Tag Archive | "2022-04"

Eislädchen

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Eislädchen


Eis ist seine Leidenschaft: Anar Aliyev, gebürtig aus Moskau und seit gut zehn Jahren in Deutschland, hat sein Hobby zum Beruf gemacht. Seit 2018 betreibt er in der Robertstraße in der List sein Eislädchen, in dem er handgemachtes Eis für jeden Geschmack verkauft. Im April 2021 ist ein zweites, größeres Etablissement auf der Lister Meile dazugekommen, das sich jetzt schon größter Beliebtheit erfreut. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es hier immer wieder überraschende Sorten abseits des Mainstreams gibt – und bei den Zutaten auf beste Qualität gesetzt wird.    

Anar Aliyev hat einen sehr feinen Gaumen und stellt bei Lebensmitteln höchste Anforderungen an den Geschmack. „Ich bin viel unterwegs und probiere überall als Erstes das Essen. Wenn es mir schmeckt, überlege ich gleich, ob man daraus auch Eis machen könnte“, erklärt er. In Aserbaidschan, wo er aufgewachsen ist und Jura studierte, begann er damit, hobbymäßig an verschiedenen Eiskreationen zu tüfteln. Nachdem er nach Deutschland gekommen war, widmete er sich ganz dem Eis – und bildete sich fortlaufend weiter. So hat er bei Eismanufakturen im ganzen Land gelernt, zuletzt in Rostock bei einem Eismacher, der schon 40 Jahre im Geschäft ist. Jetzt ruft er bei Anar an, um seinen Rat einzuholen. „Ich lache und frage: ‚Veräppelst du mich?‘ Aber er sagt: ‚Nein, ich möchte wirklich wissen, wie du das machst!‘ Auf so einem Kompliment will ich mich aber nicht ausruhen. Ich bleibe nicht stehen, ich will mich immer weiterentwickeln und verbessern.“
Die Rezepte – bislang über 150! – entwickelt Anar in seinem eigenen Eislabor in der Wunstorfer Straße, in dem er täglich die Sorten anrührt, die er am selben Tag in seinen beiden Läden verkauft. Die dabei verwendeten Zutaten sind frisch und von bester Qualität – von vorgefertigten Konzentraten hält er überhaupt nichts. „Pistazien, Walnüsse, Haselnüsse – das alles rösten wir selber. Meine Mama macht das für mich, sie unterstützt mich auf diese Weise. Auch meine Schwestern helfen mir aus. Und bis vor seinem Tod hat auch mein Papa mir sehr geholfen, indem er Walnüsse für mich geknackt hat. Ja, das ist eine Heidenarbeit, man könnte sie auch geschält kaufen. Aber dann haben sie bereits von ihrem Aroma verloren.“
Bei seinen Eissorten setzt er gerne auf ungewöhnliche Kombinationen wie zum Beispiel Ziegenkäse mit karamellisierter Feige, die sehr gut ankommen. Auch weniger bekannte Früchte aus Südamerika finden häufig Verwendung, zum Beispiel Lucuma, Feijoa, Cherimoya oder Guanábana. Von diesen Früchten will Anar demnächst Fotos im Laden aufhängen, damit seine Kundschaft sich besser vorstellen kann, woraus ihr Eis besteht. Qualität und Exotik haben natürlich  ihren Preis. „Die Kugel kostet bei mir normalerweise 1,50 Euro. Es gibt aber auch teurere Sorten, zum Beispiel eine, für die ich Weintrauben-Most aus Italien verwende, aus dem machen die den teuersten Champagner. Der ist so köstlich, da braucht man keinen Zucker mehr! Für dieses Eis nehme ich zwei Euro pro Kugel, und ich dachte zuerst: Das mache ich einmal und nie wieder, das ist bestimmt zu teuer für die Leute. Doch viele haben es probiert – und jetzt kommen sie wieder und fragen, wann ich diese Sorte nochmal mache.“
Von den 24 bis 28 Sorten, die täglich in der Vitrine angeboten werden, sind immer drei oder vier exotisch. Den Rest machen bekanntere Standardsorten wie Erdbeer, Vanille, Zitrone oder Stracciatella aus. Aber auch hier sind die Zutaten topp: „Ich benutze zum Beispiel Senga Sengana Erdbeeren, die sind sehr groß und schön dunkelrot. Und Vanilleschoten aus Tahiti. Die sind viel dicker als die aus Madagaskar oder Bourbon, die die meisten gewohnt sind. Sie werden normalerweise bei der Parfümherstellung verwendet, weil der Geruch so intensiv ist – und das ist auch der Geschmack. Sie sind deshalb besonders teuer: 900 Euro kostet das Kilo! Aber das schmeckt man auch.“
Auch an regnerischen Tagen lohnt sich ein Besuch im Eislädchen, das nicht nur kalte Süßspeisen wie Eis und Sorbet bietet, sondern auch Waffeln, natürlich aus selbstgemachtem Teig. Und auch hier gibt es eine Besonderheit: „Neben den normalen haben wir auch Waffel-Pommes, also Waffeln in kleiner Stäbchenform wie Pommes frites. Dazu servieren wir ;Ketchup‘, in Wahrheit Erdbeersauce, oder ‚Mayonnaise‘, also weiße Schokolade. Ich habe solche Waffeln bislang noch nirgendwo gesehen. So bin ich eben: Ich will immer neue Dinge ausprobieren und der Erste sein, der das macht.“
Am liebsten würde Anar den ganzen Tag nur im Labor sein und an neuen Rezepturen arbeiten, aber der Verkauf gehört eben auch dazu. Momentan sucht das Eislädchen deshalb neue Mitarbeiter, die auf 450-Euro-Basis beschäftigt werden. Dass ihm einmal die Ideen ausgehen könnten, fürchtet Anar nicht. Die nächsten Geschmacksexperimente sind bereits in Planung: „Ich mache zu Hause manchmal Tiramisu-Cantuccino als Dessert. Das würde ich gerne einmal als Eis ausprobieren. Außerdem habe ich im Kopf ein Eis aus getrockneter Pflaume und Speck. Ich weiß, das klingt ungewöhnlich. Aber aus Erfahrung kann ich sagen, dass Speck im Eis gar nicht wie Speck schmeckt, sondern nussig. Irgendwann werde ich das mal probieren!“    ●   Text und Foto Anja Dolatta

Eislädchen, Lister Meile 54, 30161 Hannover
Öffnungszeiten: Di–So 13–18 Uhr
Mehr Infos auf den Facebook- und
Instagramseiten des Eislädchens

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Gato Tattoo  Piercing Studio

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Gato Tattoo Piercing Studio


Foto: Hannover ImpulsJeder fünfte Erwachsene in Deutschland ist tätowiert, die meisten haben sogar mehr als ein Tattoo. Tattoos sind Ausdruck der Persönlichkeit und Juan Pablo Rojas Gutierrez ist Tätowierer aus Leidenschaft. Schon als Schüler hat er sich eine eigene Maschine zusammengebaut und damit die Unterarme seiner Mitschüler*innen verschönert. Damals nannten sie ihn Gato. So heißt heute sein Unternehmen „Gato Tattoo Piercing Studio“, das im Juli 2021 eröffnet hat.   

In Kolumbien geboren und als junger Erwachsener nach Spanien ausgewandert, hat Juan Pablo Rojas Gutierrez jetzt seine Heimat in Hannover gefunden. Zusammen mit Lebensgefährtin Ana sorgt der Kosmopolit dafür, dass man in Hannover außergewöhnliche Tattoos und Piercings bekommt. Denn Pablo versteht sich als Künstler, der verschiedenste Stilrichtungen beherrscht. Gelernt hat er das in den vergangenen zehn Jahren als professioneller Tätowierer überall in Europa. Er und Ana sind außerdem gelernte Piercer.
Das Besondere an seinem Stil? „Dass ich keinen Stil habe!“, lacht Juan. „Ich bin nicht auf eine Richtung festgelegt, sondern mache das, was gefällt. In Spanien habe ich damals als Praktikant in einem Studio angefangen und war nur für die Bilder zuständig. Ich habe gemalt und gezeichnet, beraten und Vorlagen erstellt. Dann habe ich mich an meine ersten richtigen Tattoos rangetraut. So habe ich dann auch alle Stilrichtungen kennengelernt.“
Zu seiner Zielgruppe gehören sie alle, seine älteste Kundin ist 86 Jahre alt (und er freut sich immer, wenn sie ins Studio kommt). Im Durchschnitt sind seine Kund*innen zwischen 20 und 35 Jahre alt, über die Hälfte sind Frauen. Sie kommen meist mit sehr genauen Vorstellungen, weil sie in den sozialen Netzwerken etwas gesehen haben, was sie auch gerne haben wollen. Bei Kunden um 50 ist das anders, sie haben meist nur eine grobe Idee. Hier entwickeln Interessent und Profi dann gemeinsam das Motiv. Aktuell sind übrigens feine Schriftzüge im Trend.
Ein Tattoo kostet bei Juan ab 60 Euro aufwärts. Das Honorar richtet sich nach dem Aufwand, Zeit und den Details. „Hier ist auch entscheidend, wie viele unterschiedliche Nadeln ich brauche“, konkretisiert Juan. „Dauert das Tattoo länger, müssen regelmäßig sämtliche Nadeln austauscht werden, da sie irgendwann stumpf werden. Aktuell gibt es neue Verordnungen für Farben, die die Szene verwenden darf. Die sind teurer, auch das schlägt sich dann im Preis nieder. Abgesehen davon, dass noch längst nicht alle Farbnuancen erhältlich sind.“
Die Idee, sich ausgerechnet mitten in der Coronazeit selbstständig zu machen, kam so: „Mit Corona hat alles angefangen. Denn während des Lockdowns konnte ich als Tätowierer sowieso nicht arbeiten. Eigentlich wollte ich mich bei hannoverimpuls nur beraten lassen. Nach dem ersten Gespräch hat es mich dann aber gepackt und mir wurden nach und nach alle Ängste genommen. Das Ergebnis kann man jetzt am Klagesmarkt besuchen. Der Tresen kommt übrigens aus Spanien. In Deutschland habe ich niemanden gefunden, der mir den so bauen konnte, wie ich ihn haben wollte. Das ist das Gute daran, wenn man überall schon mal zu Hause war. Geärgert hat uns Corona dann doch noch. Wir mussten unsere Eröffnung immer wieder verschieben.“
Ein paar Tipps für andere Gründer*innen hat er auch noch: „Viele Infos einholen. Mut haben und zielstrebig sein. Man muss Geduld mitbringen, denn in Deutschland kommt alles noch per Post. Jeder Schritt sollte genau geplant werden, man muss vorausschauend arbeiten. Und nicht verrückt werden, wenn ein Monat super läuft und der nächste gar nicht. Nicht aufgeben und an seinem Traum festhalten. Hartnäckigkeit und ein Dickschädel zahlen sich aus. Und habt keine Angst bei Sprachbarrieren. Ihr findet immer Menschen, die euch helfen. Zum Beispiel bei hannoverimpuls: Wir sind mit keinen hohen Erwartungen zum ersten Gespräch gekommen. Wir haben nicht damit gerechnet, dass es so war, wie es war. Unser Berater spricht sogar ein bisschen Spanisch, was die Verständigung von Anfang an aufgelockert und erleichtert hat. Er steht uns in allen Fragen zur Seite und hat jeden Schritt begleitet. Dafür kann man nur Danke sagen!“

     ● Anke Wittkopp, Foto: hannoverimpuls

Am Klagesmarkt 20
30159 Hannover
Tel. (0511) 67 914 940
www.gatotattoo.com
info@gatotattoo.com

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Olaf Arndt: Kaisergabel

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Olaf Arndt: Kaisergabel


Kaisergabel – was verbirgt sich hinter diesem Namen? Das Besteck von Wilhelm II.? Nicht wirklich. Gemeint ist vielmehr ein Straßenbauwerk, das der hannoversche Stadtbaumeister Rudolf Hillebrecht in den 1950ern als Teil eines Schnellwegnetzes nach den Vorstellungen der autogerechten Stadt entwickelt hat und das heute die Stadtteile Ricklingen und Linden-Süd miteinander verbindet. Die Bauwerksbezeichnung „Kaisergabel“ geht auf die in unmittelbarer Nähe gelegene Kaiser-Brauerei zurück, die in den 1980er Jahren geschlossen wurde und bis zum Abriss im vorigen Jahr als Fitnesscenter genutzt wurde.

So viel zur Realität. In der Fiktion von Olaf Arndts zweitem Roman ist die Kaisergabel  aber vor allem der Schlüssel zur Befreiung von einer Familie, deren Geschichte von Lügen, Verdrängung und Abstiegsängsten geprägt ist: Die Handlung setzt ein im Jahr 1975. Mike Mandt möchte möglichst schnell weg – wenn es sein muss, auf die erdabgewandte Seite des Mondes. Es ist schon schlimm genug, dass er einen äußerst bescheuerten, alliterierenden Namen tragen muss – „MM, die Schokolinse mit Erdnussfüllung. Eine süße Selbstverarschung auf Stöckerbeinen“ –, doch er lebt mit seiner Familie auch noch den Kleinbürgeralbtraum inklusive mondäner Stadtrandvilla in Ricklingen. Auf diesen gehobenen Status ist seine Mutter Erika jedoch enorm stolz, denn sie stammt aus ärmlichen Verhältnissen, einem Mittelgebirgsdorf an der tschechischen Grenze. Ihr Alltag ist davon beherrscht, potenzielle Abstiegsgefahren im Keim zu ersticken und ihre Familie mit aller gebotenen Strenge vor Ausrutschern zu bewahren. Ihren Mann, der als Maurer mit kommunistischen Tendenzen angefangen hat, konnte sie durch kluge Gängelung auf eine höhere Karriereschiene befördern. Als Ingenieur, verbeamtet auf Lebenszeit, hat er sogar die Kaisergabel erdacht. Schwieriger gestaltet sich die Überwachung ihrer beiden Kinder Mike, der sich in den Kopf gesetzt hat, Dichter zu werden, und Katharina Verena, genannt „Q“, die eine anarchistische Ader zeigt. Doch hierfür hat Erika, die, so mutmaßt Mike, „sicherlich Diktatorin geworden“ wäre, „wenn es zu ihrer Zeit schon freie Berufswahl für Frauen gegeben hätte“, eine subtilere Methodik entwickelt: Die totale Kontrolle durch Einrichtung. Nichts kann im Haus getan werden ohne ihr Wissen, heimliche Unternehmungen müssen mit größtmöglicher Sorgfalt durchgeführt werden. Es ist also reichlich riskant, was die beiden Geschwister planen: Sie wollen die Geschichte ihrer Familie ergründen, ein „Sippenpanorama“ erstellen, das vor allem die totgeschwiegene und verdrängte Vergangenheit der Mutter offenlegt. Hierfür spionieren die Geschwister in Abwesenheit der Eltern im Familiensafe, durchforsten die Konstruktionspläne des Hauses und Kartons voller Dias und halten alle ihre Erkenntnisse auf Kassette oder auf der Schreibmaschine fest. Gemeinsam wollen Sie die Lebenslügen ihrer Familie aufdecken …
Mit „Kaisergabel“ gelingt Olaf Arndt der bemerkenswerte Spagat zwischen „locker erzählt“ und „perfekt durchkomponiert“. Die anspruchsvolle Romankonstruktion mit mehreren Zeitebenen ermöglicht es, vor dem Hintergrund realer topografischer und stadthistorischer Details eine komplexe Familienchronik zu entwerfen, die vom 20. bis zum 21. Jahrhundert reicht und mit skurrilen Elementen angereichert ist. Das wahrscheinlich augenscheinlichste und unergründlichste ist dabei die Schwester Q, bei der man nicht weiß, ob sie überhaupt existiert – ob sie vielleicht doch von der Mutter abgetrieben wurde – und sie von Mike als eine Art Über-Schwester und ideale Partnerin für sein Vorhaben nur imaginiert wird. Auf der anderen Seite sorgt die Einbindung verschiedener Konsumgüter der Zeit, an die sich so manche der heutigen Lesenden als damals begehrte oder besessene Statussymbole erinnern werden, für Nostalgie – und streicht die materielle Seite des Aufstiegskampfs nochmals heraus.
Die „Kaisergabel“ ist Olaf Arndts zweiter Roman nach seinem Debütwerk „Unterdeutschland“, das 2020 erschienen ist und von Ermittlungen zu einer terroristischen Wolkenverschwörung im „tiefen Staat“ handelt. Zuvor hat Arndt aber schon zahlreiche Prosa- und Lyrik-Publikationen in Underground-Literatur-Zeitschriften wie „Minerva“, „floppy myriapoda“, „Gegner“ oder „Abwärts“ veröffentlicht sowie verschiedenste künstlerische Projekte durchgeführt. Er ist außerdem Gründungsmitglied der Künstlergruppe BBM („Beobachter der Bediener von Maschinen“), die sich mit der Zurichtung des Menschen durch technische, ideologische und architektonische Maßnahmen beschäftigt.                 ● Anja Dolatta

Mehr Infos zu Autor und Werk gibt es auf https://olaf.bbm.de.

 

 

 

 

Kaisergabel
von Olaf Arndt
mox & maritz
244 Seiten
19,80 Euro

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Das entzweite Land. Ein Weckruf

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Das entzweite Land. Ein Weckruf


Die Gesellschaft ist zutiefst gespalten. Aus Gegnern wurden Feinde. Aus demokratischem Diskurs wurde ideologischer Stellungskrieg. Aus Meinungsdifferenz Hass. Sicher, früher war nicht alles gut, aber doch vieles besser.
Was waren das doch für Zeiten, als man hierzulande noch gesittet diskutierte?!  Wich man in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern des letzten Jahrhunderts von der Norm ab, wurde einem nicht etwa wie heute das Existenzrecht abgesprochen, sondern man bekam lediglich einen Umzug in einen anderen Teil Deutschlands vorgeschlagen: „Geh doch nach drüben!“ hieß es da freundlich. Gemeint war mit „drüben“ Ostdeutschland, wo es sich ja – wenn man dem durchschnittlichen Montagsspaziergänger in Dresden oder Chemnitz Glauben schenkt – prima leben ließ. Diese Relokalisierungsanregung wurde oft mit einer beeindruckend hilfsbereiten Verve vorgetragen; man spürte, dass die den Vorschlag machende Person am Umzugstag bestimmt mit anpacken, unentgeltlich ihren VW-Bulli zur Verfügung stellen oder vielleicht sogar gleich ein professionelles Umzugsunternehmen bezahlen würde. Hallo Nachbar, Dankeschön! So war das damals in der alten BRD: Alle für einen, einer für alle!
Besonders Langhaarige, Hippies, „Gammler“, später Punks, aber auch Homosexuelle, Ausländer oder behinderte Menschen erinnern sich noch an eine tolerante Gesellschaft, in der ihnen niemand vorschrieb, wie oder was sie zu sein hatten. Statt Bevormundung hörten sie sachliche Feststellungen wie: „So was hätte es unter Adolf nicht gegeben“ oder „Dich hamse bei Hitler vergessen zu vergasen“.  Bemerkungen, in denen vor allem die unbändige Freude darüber zum Ausdruck gebracht wurde, dass diese dunklen Zeiten vorbei waren und nun endlich Vielfalt herrschte.
Es überrascht deswegen nicht, dass auch die politische Elite jener Jahre mitunter zwar inhaltlich hart, aber im Ton stets verbindlich und höflich um den besseren Weg rang. Oft lockerten die Politiker angespannte Situationen mit einem kleinen Scherz auf, wie Franz Josef Strauß, als er sagte: „Ich will lieber ein kalter Krieger sein, als ein warmer Bruder.“ Da schmunzelte die ganze Republik. Überhaupt war F.J. Strauß ein Meister der Deeskalation: Seine Gegner*innen verärgerte er nie mit den heute üblichen Beleidigungen, Angriffen unter der Gürtellinie oder Beschimpfungen, sondern überraschte sie mit putzigen Tiervergleichen. Ob er nun linke Schriftsteller*innen und Intellektuelle per se als „Ratten und Schmeißfliegen“ oder einen einzelnen Autor als „Dreckschwein“ bezeichnete – stets wies er seinen Kritikern damit eine wichtige Rolle im Ökosystem zu.
Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus. Dementsprechend ging auch der politische Gegner mit Strauß und anderen Unionspolitikern immer respektvoll um. So nannte der langjährige Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, Herbert Wehner, Strauß zum Beispiel einen „geistigen Terroristen“. Selbstverständlich war das von Wehner, der seine politische Laufbahn bei der „Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands“ begonnen hatte, als Maximal-Kompliment gemeint.
Dem ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Willy Brandt zollten CDU-Mitglieder immer wieder Respekt für seine widerständische Haltung während der Nazi-Zeit; Herbert Frahm, wie der spätere Kanzler ursprünglich hieß, war ja bekanntermaßen nach Norwegen geflohen, hatte dort den neuen Namen Willy Brandt angenommen und organisierte von Oslo aus Widerstands-Aktionen in und gegen Deutschland. Daran und an Brandts uneheliche Geburt erinnerten Unionspolitiker immer wieder, indem sie ihn bei seinem Geburtsnamen nannten. So sprach Konrad Adenauer vom „Herrn Brandt alias Frahm“. Und der CSU-Bundestagsabgeordnete Richard Jaeger sagte über Brandt: „Wenn es ihn, wie weiland Adolf Hitler, dessen Familienname eigentlich Schicklgruber war, danach gelüstet, unter einem fremden Namen in die Weltgeschichte einzugehen, so ist dies das Geringste, was uns an seinem Vorhaben stören könnte.“
Brandt bedankte sich für diese Geste der Hochachtung, indem er den damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler im Fernsehen lobte: „Ein Hetzer ist er! Seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land!“ Er verglich Geißler also mit einem der erfolgreichsten Männer der deutschsprachigen PR-Geschichte. Tiefer kann eine professionelle Verbeugung nicht sein.
Klar ist: Wir waren schon einmal weiter. Dorthin müssen wir zurück. Zu dieser Kultur der wertschätzenden Debatte, der gegenseitigen Anerkennung. Reichen wir uns die Hände!  ● Hartmut El Kurdi

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Restaurant Radieschen

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Restaurant Radieschen


Im Gartenland zwischen Linden-Nord und Herrenhausen, dort, wo sich die Nachmittage schön bei einem Spaziergang an der Sonne verbringen lassen, kehrt es sich im Vereinslokal der Kleingartenkolonie Dornröschen beschaulich ein. Auf der ruhig gelegenen Sonnenterrasse finden Gruppen bis zu einer Mannschaftsstärke von 120 Personen Platz, wir sind nur zu dritt und finden im Biergarten ein Sonnenplätzchen für einen Kaffee nach der nachmittäglichen Gracht-Runde sowie im gemütlichen Gastraum eine Speisekarte mit frisch zubereiteten Speisen der deutschen Küche und eine gediegene Atmosphäre vor.   

Unter heimeligen Sprüchen wie „Hier kocht der Chef“ oder „Coffee Time“, Hannoveransichten, einer witzigen Kuckucksuhr und Bücherregalen mit Deko wie alten Kaffeemühlen werden an kunstblumengeschmückten Tischen seit zwölf Jahren bis zu 80 Personen bewirtet. Aus der Karte lacht uns gleich das Heidepfännchen an, von dem wir uns zum Auftakt die kleine Portion (für 4,90 Euro) gönnen: Die Champignons, mit Schafskäse und Brotbröseln im Ofen überbacken, aalen sich in einem Kräuterbutter-Sud mit frischem Grün, der uns ein mehrfaches „Mmmmh!“ auf die Lippen zaubert. Wer es noch suppiger mag, wählt das Hummersüppchen mit Sherry und Grönlandcrevetten, Gemüsejulien und Kräuter-Croutons (kleine Portion 4,50 Euro) – man sollte auf jeden Fall genug Appetit für eine der Vorspeisen mitbringen. Vegetarier kommen etwa bei Backkartoffeln im Folienpäckchen mit Kräuterquark, einem Salat aus Wildkräutersalat mit Gurken, Tomaten und Paprika (7,90 Euro) oder mediterranem Omelette aus Gemüse der Saison, gefüllt mit Käse und Beilagensalat (13,90 Euro) zu ihrem Glück.
Ab Mitte April werden verschiedene Spargelgerichte angeboten und ab Anfang Mai gibt es wieder frische Mai-Schollen und Gerichte mit marktfrischem Matjes. Vormerken: Am 26. Mai ist Vatertag, und da wird ab 12 Uhr zwölfjähriges Betriebsbestehen gefeiert! Von Juni bis September können sich Pilzfreunde dann über Pfifferling-Spezialitäten freuen.
Da die Stints wegen Lieferschwierigkeiten leider nicht zu haben sind, müssen wir auf dieses ersehnte Extra verzichten und nehmen stattdessen das Zanderfilet (für 19,90 Euro).
Die beiden in Butter gebratenen Zanderfilets auf mediterranem Zucchini-Paprika-Bohnen-Pilz-Gemüse sind à point gebraten und werden von einem interessanten Salat aus bunten Blättern, Roter Beete, Kraut und schmeichelhaftem Joghurtdressing begleitet. Die eigentlich dazugehörenden Folienkartoffeln haben wir gegen die knusprigeren Kartoffelplätzchen ausgetauscht, deren leider unglücklich versalzener Geschmack sich mit dem Kräuterrahm gut löschen lässt.
Auch beim Rinderschmorbraten vom Friesland-Rind (für 18,90 Euro) macht’s die Kombination: Die dezente Steinpilzsauce und der ebenso schwächelnde Apfelrotkohl werden von besagten Kartoffelplätzchen mitgesalzen, das Fleisch ist auch ohne fremde Hilfe ein Leckerbissen. Bei den Spare Ribs (für 14,90 Euro), zu denen krosse Kartoffelspalten, erfreulicher Krautsalat, BBQ-Sauce und Sour Cream gereicht werden, haben wir überhaupt nichts zu meckern. Dass er die Bratkunst offenbar beherrscht, lässt in uns den Plan reifen, dem Koch in puncto Saucen und Beilagen an einem Samstag oder Sonntag noch eine Chance zu geben – dann gibt es im Radieschen nämlich Krustenbraten am Stück zum Selbst-Tranchieren, dazu Braunbiersauce, Apfelrotkohl, Speckbohnen, Semmelknödel und Petersilienkartoffeln (ab 5 Personen mit Voranmeldung für 12,90 Euro pro Person).
An Karfreitag gibt es dagegen vor Ort von 17 Uhr bis 20 Uhr Scampis satt (wie auch jeden ersten und letzten Freitag im Monat für 22,90 Euro pro Person) und ein reichhaltiges Frühstücksbuffet mit Sekt (für 18,90 Euro) am Ostersonntag und Ostermontag von 10–12 Uhr (danach à la carte mit Oster-Extrakarte). Wer nachmittags im Berg- oder Georgengarten eine süße Lust verspürt, kann wie schon erwähnt immer gut auf ein Stück frisch gebackenen Kuchen oder hausgemachte Torte im Gartenlokal einkehren. Hier bieten sich rund um die deutschen Klassiker wie Schnitzel, Sauerfleisch, Fischspezialitäten und tolle Knollen viele nette Ideen und kleine Extras bis zum Grand-Marnier-Parfait oder zur Bubbel-Waffel mit zwei Kugeln Waldbeerjoghurteis und Schlagsahne (für 6,90 Euro). Mmmmmh!
● Anke Wittkopp

In der Steintormasch 47
30167 Hannover
Tel. (0511) 21 55 26 1
www.restaurant-radieschen.de
Öffnungszeiten:
Mi–So und an Feiertagen ab 12 Uhr geöffnet
Küche bis 19 Uhr geöffnet

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Modell Bianka

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Modell Bianka


Die Besetzung ist klassisch: Schlagzeug, zwei Gitarren, Bass und Vocals. „Es ist bei uns aber nicht alles auf einen Frontmann zugeschnitten“, betont Sänger Niklas. „Simon singt ebenfalls und Lukas schreit auch manchmal mit, jeder bei uns hat die Möglichkeit. Wir sind eine Band und nicht eine Hauptperson mit ein paar Leuten dahinter.“ „Das müssen wir beim Soundcheck immer dazusagen“, so Lukas, „dass bei uns nicht einfach nur ein Mikro laut sein soll.“

Auch die Songs schreiben die vier gemeinsam bei den Bandproben im Keller des ehemaligen Conti-Gebäudes in der Vahrenwalder Straße. „Oft singe ich spontan was und dann bauen wir den Song drumherum und später setzen wir uns noch mal dran“, erklärt Niklas. „Meistens jammen wir erst einmal“, ergänzt Lukas. „Keiner von uns bringt fertige Songs von zu Hause mit. Es geht uns schon um das gemeinsame Musikmachen.“ Gegründet als Modell Bianka haben die vier sich 2017 während ihres Studiums in Hannover, nachdem sie sich vorher zum Teil schon aus anderen Band-Konstellationen kannten. Sobald sie fünf Songs zusammen hatten, wurde aufgetreten, oft selbst organisiert und überwiegend im norddeutschen Raum. Inzwischen sind sie bis auf Niklas, der den Masterstudiengang „Populäre Musik und Medien“ in Paderborn absolviert, berufstätig und räumlich recht weit verstreut. Daher treffen sie sich nicht mehr ganz so häufig, dafür gern in Form von ganzen Probenwochenenden, an denen tagsüber Musik gemacht und abends gemeinsam gekocht wird.
Im Dezember 2021 haben Modell Bianka ihr Debütalbum „Kummerland“ veröffentlicht – und mussten das Release-Konzert, wenig überraschend, aber dennoch frustrierend, um Monate auf den 9. April verschieben.
Mit einem Dasein als Profimusiker liebäugeln die vier nicht: „Ich habe mal ein halbes Jahr bei Warner Music gearbeitet und gesehen, wie diese Strukturen funktionieren. Wir hätten keine Lust, uns sagen zu lassen, wie der Sound sein soll, damit die Fans nicht enttäuscht werden“, so Niklas. „So, wie es ist, mit unserem eigenen Label, das wir gegründet haben, klappt es ganz gut.“ „Dank der Online-Distributoren ist vieles leichter geworden“, erklärt Lukas. „Aber beim Herstellungsprozess von ‚Kummerland‘ haben wir auch gleich die Ups und Downs des Vinyl-Pressings kennengelernt, als auf einmal das zum Artwork farblich passend bestellte Granulat doch nicht da war. Aber Vinyl war uns total wichtig und passt dazu, wie viele Gedanken wir uns um den Aufbau des Albums und den Spannungsbogen gemacht haben. Daher wünschen wir uns, dass möglichst viele unsere Musik auch so hören.“ „Wir machen das alles mit sehr viel Herzblut“, beschreibt Niklas. „Zum Beispiel gehen wir selber in die Läden und bringen unsere Platten vorbei. Wir verschicken die Alben oder auch schön gestaltete Tickets selber und schreiben eine persönliche Nachricht dazu.“ „Unser Release-Konzert sollte ja im Dezember sein und musste verschoben werden“, erzählt Lukas. „Da hatten zwei Leute aus Berlin schon Tickets und den Zug gebucht. Wir haben dann gesagt: ‚Kommt halt trotzdem‘ und ihnen hier ein bisschen die Szene gezeigt und später zusammen gejammt. Das hat total Spaß gemacht. Aber so etwas geht natürlich auch nur, wenn man klein ist.“
„Lovepunk“ nennen sie ihre gitarrenbetonte Musik, die gut nach vorne und sehr gut ins Ohr geht, niemals beliebig wirkt und tatsächlich mit jedem Song ausstrahlt, dass hier Herzblut drinsteckt. Mit „Rocken am Brocken“ haben die vier im Sommer ihr erstes größeres Festival gespielt. Viel größer soll es im Grunde auch nicht werden. Wichtiger als Kommerzialität ist den Musikern eine gute Vernetzung in Hannover und die Stärkung regionaler Strukturen. So stammt das Artwork von „Kummerland“ von einem Künstler aus dem Projektraum „Tanke“ in der Südstadt. Die Szene zu unterstützen, ganz unabhängig von der eigenen Band, liegt Modell Bianka am Herzen. So sind sie zum Beispiel an der Organisation des KiezKultur-Festivals beteiligt, das im Herbst stattfinden wird. Jetzt sind die vier glücklich, endlich ihr Release-Konzert in der Faust spielen zu können und hoffen dann auf eine kleine Tour im September.
Abschlussfrage: Warum „Modell Bianka“, was der Titel eines DEFA-Films von 1951 ist? „Das war ein langer, schwieriger Prozess und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das erst sein wird, wenn ich mal einem Kind einen Namen geben muss“, lacht Lukas. „Letztlich  ist es einfach die perfekte Balance zwischen ‚sperrig genug, damit man ihn nicht vergisst, aber auch nicht so abgefahren, dass man ihn nicht korrekt wiedergeben kann‘.“

     ● Annika Bachem,  Foto: Felix Albertin

 

linktr.ee/modell_bianka


Release-Konzert für „Kummerland“ am 09.04., Faust, Mephisto, Beginn 20 Uhr.

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