Zwei Freundeskreismitglieder, die man in Hannover gar nicht erst vorzustellen braucht: Laura Berman (LB), seit 2019 Intendantin der Staatsoper, und Adam Budak (AB), seit 2020 Direktor der Kestner Gesellschaft, sind dem kulturinteressierten Publikum natürlich längst ein Begriff. In unserem Gespräch erzählen sie von ihrem schwierigen Einstand in Pandemiezeiten, aber auch von überraschenden Chancen, die sich durch den plötzlichen Stillstand des gewohnten Betriebs ergeben haben. Die beiden kennen sich gut – und das nicht nur, weil sie beide in Hannovers Kulturbetrieb arbeiten …
Sie wohnen im gleichen Haus! War das Zufall?
AB – Kennen Sie das Wort ‚Schicksal‘? (alle lachen) Als ich im vergangenen Jahr nach Hannover kam, mitten in der Pandemie, da war die Wohnungssuche etwas kompliziert. Ich musste mich für eine Wohnung mit einem Mindestvertrag von zwei Jahren allein auf der Basis von Bildern entscheiden. In Prag, wo ich vorher war, gibt es eine glamouröse, grandiose Architektur – Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert, High Ceilings – und hier wollte ich etwas Vergleichbares finden. Eine Bekannte hat mir Videoaufnahmen von einer Wohnung geschickt, die für mich interessant sein könnte. Sie hat dort den Namen „L. Berman“ an einer Tür bemerkt. Und ich hab mir gesagt: Wenn die dort wohnt, dann ist das ein gutes Zeichen!
LB – Ich kam eines Tages nach Hause, und da hing im Treppenhaus an einer Tür ein Zettel, auf dem „Budak“ stand. Und da dachte ich mir gleich: Oh, wie schön! Der von der Kestner Gesellschaft zieht ein!
Sie beide sind ja viel in der Welt herumgekommen. Was hat Sie nach Hannover gebracht?
LB – Ein Telefonanruf! Vor vier Jahren war ich Operndirektorin in Basel. Ich wusste, dass der Intendant bald wechseln würde und dass ich mir vielleicht eine neue Stelle suchen müsste. Einmal kam ich ins Büro und meine Assistentin sagte: Jemand hat hier heute angerufen und gemeint, es wäre persönlich. Ich schaute die Nummer an: Sie war aus Hannover. Und dann ahnte ich schon, worum es ging, weil ich wusste, dass sie hier eine neue Intendanz suchen würden … Und wirklich, darum ging es! Ich habe dann erstmal Erkundigungen eingezogen, wie man das eben macht, wenn man an ein neues Theater wechselt, und geguckt: Was ist das für ein Haus, wer sind die Mitarbeitenden? Wie sind die Leute, die im Chor arbeiten, im Orchester, in den Werkstätten? Und wie ist die Verwaltung aufgebaut? Viele Künstlerinnen und Künstler, die ich kannte, haben mir dann erzählt, dass es hier ein besonders gutes Team gibt. Und als ich dann herkam, fand ich das auch. Es ist ein ziemlich schönes Opernhaus hier – mit hohem Potenzial!
AB – Ich habe mich schon seit längerem für die Kestner Gesellschaft interessiert. Ich verfolge ihr Programm seit vielen Jahren, ich bin sehr begeistert von ihrer Geschichte. In den 1920er Jahren war das eine der progressivsten Institutionen, gegründet in der Mitte des Ersten Weltkriegs als ein Ort der Avantgarde. Und einer ihrer ersten Präsidenten, Alexander Dorner, ist für mich ein großes Vorbild. Hans-Ulrich Obrist, der Celebrity-Curator, hat eine inoffizielle Gesellschaft gegründet mit dem Namen „Everything started with Alexander Dorner“, denn genau so ist es. Dorner hat zum Beispiel El Lissitzky, damals ein noch völlig unbekannter sowjetischer Künstler, nach Hannover geholt und eine wichtige erste Ausstellung für ihn vorbereitet. Außerdem hat er mit ihm zusammen das Kabinett der Abstrakten eingerichtet, das heute im Sprengel Museum steht. Die Bedeutung der Kestner Gesellschaft für die Entwicklung der Museen, der kuratorischen Praxis ist wirklich unglaublich – und deshalb ist es eine große Ehre, an diesem Haus hier zu sein und diese legacy fortzusetzen. Meine Vorgängerin hier, Christina Végh, ist auch noch eine Freundin von mir. Und als sie sagte, sie würde aufhören und an die Kunsthalle Bielefeld wechseln, habe ich gedacht: Das ist eine schöne Gelegenheit!
Zuvor waren Sie künstlerischer Direktor an der Nationalgalerie Prag.
AB – Ja. Ich war dort zuständig für fünf Sammlungen und 300 Leute, davon mehr als 40 Kuratoren. Doch mit der Zeit fand ich das sehr ermüdend, denn es war nicht möglich, sich richtig kennenzulernen, tiefere Beziehungen zu entwickeln. Die Größe dieser Institution ist unglaublich. If Jesus got the job, he would have failed! (alle lachen) Ich habe also diese Sehnsucht entwickelt nach einer kleineren Institution, wo ich mich fokussieren kann, wo ich zu meinem Team bessere, tiefere Beziehungen schaffen kann.
LB – Interessant – bei mir war es genau umgekehrt! Die Oper in Basel ist wirklich klein – da sind einmal so viele Stellen gestrichen worden, dass es ein sehr kleiner Kreis geworden ist. Dagegen ist das Haus hier in Hannover sehr groß, auch weil hier Oper und Schauspiel sehr eng zusammenarbeiten. Wir teilen uns die Werkstätten, zum Beispiel die Schneiderei hier im Haus. Die macht auch die Kostüme für all die Schauspielproduktionen. Und das sind extrem viele Vorstellungen! Allein in den Sparten Oper und Tanz ist meine Zielvereinbarung 220 Vorstellungen, und bei Sonja Anders ist es ähnlich. Es arbeiten hier sehr viele Menschen – allein in der Schneiderei über 100 Personen! Und trotzdem versuche ich, eine familiäre Atmosphäre herzustellen. Mir ist es wichtig, dass die Leute, die zu uns kommen, als Regisseurinnen und Regisseure oder als Gastdirigentinnen und -dirigenten, sich hier wohlfühlen und gute Bedingungen für ihre künstlerische Arbeit finden. So eine vertrauensvolle Atmosphäre ist sehr wichtig, aber es ist schwerer, sie an einem großen Haus herzustellen.
Sie beide haben Ihren Dienst hier relativ kurz vor oder mitten in der Pandemie angetreten. Wie war das damals für Sie?
LB – Wenn ich ehrlich bin: Mein Herz ist zerbrochen! Es war so eine komische Zeit … Ich habe meine erste Spielzeit 2019/20 mit „La Juive“ eröffnet, was sehr bombastisch war. Es ist nämlich so: Immer, wenn ich an ein neues Theater komme, dann sagt man in der Stadt: „Oh-oh, jetzt kommen nur noch zeitgenössisches Musiktheater und merkwürdige Musikkompositionen!“ Von Freunden habe ich gehört, dass dieser Gedanke auch in Hannover kursierte. Deshalb wollte ich zu Beginn einen großen Schinken aus dem 19. Jahrhundert machen. Danach sollte ein sehr besonderes Werk von Bohuslav Martinů kommen: „The Greek Passion“. Es geht darin um ein kleines Dorf in Griechenland während des griechisch-türkischen Krieges. Die Bewohner studieren gerade ein Passionsspiel ein, als Flüchtlinge aus einem anderen Dorf kommen, das niedergebrannt wurde. Diese Produktion entwickelte sich so schön … Und dann, fünf Tage vor der Premiere, war plötzlich alles aus. Wir fühlten uns so unbeholfen – es ist ja nicht so, dass man geübt ist in Pandemie! Wir waren alle mit der Situation völlig überfordert! Ich habe mich dann mit den Vorständen von den Kollektiven getroffen und gefragt, wie sie das sehen würden. Danach war ich in der Bühnenprobe, und die Atmosphäre war so aufgeregt und nervös, dass mir klar war, dass wir keinen Tag weiter arbeiten können. Ich weiß noch, wie wir alle zur Coffee Time draußen auf der Terrasse saßen, im Sonnenschein: Alle hielten Abstand, tranken Prosecco und haben geheult!
AB – Ja, die Pandemie war eine schlimme Überraschung für uns alle. In der Kestner Gesellschaft war Christina Végh ein paar Monate vor dem Ausbruch von Corona weggegangen, die Ausschreibung wurde einen Monat vor der Pandemie veröffentlicht. Ich sollte am 15. März 2020 nach Hannover kommen, zu einem Treffen mit der Findungskomission. Doch dann, ab der ersten Märzwoche, fing der Lockdown an, und Reisen war nicht mehr möglich. Ich dachte also: Okay, das ist dann vorbei, die werden nicht auf mich warten. Mitte Juni bekam ich dann überraschend eine Nachricht, dass das Treffen nun doch stattfinden soll – als Zoomkonferenz. Ich weiß noch, ich war furchtbar nervös, ein so wichtiges Gespräch über meine Zukunft zu führen – über Zoom! Ich hasse Zoom …
Wer nicht? Das Gespräch ist aber dann doch glücklich ausgegangen: Am 1. November 2020 haben Sie Ihre Stelle als Direktor der Kestner Gesellschaft angetreten. Und am 2. November begann wieder der Lockdown …
AB – … und dauerte bis Ende Mai in diesem Jahr! Das war sehr frustrierend für mich. Ich war hier, aber ich konnte das Publikum gar nicht persönlich kennenlernen, auch nicht die Kollegen oder die Politiker. Wenn überhaupt, lief die Kommunikation über Zoom, alle fragten ständig: „Was haben Sie gesagt?“ Und immer war ich mir unsicher, ob man mich verstanden hat, ob ich durchgedrungen bin zum anderen. Dann die Diskussionen im Kulturbetrieb, ob man nun öffnen sollte oder nicht – ich konnte mich da kaum beteiligen. Ich kannte ja niemanden, kannte die Situation in Hannover nicht. Es war so frustrierend, dass ich da nichts sagen konnte, ich war bei diesen Gesprächen nur als ein Bild anwesend. Und auch in der Kestner Gesellschaft selbst habe ich wenig tun können. Es ist nämlich so, dass der Vorstand die Kuratorinnen gebeten hatte, ein längeres Programm zu machen, da sie nicht wussten, wie lange der Lockdown alles verzögert. Jetzt bin ich hier schon seit einem Jahr, aber ich realisiere noch bis zum Sommer 2022 das Programm von meiner Vorgängerin. Das heißt: Eineinhalb Jahre ist es das Programm von jemand anderem, das ich ausführe.
LB – Ich finde, das hört sich schwierig an. Aber ich glaube, das gibt dir eine Chance, erst einmal in Ruhe Hannover kennenzulernen. Das ist fast ein Vorteil – denn sonst springt man rein, muss sich von Anfang an mit ganz viel Neuem auseinandersetzen …
AB – Ja, schon. Aber weißt du: Mein Vertrag ist für fünf Jahre – ich weiß noch nicht, ob ich länger hierbleibe – und von diesen fünf Jahren mache ich jetzt ein Drittel etwas, das nicht von mir ist. Ich bin nicht unglücklich, aber ich habe natürlich meine eignen Ideen! Die aktuellen Hauptausstellungen mit Nicholas Party und Ericka Beckman sind von meiner Vorgängerin. Aber alles andere, die Identitätsänderung, da kann man vielleicht schon spüren, dass das meine Vision ist.
LB – Oh, absolut! Das ist total deutlich!
Sie sprechen von den Neuerungen in der Kestner Gesellschaft – dem Kino, dem Café?
AB – Genau! Aber ich meine auch die Nebenprojekte – die Fassade, die Kapelle, den Buchladen …
LB – Ich finde, das hat eine total neue Persönlichkeit. Adam, unterschätze das nicht!
AB – Es stimmt schon. Wir waren wegen des Lockdowns nicht unter Druck, eine neue Ausstellung zu produzieren. Da hatte ich dann Zeit, um genauer hinzusehen, und dann habe ich zum Beispiel bemerkt: Die Harry’s Bar rechts vom Eingang muss man ändern. Oder dieser Empfang – das funktioniert einfach nicht! All diese Orte, für die du normalerweise, wenn du die Hauptausstellungen produzierst, keine Zeit hast, und auch kein Geld. Nun hatte man eine Pause, Zeit zum Fokussieren.
LB – Ich glaube, auch in der Opernwelt kann man Positives beobachten. So in 20, 30 Jahren wird man sicher darüber schreiben, wie die Pandemie etwas verändert hat. Denn dadurch, dass man nicht diesen Druck hatte, 1.200 Karten zu verkaufen, sind ganz andere Sachen entstanden. Wir haben hier zum Beispiel einen Dokumentarfilm gedreht über unsere Inszenierung der Oper „Der Mordfall Halit Yozgat“ von Ben Frost – diesem besessenen Künstler, der niemals aufgeben wollte! In meiner zweiten Spielzeit wurden wir sogar noch kreativer. Ich denke da an „Trionfo. Vier letzte Nächte“ nach dem ersten Oratorium von Händel. Ein Dramaturg aus meinem Team hatte die Idee, daraus eine Geschichte zu machen über vier Figuren, die in einer Krise stecken, und in einer Nacht eine Entscheidung treffen müssen. Auf so eine Idee kommt man natürlich eher, wenn die ganze Menschheit in einer Krise steckt! (lacht) Innerhalb von zwei Wochen wurde dieses ganze Ding ausgedacht und konzipiert, vier Wochen später haben schon die szenischen Proben begonnen. Das Bühnenbild ist hauptsächlich aus Sachen gebaut worden, die man im Haus vorgefunden hatte. Das ging alles so schnell und unkompliziert! Ich finde, wir sollten versuchen, diesen Mut zum Experiment beizubehalten.
Das Jahr ist nun bald zu Ende. Worauf freuen Sie sich in 2022?
LB – Ich freue mich darauf, dass wir „The Greek Passion“ endlich auf die Bühne bringen, denn das ist wirklich eine sehr besondere Produktion. Und dann machen wir im März etwas, das bestimmt schräg sein wird: Die Oper „Der Vampyr“ von Heinrich Marschner, der früher hier in Hannover lange Zeit königlicher Kapellmeister war, also sozusagen meinen Job früher hatte. Der Regisseur, der das inszenieren wird, ist ein sehr besonderer Mensch – zum einen ist seine Bildwelt komplett irre und einmalig, und zum anderen lässt er immer ein wenig Politik und Sozialkritik in seine Inszenierungen einfließen, auf eine sehr lustige und leicht anarchische Weise. Außerdem ist da im Februar noch der Opernball, bei dem wird man diesmal besonders viel Handwerk sehen. Der Boden, auf dem die Menschen tanzen werden, wird bemalt – ich bin sicher, es wird fantastisch! Und dann, irgendwann, machen wir auch wieder etwas zusammen, oder?
AB – Ja, hoffentlich! Also ich freue mich schon auf neue Konzerte bei dir – sie hat sich nämlich einen Flügel gekauft.
LB – Genau! Ich habe kein Auto, aber dafür einen Flügel!
AB – Und ich freue mich natürlich auf mein Programm ab dem Sommer 2022.
Möchten Sie schon etwas verraten?
AB – Nein, noch nicht. Aber ich kann ein paar Hinweise geben: Es geht um Politisches, um andere Geografien … und um Frauen.
Das regt auf jeden Fall die Fantasie an!
AB – (lacht) Das ist gut – Fantasie ist wichtig!
● Anja Dolatta
Fotos: Bernd Schwabe, Wikipedia