Herr Weil, wir sind schon wieder mittendrin in der Pandemie und die neuen 2G-Regeln haben für Ungeimpfte zunehmend unangenehme Konsequenzen. Lassen Sie uns heute mal über Zusammenhalt und Spaltung in unserer Gesellschaft sprechen. Während eine große Mehrheit geimpft ist und sich hinter den Regeln versammelt, fühlt sich eine sehr laute Minderheit unter Druck gesetzt und in ihrer Freiheit stark eingeschränkt. Haben Sie Verständnis für die Argumente dieser Minderheit?
Nein, Verständnis für Impfverweigerer habe ich nicht. Diese Menschen gefährden nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Das Infektionsrisiko und damit auch das Risiko, das Virus weiterzugeben ist bei Ungeimpften deutlich höher als bei Geimpften. Von den ungeimpften Personen infizieren sich im Schnitt zwei Prozent, von den dann Infizierten müssen zehn Prozent ins Krankenhaus. Das Infektionsrisiko bei Geimpften liegt bei nur 0,4 Prozent, davon kommen drei Prozent in die Klinik, also 12 von 100.000. Von den Corona-Patientinnen und -Patienten auf unseren Intensivstationen sind mindestens 90 Prozent nicht geimpft. Das sind alles Fakten und jederzeit nachprüfbar. Menschen, die eine Impfung verweigern, sind nicht nur dafür verantwortlich, dass andere sich mit Corona Infizieren, sie sorgen auch dafür, dass Pflegende und Mediziner auf den Intensivstationen an ihre Belastungsgrenzen kommen. Und dafür habe ich kein Verständnis, sorry.
Insbesondere 2G hat zuletzt wieder für einen Aufschrei gesorgt. Sie haben die Verschärfung der Regeln als vorbeugenden Brandschutz bezeichnet. Was genau meinen Sie damit?
Zu dem Zeitpunkt, als wir in Niedersachsen flächendeckend 2G eingeführt haben, waren bei uns im Land die Infektionszahlen, aber auch die Krankenhaus- und Intensivstationsbelegungen noch vergleichsweise niedrig. Es gab aber einen starken Fallzahlenanstieg in einigen Ländern im Süden und im Osten der Republik. Von dort kamen erste Anfragen, ob Niedersachsen Intensivpatienten übernehmen könne. Wir haben dann die Regeln verschärft, um die Menschen und das Gesundheitssystem zu schützen und den Druck auf die Ungeimpften zu erhöhen. Wir betreiben vorbeugenden Brandschutz.
Kommen wir mal zu der Gruppe, die jetzt wieder sehr stark aufbegehrt. Was mir auffällt: Sie ist ausgesprochen heterogen. In dieser Gruppe versammeln sich sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Meinungen und Hintergründen. Was wissen Sie über diese Menschen?
In der Tat, die Motivation ist sehr unterschiedlich. Aber einige Gemeinsamkeiten kann man doch erkennen: Es handelt sich oftmals um Menschen, die sich sehr einseitig informieren, entweder in ihrem direkten Umfeld bei anderen ähnlichen Skeptikern oder in sogenannten Echoräumen in Sozialen Medien. Viele halten die Warnungen und Apelle in anderen Medien einfach für unwahr. Viele haben eine große Distanz zum Staat und seinen Einrichtungen, wie den Gesundheitsämtern, und glauben der Politik nicht. Und viele sind nicht bereit, Mitverantwortung für andere und für das Wohl unserer Gesellschaft zu übernehmen. Das ist aber in einer Pandemie zwingend notwendig.
Wie kann man denn zumindest jene überzeugen, sich impfen zu lassen, die man noch erreicht, die noch zu Gesprächen bereit sind? Welche Strategien gibt es?
Wir tun unser Bestes. Wir versuchen aufzuklären über die sehr geringe Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen beim Impfen und die Gefahren bei einer Corona-Infektion. Man kann die Gefahren für andere, die eigene Familie und für unser Gesundheitssystem erläutern und an das Verantwortungsgefühl erinnern. Aber es ist und bleibt schwer.
Hilft der Druck? Wäre eine persönliche Ansprache nicht besser?
Das eine schließt das andere nicht aus. Ich glaube inzwischen, wir brauchen den Druck. Ich bin sicher, dann werden doch manche zum Impfarzt oder zu den staatlichen Impfzentren gehen. Und wir schützen durch flächendeckendes 2G bzw. 2Gplus ja auch gerade die Ungeimpften, die sich viel leichter infizieren als bereits vollständig geimpfte Menschen. Und dennoch sollte jede und jeder von uns versuchen, auf Ungeimpfte im privaten oder beruflichen Umfeld einzuwirken. Vielleicht sollte man auf Vorwürfe verzichten und stattdessen die eigene Sorge vermitteln, vielleicht auch einfach bitten, sich doch noch dem Gedanken an eine Impfung zu öffnen.
Viele Menschen haben sich inzwischen vollständig aus dem Diskurs verabschiedet. Sehen Sie irgendeine Möglichkeit, auch mit jenen wieder ins Gespräch zu kommen?
Natürlich müssen wir es immer wieder versuchen. Steter Tropfen höhlt den Stein. Und manche wird man vielleicht erst im Krankenhaus erreichen, wenn es sie selbst erwischt hat oder dann, wenn Menschen an Corona sterben, denen sie sich sehr verbunden gefühlt haben.
Was inzwischen oft vollständig fehlt, ist eine gemeinsame Informationsbasis. Die einen informieren sich in bestimmten Medien, die anderen in völlig anderen Medien. Es gibt dann kaum noch eine Schnittmenge. Wir haben schon einmal vor dem Hintergrund der Wahlen in den USA über dieses Phänomen gesprochen …
Ja, dieses Phänomen beobachten wir mit großer Sorge. Wir dürfen nicht nachlassen in dem Bemühen, doch noch an diejenigen heranzukommen, die sich nur noch in ihrer Blase von Gleichgesinnten bewegen – auch und gerade in den sozialen Medien. Die Falschbehauptungen dort sind dreist und die Anbieter werden ihrer Verantwortung nicht gerecht. Im Gegenteil: Wir wissen inzwischen, dass beispielsweise Facebook wider besseres Wissen hoch problematische Agitationen laufen lässt. Es geht offenbar um Interaktion um jeden Preis, und der gesellschaftliche und politische Preis, den wir alle zahlen, ist hoch. Es gibt aber inzwischen auch viele Medien, die sehr schnell und akribisch Faktenchecks machen, Falschbehauptungen enttarnen und ihre Erkenntnisse auch rasch weitergeben.
Ich versuche immer, wenn ich mir eine Meinung bilde, mich möglichst breit aufzustellen. Ich nutze darum alle Medien, jene, die von manchen als Lügenpresse bezeichnet werden, andere, die als alternative Medien bezeichnet werden. Und in einem zweiten Schritt nehme ich auch noch die Quellen dieser Medien unter die Lupe. Das kostet Zeit, ist aufwändig und man kann das sicher nicht von allen verlangen. Ich fordere aber von Gesprächspartner*innen durchaus ein, dass sie sich in mehreren und unterschiedlichen Medien informieren, dass sie sozusagen die Blase bewusst verlassen. Ist so eine Forderung ein Weg? Oder ist das zu viel verlangt?
Nein, natürlich. Anders geht es doch eigentlich auch gar nicht. Wir wissen aus Untersuchungen, dass etwa 50 Prozent der Menschen gar nicht darauf achten, wer eine vermeintliche Begebenheit geschildert oder eine Behauptung aufgestellt hat. Viele Bürgerinnen und Bürger prüfen die Quellen nicht. Das ist eine wichtige Aufgabe für die Medienpolitik. Es geht darum, plumpen Blödsinn von gut recherchierten Berichten zu unterscheiden – das kann man lernen.
Ich höre und lese immer öfter, dass es schwer sei zu beurteilen, was wahr ist und was nicht. Ich finde das nicht. Und falls doch, sollte man sich wenigstens Mühe geben und versuchen, die Fakten zu recherchieren. Da bin ich ziemlich stur. Und mir fällt es schwer, geduldig mit Menschen umzugehen, die sich offensichtlich diese Mühe nicht machen oder nicht gemacht haben. Wie geht es Ihnen damit?
Mitunter verlässt mich auch bei solchen Gelegenheiten die niedersächsische Gelassenheit. Aber es hilft ja nix, wir dürfen nicht aufgeben, auf Fakten als Grundlage einer Diskussion zu beharren.
Ich halte es bei der Wahrheit mit Hannah Arendt. „Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.“ Es gibt sie also, die Wahrheit, und wir haben damit auch einen Kompass zur Orientierung. Oder sehe ich das falsch?
Nicht alle möchten Fakten akzeptieren, erst recht nicht, wenn sie der eigenen Überzeugung widersprechen. Nicht ohne Grund spricht man ja von „unbequemen Wahrheiten“. Manche Menschen flüchten in eine Welt aus Falschbehauptungen, eine Welt, in der sie sich bestätigt fühlen und keinen Widerspruch ertragen müssen. Dafür mögen sie ihre persönlichen Gründe haben, aber gesellschaftlich dürfen wir das niemals akzeptieren.
Ich finde ja, die Politik in Deutschland würde sich einen großen Gefallen tun, wenn sie insgesamt transparenter wird, zum Beispiel offener in Sachen Parteispenden und Lobbyismus. Das Thema kommt bei den Koalitionsverhandlungen bisher aber kaum vor. Kommt da noch was?
An mir und der SPD soll‘s nicht liegen, ich bin sehr für Transparenz im Hinblick auf persönliche Interessen oder gar Verstrickungen und für eine Offenlegung jedweder Einflüsse. Wenn sich das ändern lässt, von mir aus sehr gerne.
● Interview: Lars Kompa