-Bulli – der „ID. Buzz“, hatte gestern online Weltpremiere. Er ist in Anlehnung an den legendären T1 gestylt und hat deshalb von vornherein ein bisschen Kultcharakter. Er sieht niedlich aus, ist vollelektrisch, hat ganz viele Items und Anschlüsse für alle Devices, die sich jüngere Leute nur wünschen können. Wichtig ist für uns, dass dieses Auto endlich mal wieder ein bisschen emotional aufgeladen wird. Wir hatten zuvor durchaus ein paar Modelle, bei denen fehlte uns die Emotionalität, die waren so ein bisschen bieder …

Emotionalität spielt auch bei Luxusartikeln wie Parfüm eine große Rolle. Sehen Sie da die Zukunft durch Online-Shopping bedroht?
KP – Ich betrachte Dinge wie Parfüm, Kosmetik und so weiter nicht als Luxus-, sondern ganz klar als Alltagsprodukte. Und ich kann gar nicht verstehen, dass Menschen so etwas übers Internet kaufen! Es mag in manchen Fällen billiger sein, aber dann frage ich mich als in diesem Bereich bewanderter Kaufmann, ob das auch Originalware ist. In der Branche wissen wir, dass Imitate berühmter Marken gang und gäbe sind. Davon abgesehen finde ich, dass ein bedeutender Grund für eine Kaufentscheidung doch die Veränderung ist, die bei einer Kosmetikvorführung auf der eigenen Haut zu sehen ist. Und ohne die Beratung einer Fachperson, die einer Kundin raten kann, ob etwas zu ihrem Typ passt oder die doch ein anderes Produkt empfiehlt …
HJ – Ich glaube, dass die Zukunft von Liebe gesichert ist, wenn Sie einfach so weiter machen wie bisher. Als langjähriger Kunde kann ich sagen, das ist ein Ort, bei dem man denkt: Wenn ich in der Stadt bin, dann muss ich da mal rein! Mal kauft man was, mal auch nicht und schnuppert einfach bloß, aber jedes Mal ist es ein angenehmer Besuch. Da bin ich ein bisschen neidisch auf Sie, denn bei Autos ist die Sache natürlich etwas anders. So oft braucht man kein Neues – und wenn doch, dann ist etwas schiefgelaufen!
 ● Anja Dolatta, Fotos Bernd Schwabe

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