Tag Archive | "2020-12"

Ein letztes Wort im Dezember

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Ein letztes Wort im Dezember


Herr Weil, wir sprechen Mitte November, die Videokonferenz mit der Kanzlerin am 16. November ist ein paar Tage vorbei, wenn es am 25. November in die nächste Runde geht, ist das Stadtkind bereits im Druck. Wir unterhalten uns also mal wieder sozusagen in der Zwischenzeit. Vielleicht eine Gelegenheit, ausnahmsweise nicht über aktuelle Infektionszahlen und Maßnahmen zu sprechen. Kommen Sie eigentlich noch dazu, zwischendurch ein bisschen weiter als bis zum nächsten Tag, zur nächsten Woche und zum nächsten Monat zu denken? Momentan reagiert die Politik immer wieder neu auf die aktuellen Entwicklungen. Kommt das Agieren, das Gestalten nicht schon lange viel zu kurz?
Teils, teils. Natürlich nimmt Corona einen großen Teil meiner Arbeitszeit in Anspruch, alles andere wäre ja auch verwunderlich. Schließlich haben wir es definitiv mit der größten Herausforderung zu tun, die wir alle bis jetzt erlebt haben. Aber gleichzeitig geht es immer wieder auch um die Frage, wie es denn eigentlich weitergehen soll nach Corona. Nehmen Sie nur die Wirtschaft, da wird hinterher vieles anders sein als vorher, da bin ich sicher. Und manche Themen waren schon vor Corona akut und wichtig, sie sind es jetzt und bleiben es: Der Umbau der Automobilindustrie in Richtung Elektromobilität und Digitalisierung ist zum Beispiel ein Thema, das mich seit längerem und auch jetzt und in Zukunft sehr beschäftigt. Oder nehmen Sie den Niedersächsischen Weg für mehr Artenschutz, den wir trotz Corona unter Dach und Fach bringen konnten, auch ein wichtiges Perspektivthema. Corona ist zum Glück nicht alles.

Ich habe die Sorge, dass wir andere wichtige Themen aus den Augen verlieren. Und ich denke dabei nicht nur an den Klimawandel. Vor etwa einem Jahr haben wir uns an dieser Stelle zum Beispiel über Stichworte wie Gerechtigkeit und Solidarität unterhalten. Darüber, was Ihre Partei sich dringend ins Programm schreiben sollte und wollte. Für eine neue Agenda der SPD war bisher aber kaum Zeit …
Da gebe ich Ihnen recht. Vor allem droht natürlich durch Corona in dieser Hinsicht sogar noch eine Verschlechterung. Gerade stärker förderbedürftige Kinder leiden besonders, wenn der Schulbetrieb eingeschränkt ist, und das ist nur eines von vielen Beispielen. Dazu kommt, dass mit Corona auch die Lage der öffentlichen Finanzen spürbar schlechter geworden ist und damit auch der Spielraum für Interventionen. Das ist eine Herausforderung für die SPD, aber natürlich auch für die anderen Parteien. Und ich hoffe, dass meine Partei mit ihrem Programm für die Bundestagswahlen in dieser Hinsicht echte Perspektiven aufzeigen kann.

Die SPD liegt in den aktuellen Umfragen im Bund ziemlich konstant bei 15 Prozent, die SPD in Niedersachsen hat zuletzt ebenfalls verloren. Eins kann man sicher sagen, zu den Gewinnern der Corona-Krise zählt die SPD bisher nicht. Wie könnte es denn gelingen, trotz Corona das eigene Profil zu schärfen?
Was Niedersachsen anbelangt, bin ich mit unseren Umfrageergebnissen nicht unzufrieden. Wir stehen sehr viel besser da als die Bundespartei und bis zur Landtagswahl ist noch eine Menge Zeit. Wir sind hier im Land unverändert mehrheitsfähig. Aber natürlich ist es nicht realistisch, dass sich die niedersächsische SPD komplett vom Bundestrend abkoppelt und dort ist Ihre Analyse leider richtig. Die SPD-Riege in der Bundesregierung macht eine sehr gute Arbeit, allen voran Olaf Scholz und Hubertus Heil, aber das allein reicht erkennbar nicht. Trotzdem bin ich durchaus zuversichtlich. Corona hat vieles bestätigt, was wir schon lange sagen: Wir brauchen einen starken Sozialstaat, wir müssen uns aufstellen gegen Egoismus, wir müssen den Zusammenhalt in der Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken. Das ist eine Haltung, die viele Bürgerinnen und Bürger ansprechen wird.

Es ist bestimmt wichtig, die Sorge um die eigene Partei und künftige Wahlergebnisse angesichts der Krise momentan ein bisschen zurückzustellen, wichtig finde ich aber auch, dass trotz der Krise ein Kompass sichtbar bleibt.
Das ist für mich kein Gegensatz. So eine Krise ist ja auch eine Charakterprobe, das gilt für Gesellschaft insgesamt und noch mehr für die Politik. Bezogen auf Niedersachsen empfinde ich unser Vorgehen in den letzten Monaten als eine sehr glaubwürdige Ausprägung von sozialdemokratischer Politik. Persönlich bin ich jedenfalls mit mir sehr im Reinen.

Sehr oft war in den vergangenen Monaten die Rede von dem Brennglas, unter dem im Zuge der Krise die Probleme noch viel offensichtlicher geworden sind. Zum Beispiel im Gesundheitswesen, aber auch im Bereich der Bildungsgerechtigkeit und in vielen weiteren Feldern. Ich würde mir sehr wünschen, dass die Politik trotz Corona für diese Themen nachhaltige Antworten findet.  
Der Vergleich mit dem Brennglas stimmt wirklich. Vieles funktioniert im internationalen Vergleich in Deutschland auffällig gut. Das gilt zum Beispiel für Umfang und Qualität unseres Gesundheitswesens, was ich vorher nicht unbedingt erwartet hätte. Unser Sozialstaat macht auch vieles leichter als wir es in anderen Ländern sehen. Aber es gibt eben auch unübersehbare Schwachstellen und die Situation in der Pflege gehört ohne Frage dazu. Das wussten wir allerdings eigentlich auch schon vor Corona. Gesundheitsministerin Reimann und ich setzen uns deshalb immer wieder dafür ein, die unsägliche Überökonomisierung der Pflege endlich zu beenden und zu erträglichen Arbeitsbedingungen in diesem wichtigen Gebiet zu kommen.

Lassen Sie uns zum Schluss noch mal kurz über etwas ganz anderes, über eine — aus meiner Sicht — gute Nachricht sprechen: Donald Trump ist abgewählt. Haben Sie mit Bier oder Champagner angestoßen?
Nach dem quälenden Auszählungsmarathon war mir nicht mehr nach Feiern, ich war und ich bin einfach nur erleichtert.

Was fällt Ihnen ein zu Donald Trumps augenblicklicher Weigerung, seine Niederlage einzugestehen und das Weiße Haus zu verlassen? Für mich hat sich noch einmal sehr deutlich bestätigt, dass in den vergangenen vier Jahr im Weißen Haus ein lupenreiner Anti-Demokrat sein Unwesen getrieben hat.
Ja, und man mag sich gar nicht ausmalen, was im Falle seiner Wiederwahl noch alles passiert wäre. Die Situation in Amerika ist aber schon schlimm genug, denn das Ergebnis von vier Jahren Trump und den Auseinandersetzungen nach der Wahl ist eine komplett gespaltene Gesellschaft.

Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass Demokratien durchaus unter autokratische Räder kommen können. Angesichts der Corona-Krise habe ich die Befürchtung, dass wir uns alle künftig noch viel mehr gegen Anti-Demokraten wappnen müssen. Teilen Sie diese Befürchtung?
Ist es nicht vielleicht gerade umgekehrt? Die Johnsons und Trumps und Bolsenaros dieser Welt haben offensichtlich versagt, sie sind ein Gesundheitsrisiko für ihre Bürgerinnen und Bürger. Dagegen nimmt sich die Zwischenbilanz der deutschen Politik ziemlich gut aus, finde ich. Und ich habe, allen Corona-Leugnern zum Trotz, den Eindruck, dass eine weit überwiegende Mehrheit der Gesellschaft bei uns das genauso sieht.

● Interview: Lars Kompa

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Heiko Brockmann  vom Kulturschlüssel Niedersachsen

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Heiko Brockmann vom Kulturschlüssel Niedersachsen


Wer „Kulturbegleiter“ hört, denkt spontan an Pflanzen am Wegesrand. Nicht so die InitiatorInnen des Kulturschlüssels Niedersachsen, die sich auf die Fahne geschrieben haben, im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention Barrieren für den Besuch von Kultur- und Sportveranstaltungen abzubauen. Sie haben eine Plattform entwickelt, über die Menschen mit Behinderungen Personen finden, die sie beim Besuch einer Veranstaltung begleiten – die sogenannten KulturbegleiterInnen. Einer von ihnen ist Heiko Brockmann.
„Beruflich bin ich vorbelastet, weil ich Schulbegleiter bin, mich also um die Inklusion von Kindern mit Handicap im Schulalltag kümmere“, so Brockmann, der durch einen Zeitungsartikel auf den Kulturschlüssel aufmerksam wurde. „Die Idee hat mich sofort angesprochen, denn Kultur braucht natürlich auch Inklusion. Menschen mit Behinderungen stoßen, wenn sie etwas unternehmen wollen, oft auf Hindernisse, das können Kleinigkeiten sein, die man als nicht behinderter Mensch gar nicht wahrnimmt, die ihnen aber den Besuch vieler Veranstaltungen ohne Unterstützung unmöglich machen.“
Hier setzt der Kulturschlüssel mit seinem Konzept an, zwischen Veranstaltern, ehrenamtlichen KulturbegleiterInnen und Menschen mit Behinderungen, hier KulturgenießerInnen genannt, zu vermitteln: Niedersächsische Kultur- und Sportinstitutionen stellen Eintrittskarten für unterschiedlichste Veranstaltungen zur Verfügung. Menschen mit Handicap können sich, genau wie solche, die unterstützen wollen, auf der Homepage des Kulturschlüssels registrieren und anhand eines Veranstaltungskalenders auswählen, was sie unternehmen möchten. Etwa 120 Personen insgesamt haben das bisher getan. Wenn, was in der Regel auch klappt, ein Match zwischen beiden Parteien zustande kommt, werden die Beteiligten per E-Mail oder durch einen Anruf darüber informiert, und dem gemeinsamen Kulturgenuss steht nichts mehr im Wege. Koordiniert wird das von der Projektleiterin Pauline Kleier.
Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, wie Heiko Brockmann sie hat, ist keine Voraussetzung für dieses Engagement. Im Rahmen von Kennenlerntreffen bekommen die Freiwilligen vor ihrem ersten Einsatz eine kurze Schulung, die vor allem dazu dient, Berührungsängste abzubauen.
Brockmann war im Juli 2019 kurz nach Start des Projekts einer der ersten, der sich gemeldet hat – und besuchte schon mit einem Kulturgenießer die Premierenveranstaltung des Kulturschlüssels im GOP. „Das war erst mal eine witzige Situation“, so Brockmann. „Bevor wir uns um 18 Uhr getroffen haben, kannten wir uns nicht. Dann hatten wir einen tollen Abend und sind seither in Kontakt geblieben. Während des Corona-Lockdowns haben wir uns sogar verabredet, dieselbe Online-Veranstaltung zu streamen, und haben hinterher telefoniert, um uns darüber auszutauschen. Das war seine Idee, und ich fand das super, ich hatte vorher noch nie etwas gestreamt.“
„Ein solcher privater Kontakt ist im Grunde schon die nächste Stufe“, betont Projektleiterin Kleier, „das ist gelebte Inklusion.“ Ein „Bonbon“ für die KulturbegleiterInnen ist, dass sie freien Eintritt erhalten, während die KulturgenießerInnen ihre Tickets regulär bezahlen müssen.
„Dieses Projekt hat so viele positive Begleiterscheinungen, weil Menschen lernen, sich zu öffnen und aufeinander zuzugehen, eben ohne Behinderungen. Ich habe für mich erlebt, dass es sehr schön ist, Kultur zu genießen und dabei mal den Blickwinkel des anderen einzunehmen. Da nimmt man eine Menge für sich selbst mit,“ so Brockmann.
Wie oft und für welche Veranstaltungen die ehrenamtlichen KulturbegleiterInnen sich zur Verfügung stellen, steht ihnen völlig frei. Es gibt keine Verpflichtung zur regelmäßigen Teilnahme. Ganz wichtig ist die Unterscheidung zwischen Begleitung und Assistenz. Eine pflegerische Assistenz wird von den KulturbegleiterInnen nur in Ausnahmefällen geleistet, wenn jemand, wie zum Beispiel Heiko Brockmann, einschlägig ausgebildet und dazu bereit ist. Auch Fahrdienste oder Unterstützung auf dem Weg zur Veranstaltung gehören nicht zu den Aufgaben der KulturbegleiterInnen. Eine ausreichende Mobilität der KulturgenießerInnen wird vorausgesetzt. „Es geht einfach darum, dass man da ist, falls kleine Hilfestellungen nötig sind, die aber niemandem aufgedrängt werden. Man begegnet sich auf Augenhöhe und die Kultur steht dabei absolut im Vordergrund.“
Der Kulturschlüssel kooperiert mit etwa 25 bis 30 kulturellen Institutionen und Sportveranstaltern, die Eintrittskarten zur Verfügung stellen. Wenn Interesse an bestimmten Veranstaltungen besteht, die noch nicht im Kulturschlüssel-Kalender gelistet sind, fragt Pauline Kleier aber auch einfach an: „Es gibt selten negative Rückmeldungen, eher ein großes Interesse daran, uns zu unterstützen.“ Oft wird Veranstaltenden erst durch die Anfrage des Kulturschlüssels deutlich, dass ihre Lokalitäten nicht barrierefrei sind. Manchmal lässt sich das relativ leicht ändern, das Engagement des Kulturschlüssels gibt hier wichtige Anstöße, denn: Je sichtbarer und selbstverständlicher Menschen mit Behinderungen an Veranstaltungen teilnehmen, desto näher kommt eine Gesellschaft dem Ideal der gelebten Inklusion.

● Annika Bachem

Wer sich als KulturbegleiterIn engagieren möchte,
ist herzlich willkommen!

www.kulturschluessel-nds.de

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