Wir treffen heute zwei Mitglieder des Freundeskreises Hannover, beide sind ehemalige Chorknaben: Zum einen Wolfram Kössler (WK) vom Knabenchor Hannover, zuständig für Chor- und Konzertmanagement. Sein Gesprächs- partner ist Professor Andreas Felber (AF), künstlerischer Leiter des Mädchenchors Hannover. Was wird das? Jungs gegen Mädchen? Im Gegenteil, man ist bestens vernetzt, nicht nur über den Freundeskreis. Und zeigt keinerlei Konkurrenzgebaren.
Wir steigen wie üblich ein mit der Vorstellungsrunde …
AF — Ich war schon seit meinem achten Lebensjahr im Knabenchor in Luzern und habe dort meine musikalische Grundausbildung erhalten. Ich wollte Sänger werden und habe später auch ein Gesangsstudium absolviert. Noch als Schüler habe ich beim Knabenchor Stimmbildung unterrichtet und Ensembles geleitet, ohne dass ich eine Ahnung vom Dirigieren hatte. Der Chorleiter hat mich damals einfach ins kalte Wasser geworfen. Ich hatte schon vor meinem Studium einen eigenen Chor, einen Jugendchor, und plante Chorleitung als zweites Standbein neben dem Singen. Mein Jugendchor war eine junge, sehr energievolle Truppe. Wir haben sehr viel nachts geprobt, weil wir tagsüber keine Zeit hatten und haben uns so einmal innerhalb von nur drei Monaten auf einen Wettbewerb vorbereitet, wofür man eigentlich sehr viel mehr Zeit braucht. Dort waren wir so erfolgreich, dass wir quasi über Nacht in der Schweiz sehr bekannt waren und überall hin eingeladen wurden. Mir wurde dann die Leitung des Schweizer Jugendchors angetragen. Ich habe zwar mein Gesangsstudium abgeschlossen, aber mein Schwerpunkt hat sich damals total in Richtung Chorleitung verschoben. Mittlerweile singe ich nur noch recht selten als Solist im Konzert, manchmal noch zu Hause in Luzern, zum Beispiel zu Weihnachten.
WK – Ich kann deine Stimmlage gar nicht einschätzen, ich vermute Tenor?
AF — Ich bin ein fauler Tenor (lacht), ich habe im Studium als Bass angefangen und habe als Bariton abgeschlossen. Ich glaube, wenn ich mehr tun würde, hätte sich das in Richtung Tenor verschoben.
Durch Training wird die Stimme höher?
WK — Es gibt diese Bezeichnung „fauler Tenor“, wenn man die Höhe eigentlich hätte, das aber ein bisschen ruhen lässt.
AF — Die Höhe muss man sich technisch erarbeiten, das Prinzip ist schon so, je größer die muskuläre Spannung, desto höher der Ton. Aber ich war gerade an dem Punkt, als ich Wolfram kennengelernt habe. Wir waren damals mit dem Schweizer Jugendchor auf einer Deutschland-Tournee, die Wolfram organisiert hatte …
WK — Ich war damals bei einer Münchner Konzertagentur tätig. Ich habe mich später total gefreut, dass Andreas die Leitung des Mädchenchors übernommen hat, ein Gewinn für Hannover!
Aber jetzt müssen wir noch mal ausholen und zurückgehen zu deiner Zeit im Knabenchor, Wolfram.
WK — (Lacht) Ja, ich habe früher im Hannoverschen Knabenchor gesungen, heute bin ich nicht nur sein Manager, sondern auch Vater von zwei aktiven Sängern. Ich bin in Hannover geboren und bis zum Zivildienst hier geblieben. Beim Musikverlag Schott in Mainz habe ich dann eine Verlagsausbildung gemacht, und im Anschluss in Leipzig Verlagswirtschaft studiert. In meinen vier Jahren dort habe ich vor allem sehr viel gemuckt (lacht), ich habe in vielen sehr guten Chören gesungen, Konzertreisen gemacht und tolle Bühnen kennengelernt. Dann hatte ich berufliche Stationen in Wolfenbüttel und war in München bei der bereits erwähnten Konzertagentur. Und irgendwann bekam ich einen Anruf von Jörg Breiding, dem Chorleiter des Knabenchores. Er hätte gehört, ich wolle gern nach Hannover zurückkehren. Er hatte insofern Recht, als meine Frau als Lehrerin in Niedersachsen verbeamtet war, wir mittlerweile drei Kinder hatten und es eh eng wurde mit einem Gehalt in München, und das auch noch in der Kulturbranche (lacht).
Inwieweit sind Mädchen- und Knabenchor eigentlich vergleichbar? Abgesehen davon, dass Jungs in den Stimmbruch kommen …
AF — Mädchen auch, das ist nur nicht so deutlich hörbar. Eine Mädchenstimme klingt ja anders als eine Frauenstimme. Mädchen im Stimmbruch klingen ein wenig hauchig, bevor ihre Stimmen ein neues Register entwickeln. Aber sie können in dieser Zeit weiter im Chor singen.
WK — … während es bei den Jungs eine Zeit gibt, in der die Stimme einfach nicht anspricht und kein kontrolliertes Singen möglich ist. Das kann bis zu drei Jahre dauern und kann mit elf Jahren einsetzen, oder auch erst wesentlich später. Gerade jetzt, ich komme zum bösen Thema Covid-19, ist das ein großes Problem für alle Knabenchöre, weil uns eine ganze Generation gerade völlig wegbricht.
Hinter beiden Chören steckt ja ein mehrstufiges Ausbildungssystem. Wie läuft das anfangs eigentlich ab?
AF — Es gibt zu Anfang immer ein kleines Vorsingen. Bei euch wird das ähnlich sein (zu WK, dieser nickt). Die Mädchen kommen mit sechs, sieben Jahren zu dritt in den Raum und singen dann einzeln etwas vor. Das kann ein Kinderlied sein, ein Weihnachtslied, wir machen da keine Vorgaben und erwarten auch keinerlei Vorbildung. Wir sehen schnell, ob das Kind schon so weit ist. Leider wird heute zu Hause in den Familien nicht mehr so viel gesungen, denn genau das wäre die perfekte „Vorbildung“ für uns. Wenn Eltern mit ihren Kindern von klein auf singen und Musik hören, dann wird dieses Kind keine Probleme haben, bei uns anzufangen.
Ich hätte gedacht, dass das Kind schon ein besonders Talent mitbringen muss.
AF — Es ist natürlich schön, wenn das da ist. Aber vieles entwickelt sich ja auch erst mit der Zeit. Eine gewisse Musikalität muss da sein, aber nicht im Sinne von „die Stimme muss schön klingen“. Aber wir hatten auch schon die Situation, dass Mädchen keinen Ton herausgebracht haben, trotz Nervositätsabbau … Dann gibt es ja auch viele andere Chöre ohne Aufnahmeprüfung, wo es Spaß macht zu singen und wo man sehr viel lernen kann.
Beide Chöre haben einen exzellenten Ruf und sind preisgekrönt.
WK — Beide Klangkörper müssen natürlich hart dafür arbeiten, von allein kommt so eine Qualität nicht. Wir suchen jetzt schon Fünfjährige. Wir schicken unsere Musikpädagogen in die Kindergärten und bieten auch ein Ausbildungsprojekt für die Erzieher an, in deren Ausbildung Musik einen viel zu geringen Stellenwert hat. Bei mir war es zum Beispiel meine Musiklehrerin in der Grundschule, die meine Eltern angesprochen hat: „Der Wolfram, der singt immer so laut“, (alle lachen) und ob der Knabenchor nicht etwas für mich wäre. Ich habe dann „Schneeflöckchen Weißröckchen“ vorgesungen und war natürlich sehr nervös. Das ist schon eine sensible Stimmung … Aber das wurde schon damals gut aufgefangen. Man begleitet das Kind dann am Klavier und ändert mal die Tonfolge, um zu gucken, ob das Kind dem folgen kann. Auf unsere Bildungsarbeit müssen wir immer wieder aufmerksam machen. Und es ist eine Besonderheit für eine Stadt, sich mit einem renommierten Chor sowohl im Knaben- als auch im Mädchenbereich schmücken zu können.
Wie läuft denn die Ausbildungsarbeit jetzt gerade weiter?
AF — Jetzt sind wir ja gerade in etwa am gleichen Punkt wie im letzten April, was sehr frustrierend ist. Wir haben damals angefangen mit digitalen Proben und digitalem Unterricht. Sobald es erlaubt war, gab es wieder Präsenz-Einzelunterricht. Zusätzlich wurde der ganze Chor in Quartette aufgeteilt, die dann wenige Proben hatten, aber immerhin trotzdem singen durften. Als es im Sommer dann erlaubt war, haben wir mit dem ganzen Chor draußen geprobt und hatten sogar eine Chorwoche in der Christuskirche, in der wir in Kleingruppen geprobt haben. Seit den Herbstferien haben wir dann die Möglichkeit genutzt, in der „Münchner Halle“ auf dem Messegelände zu proben.
Ein irres Szenario, in diesem Oktoberfest-Ambiente.
AF — Total skurril. Aber es war super für uns, trotz einiger Hindernisse: viel Abstand und eine laute Lüftung, ich war ständig angeschlagen, weil ich so laut sprechen musste. Selbst dort konnten wir immerhin mit dem halben Chor proben, dafür zweimal plus Einzelproben. Das ging bis in den November hinein, weil wir als Bildungsinstitution die Erlaubnis dafür hatten. Im Dezember war dann wenigstens noch Einzelunterricht erlaubt, und jetzt geht wieder nur noch Online-Unterricht. Das ist wirklich schade, wenn der Einzelunterricht nicht mehr live stattfinden kann, wenn wir nicht mehr stimmlich arbeiten können. Die Qualität leidet dann unheimlich. Gerade für die Kleinsten waren diese Proben mit Abstand unheimlich schwierig, mit der lauten Lüftung, der Chorleiter ist 30 Meter weit weg, die Kolleginnen zwei Meter, und von denen müssten sie eigentlich lernen. Die sind dann in dem Raum ganz für sich. Und die Älteren kommen ja nicht nur für die Musik in den Chor, sondern auch für die Freunde. Das fehlt, und da mache ich mir große Sorgen für die Zukunft.
Weil jetzt etwas wegbricht, was sich nicht so schnell wieder aufbauen lässt?
AF — Das wird lange dauern und wirft uns weit zurück. Von der Erfahrung, die die Älteren den Jüngeren mitgeben, fehlt jetzt einfach ein Stück, und das wird größer, je länger der Lockdown dauert. Wir werden das von Grund auf neu aufbauen müssen. Ein Erwachsenenchor macht in so einer Situation eine Pause und fängt dann wieder an, wenn vielleicht auch nicht genau auf dem gleichen Level. Bei Kindern oder Jugendlichen passiert in einem Jahr aber so wahnsinnig viel! Und gerade die Jüngsten konnten kaum proben. Wir verlieren da womöglich eine Generation.
WK — Und weiter gedacht: Jetzt Konzerte zu planen für die Zukunft, wo sämtliche Veranstalter sagen: „Ausgerechnet Chormusik?“, das ist ebenfalls schwer.
AF — Und das ist ja auch finanziell eine wichtige Säule für uns. Ich bin grundsätzlich ein positiver Mensch und denke, wenn wir wieder anfangen können, dann sicher mit einem großen Energieschub. Aber damit ist es nicht getan.
WK — Anfang März hatten wir noch ein Vorsingen, direkt danach kam der Lockdown. Das heißt, die neuen Sänger haben einen Brief bekommen, dass sie dabei sind, und seitdem ging fast nichts. Ein bisschen Unterricht draußen auf dem Schulhof, Proben in Kleingruppen über längere Zeit nur online. Wir hatten lange die große Hoffnung, unsere Adventskonzerte singen zu können und haben relativ frühzeitig entschieden, den Chor dafür zu dritteln. In der Marktkirche durften zum Beispiel nur 40 Leute gleichzeitig im Chorraum stehen. Aber natürlich möchte jeder auch gern mit seinem Kumpel singen! Die musikalische Qualität ist ja das eine, aber auch die Gemeinschaft ist ganz zentral bei so einem Chor. Die Sozialkompetenz, die man erwirbt, durch gemeinsames Reisen, Fußball spielen in der Pause, Erleben von Konzerten. Das alles liegt ja komplett brach. Wie soll ich denn meinen Sohn dazu motivieren, allein zu Hause vorm Rechner zwei Stunden lang „Der Geist hilft unserer Schwachheit“ einzustudieren?
Ist es nicht auch gerade das Schöne am Chorsingen, dass man aufgeht in einem Klangkörper? Hat man so ein Gefühl überhaupt mit halben Chören und drei Metern Abstand?
AF — Anders. Je nachdem, wo man singt, ist das schon noch möglich, aber es ist natürlich nicht das gleiche.
Wie funktioniert überhaupt eine Online-Chorprobe?
AF — Das Problem ist, dass ich dabei nicht wirklich etwas höre. Es ist also eher ein gestütztes Einstudieren. Ich kann durch meine Erfahrung ungefähr abschätzen, wo die Schwierigkeiten sind. Ich kann über das Musikstück sprechen oder eine Aufnahme abspielen, kann aber nicht wirklich reagieren auf das, was die Sängerinnen machen. Und das ist wichtig, darin besteht die Qualität unserer Arbeit: Zu reagieren auf das, was kommt, und das zu formen. Was wir jetzt machen, ist im Grunde Unterricht nach Lehrbuch oder nach Erfahrung. Ich weiß ziemlich genau, an welchen Stellen etwas schiefgehen wird. Aber ich kann einfach keine detaillierten Rückmeldungen geben.
WK — Ein Chorleiter braucht ja Resonanz und will etwas widergespiegelt bekommen. Ich ziehe meinen Hut vor euch Musikpädagogen. Die Situation ist gerade so ermüdend! Am Anfang war das natürlich für die Jungs noch total spannend am Bildschirm. Dann kam die Phase, in der alle ihre Hintergründe geändert haben, der eine saß im Weltraum, der nächste auf der Golden Gate Bridge … Dabei die Konzentration zu halten, verdient wirklich Respekt.
Wie ist die Perspektive? Wird es im Sommer Open-Air-Konzerte geben?
WK — Da muss ich noch etwas ergänzen zum Singen mit Abstand: Beim Chorsingen ist nur etwa 50 Prozent das Singen, der Rest ist das Hören. Im Ensemble ist es enorm wichtig zu hören, was der Nachbar macht. Draußen ist das einfach schwierig mit den ganzen Nebengeräuschen. Viele hochprofessionelle Chöre probieren das und haben große Schwierigkeiten, selbst in Sakralbauten, einfach wegen des großen Abstands. Und wie klingt es für das Publikum, wenn sich die Sänger gegenseitig nicht hören?
AF — Und es gibt den großen Nachteil, dass man wetterabhängig ist und man immer mitplanen müsste, dass das Konzert eventuell doch ausfällt. Wo hat man schon einen Ort, der regengeschützt ist, akustisch sinnvoll und mit Platz für ein Publikum? Bei unserer Chorgröße ist das ein riesiger Organisationsaufwand. Wir müssen eine Bühne aufbauen, da entstehen Kosten, die wir in der derzeitigen Lage nicht bewältigen können. Uns fehlen die Einnahmen durch Konzerte, wir werden in Zukunft weniger Mitgliedsbeiträge haben, da wir befürchten, dass weniger Eltern ihre Kinder in einen Chor schicken, nachdem man jetzt ein Jahr lang gehört hat, wie gefährlich das ist. Wir arbeiten unheimlich verantwortungsbewusst, halten alles ein, was irgendwie möglich ist und versuchen trotzdem ein Angebot zu machen. Aber finanziell haben wir wirklich gerade zu kämpfen.
WK — Das Gute in der Situation ist wirklich, dass die Eltern weiterhin bereitwillig die Beiträge zahlen und keiner sagt: „Aber ihr unterrichtet doch nur online.“ Im letzten Jahr hätten wir unseren siebzigsten Geburtstag gefeiert, da sind einfach mal über 20 Konzerte weggefallen. Das tut nicht nur weh, das ist existenzbedrohend. Und wir wissen nicht, wann diese Durststrecke zu Ende ist. Alle halten sich jetzt bedeckt. Ich hätte gerne mehr Perspektive. Ich habe vollstes Verständnis für alle Maßnahmen, aber wie viele Verlängerungen wollen wir uns allen denn noch zumuten?
Die Chöre sind gute Beispiele dafür, dass man in dieser Krise auch nicht alles mit Geld lösen kann.
AF — Ja, die finanziellen Probleme wird man sicherlich irgendwie lösen können, da ist die Perspektivlosigkeit ein größeres Problem. Wir müssen den Mädchen Perspektiven bieten und können nicht einfach mal ein Jahr lang nichts machen.
WK — Wir wollten eigentlich in der Adventszeit zusammen mit zehn Londoner Blechbläsern durch Deutschland touren (lacht). Solche Programme haben einen riesigen Vorlauf und es ist sehr demotivierend, sie immer wieder umzuwerfen. Wir planen jetzt erst einmal kleinere Programme und hoffen, dass wir sie bald zeigen können.
● Annika Bachem