Tag Archive | "2020-08"

Ein letztes Wort im August

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Ein letztes Wort im August


Herr Weil, lassen Sie uns heute mal Richtung USA und Co. blicken. In vielen anderen Ländern, so muss man leider sagen, wütet die Pandemie geradezu. Hier bei uns wird in dem Zusammenhang gerne davon gesprochen, dass wir bisher vergleichsweise eher glimpflich durch die Krise gekommen sind. Wirtschaftlich werden wir die krassen Auswirkungen in den anderen Ländern aber auch bei uns zu spüren bekommen …
Ganz sicher. Wenn beispielsweise die USA als größte Volkswirtschaft der Welt massiv ins Straucheln gerät, wird das für uns als Exportnation allein schon für die Industrie negative Folgen haben. Nicht nur deshalb wird die Welt im November gespannt auf die Präsidentschaftswahlen blicken – einer der wohl politisch wichtigsten Tage des Jahres. Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn die US-Amerikanerinnen und Amerikaner nach den gemachten Erfahrungen diesen Präsidenten wiederwählen würden, dann könnte ich das nicht nachvollziehen. Trumps chaotischer Umgang mit der Corona-Pandemie ist im Grunde genommen das genaue Gegenteil dessen, was ein verantwortlicher Politiker tun sollte. Er muss Bürgerinnen und Bürger schützen sowie für Sicherheit und Zusammenhalt sorgen. Trump aber spaltet und polarisiert und er hat die große Infektionswelle, die momentan durch die USA rollt, mindestens mit zu verantworten. Ich finde, man sieht sehr gut, was man –
bei aller vielleicht berechtigten Kritik – an der deutschen Politik hat. Angela Merkel ist nun einmal nicht Donald Trump und die deutsche Politik deutlich anders als die amerikanische.

Es ist sichtbar gut, dass bei uns die Populisten noch nicht am Ruder stehen. Oder andersherum gesagt, man sieht nun sehr deutlich, dass in jenen Ländern, in denen die Populisten regieren, die Pandemie schreckliche Konsequenzen hat.
Das ist eindeutig so, ja. Eine Corona-Pandemie lässt sich nicht mit markigen Sprüchen und einfachen Antworten eindämmen, sondern mit komplexen Lösungsansätzen und seriöser Politik. Wir haben hier in Deutschland zum Glück eine andere politische Kultur. Eine deutsche Politikerin oder ein deutscher Politiker, die bzw. der sich nur entfernt so verhalten würde wie Donald Trump, wäre bei uns ganz schnell weg vom Fenster. Ich stehe zum Beispiel einigermaßen ratlos vor dem Phänomen, dass die Frage nach wahr oder unwahr bei Trumps Anhängern so gut wie gar keine Rolle spielt. Kein Mensch geht bei Trump davon aus, dass wahr ist, was der so erzählt. Und trotzdem wollen ihn offenbar viele wiederwählen. Warum wählt man einen Politiker, von dem man selbst nicht glaubt, dass er die Wahrheit sagt? Ein Rätsel, für das ich nur teilweise eine Erklärung habe. Ein Hinweis ist das Buch von George Packer „Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika.“

Darüber haben wir vor Jahren schon mal gesprochen.
Ja, er beschreibt darin, wie es der amerikanischen Mittelschicht im Schleudergang der unterschiedlichsten Krisen der letzten Jahrzehnte ergangen ist und wie sie heute völlig demoralisiert und desillusioniert dasteht. Das sieht man jetzt in der aktuellen Krise auch wieder. Wenn jemand in den USA die Arbeit verliert und seine Monatsmiete nicht mehr bezahlen kann, ist er ratzfatz auf der Straße, also obdachlos. Da können die Verhältnisse vorher noch so abgesichert gewesen sein. Wenn man nur das vergleicht mit den Verhältnissen bei uns, den Systemen zur Absicherung hierzulande, dann wissen wir, was wir an unserem Sozialstaat haben.

Wobei ich nicht unbedingt den Eindruck habe, dass die Kritik an der Politik hierzulande angesichts all dessen nun kleiner geworden wäre.
Nein, und das muss auch gar nicht sein. Wir haben eine Demokratie, kritische Stimmen sind Teil davon. Ich glaube aber schon, dass insgesamt das Ansehen der Politik im Vergleich – sagen wir zum Jahresanfang – deutlich gestiegen ist. Das jedenfalls bekomme ich an persönlichen Rückmeldungen. Aber ich bin da natürlich auch befangen (lacht).

Zurück zu den Populisten, Trump ist ja nur ein Beispiel. In Brasilien haben wir Bolsonaro.
Der in den Augen vieler seriöser Beobachter nicht nur populistisch, sondern auch rechtsextremistisch agiert. Ich hatte bei Jair Bolsonaro auf eine Einsicht wie beim britischen Premier Boris Johnson gehofft. Johnson hatte vor seiner Infektion Corona kleingeredet und er ist dann durch seine eigene Erkrankung mit COVID-19 eines Besseren belehrt worden. Bolsonaro hat monatelang propagiert, Brasilien habe kein Problem mit Corona und ist damit komplett gescheitert. Seine eigene Infektion hat an dieser Politik bislang leider nichts geändert – mit furchtbaren Folgen für die brasilianische Bevölkerung – vor allem in den Armenvierteln.

Wenn man sich mal wirklich klar macht, dass es um Menschenleben geht, dass es in den USA und Brasilien weitaus weniger Tote gegeben hätte, wenn das Verhalten von Trump und Bolsonaro ein anderes gewesen wäre, dann wird es für mich richtig krass.
So geht es mir auch. Und dahinter steht ein Politikstil, bei dem es nicht um Themen geht, nicht um Ideen, um Weltanschauung, um Ideale, um die Bürgerinnen und Bürger, sondern es geht ausschließlich und konzentriert um den jeweils handelnden Politiker. Nun kann man über uns Politikerinnen und Politiker in Deutschland ganz sicher nicht sagen, dass wir total selbstlos unterwegs sind und überhaupt nicht an das eigene Profil und Image denken würden. Natürlich tun wir das alle auch hierzulande. Aber das bewegt sich auf einem ganz anderen Niveau. Bei uns gibt es eine ganz andere Agenda, eine ganz andere Prioritätenliste, als das bei den Trumps, Bolsonaros und Johnsons dieser Welt der Fall ist.

Ich finde, sichtbar wird eine unfassbare Skrupellosigkeit.
Absolut! Und wir können wirklich froh sein, dass die Verhältnisse bei uns andere sind und wir diese Krise in Deutschland und auch bei uns in Niedersachsen bisher ganz gut gemeistert haben. Allerdings hat auch unsere Wirtschaft immensen Schaden genommen und wir stecken nun insgesamt in einer Weltwirtschaftskrise, ohne im Moment zu wissen, wohin genau diese Reise noch gehen wird und wie wir durch den Herbst und Winter kommen werden. Aber vergleichsweise haben wir offensichtlich eine Menge richtig gemacht. Und ich würde darum nun nicht dazu raten, die bereits bewährten Pfade vorschnell wieder zu verlassen. Das Virus bleibt gefährlich und wir müssen uns alle gemeinsam weiterhin sehr umsichtig und solidarisch verhalten.

Im Herbst und Winter drohen zahlreiche Insolvenzen.
Ja, wir werden Insolvenzen und auch Geschäftsaufgaben erleben, zum Beispiel in der Gastronomie und im Einzelhandel, weil es in diesen Bereichen sehr schwierig geworden ist. Es herrscht einfach eine ganz andere, viel befangenere Stimmung als vor Corona, viele checken automatisch in allen Situationen permanent das Risiko. Das verhindert unterm Strich natürlich sehr viel Konsum. Corona schlägt voll durch auf sehr viele wirtschaftliche Aktivitäten. Nehmen Sie nur einmal die Veranstaltungsbranche, den Bereich Kultur. Wann werden wir wieder bei großen Konzerten miteinander Bands feiern können? Ich weiß es nicht.

Vielleicht werden wir das hier in Deutschland in kleinen Maßstäben demnächst wieder schaffen, aber auf Großveranstaltungen werden wir noch lange warten müssen.
Ja, und Sie sagen „hier in Deutschland“ – wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir mit Deutschland Teil einer großen Weltgemeinschaft sind und entsprechend werden wir uns hier nicht sicher fühlen können, während in anderen Ländern diese Pandemie noch wütet. Wir müssen darum an andere Länder appellieren, ebenfalls vorsichtig zu sein. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Wir brauchen jetzt mehr denn je eine enge internationale Zusammenarbeit. Und mehr Europa. Wir müssen dringend über den Tellerrand schauen, auch aus ganz eigenen Interessen – denn es gibt zum Beispiel keine gesunde deutsche Wirtschaft in einem kranken Europa.

 Interview: Lars Kompa

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Viet Kafé

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Viet Kafé


Der kleine Laden ist hübsch gemacht mit Orangen- und Zitronenbäumchen, Holzfensterrahmen mit Blick auf eine belebte vietnamesische Straßenaussicht, Palmen, dekorativem Klee und Pflanzenranken selbst unter der Decke, Glühbirnen im Gitterkäfig und Nostalgie-Petroleumleuchten auf den Tischen. Zum instagramablen Ambiente gibt es im Viet Kafé aber auch authentisches ostasiatisches Streetfood, das für wenig Geld die Mägen mit einem Bisschen Vietnam füllt.

An Cocktailsessel-Ensemble, Holzbänken mit bunten Blumenkissen, kleinen Bistrotischen und dekorativ pseudo-unverputzten Wänden vorbei gehen wir direkt zum Tresen, wo man bestellt und gleich bezahlt. Kostenloses WLAN für den fixen Upload der Instapics steht genauso zur Verfügung wie alle Plastikgeld-Bezahlmethoden von MasterCard bis zu kontaktlos mit EC-Karte, egal bei welcher Summe. Die Durstlöscher des Hauses (Ingwer-Zitronen- und Limetten-Grüntee für 3,90 Euro) werden uns dann mit viel frischer Minze und Papierstrohhalm in Bambusoptik an den Tisch gebracht. Die auf Schieferplättchen anschließend servierten Sommerrollen (für 4,50 Euro) bersten schier vor Reisnudeln, Salat, Gurke, Minze und Rührei, die mit Tofu und Seitan, Garnelen oder Chicken kombiniert werden können. Geschmack bekommen die sehr leichten Leckerrollen durch Mangospäne und am Ende herausschauende Korianderblättchen, wirklich intensiv wird’s erst mit einer oder auch beiden mitgelieferten, salzig-süßen Saucen.
Als Hauptgang probieren wir heute das im Netz hochgelobte vietnamesische Baguette (Bánh mì). Klassisch kommt es mit rohen Karotten, Gurken, Koriander und einem Belag nach Wahl: Hühnchen, Schweinefleisch oder Omelette. Auch Veganer kommen mit Tofu und Seitan zu ihrem Recht. Mit Butter angebraten und mit Paté bestrichen, punktet die Hausvariante mit Röstzwiebeln, eingelegter Karotte und Kohlrabi sowie mit schmackhaft marinierter Hähnchenbrust (für 4,50 Euro). Um im Slang zu bleiben: Yummy! Eine blau-weiße Emailleschüssel ist die „Rainbowl“ für Reis-Lover, die es mit Hähnchen oder Schweinenacken BBQ gibt, wir nehmen die Veggie-Variante (kostet, wie die mit Fleisch auch, 5,50 Euro). Darin: Ein Reisgericht mit bemerkenswerten Konsistenzen von bissfestem Reis, grob pürierten Erdnussflocken und grellroten Gojibeeren. Dünn geschnittener, mit Extrasauce beträufelter Tofu, feingehackter Koriander und eine Currysauce auf Basis einer tollen Brühe lassen im Ganzen eine liebevoll gestaltete Portion entstehen, die aus dem asiatischen Einheits-Reis-Brei positiv heraussticht.
Typisch vietnamesischer Kaffee wird traditionell im Phin, einem kleinen Edelstahlfilter, direkt auf der Tasse zubereitet. Diese Zubereitungsform, die dem Phin Kafe seine besondere Note verleiht, passt zu den Qualitäts-Kaffeebohnen direkt aus Lam Dong, einer Provinz in der Region Central Highlands in Vietnam. Auf einer Höhenlage von 1500 Metern werden die Kaffeekirschen handgepflückt, nach der Verarbeitung werden die Kaffeebohnen direkt nach Deutschland exportiert und vom Partner des Hauses frisch und individuell geröstet (was den stolzen Preis von 4,20 Euro erklärt).
Nach der meditativen Betrachtung des Durchtröpfelns des Kaffees auf die süße Kondensmilch im Glas schmeckt der Phin Kafe tatsächlich höchst entspannt und sehr aromatisch. Für die traditionellen Streetfood-Snacks wie Bao Kuchen (Hefeteigkugeln) mit Fleisch oder vegetarisch gefüllt, Pyramiden-Reismehl-Kuchen, interessant klingende Suppen wie Instant Ramen und Beef Stew sowie typisch asiatische Süßigkeiten wie Mochis (Reiskuchen) müssen wir unbedingt noch einmal wiederkommen. Wenn es nicht regnet, sitzt man an dem ruhigen Ende der Knochenhauerstraße auf der Terrasse des Viet Kafé zudem sehr nett.  Anke Wittkopp

Knochenhauerstraße 23    30159 Hannover
Tel. (0511) 80 76 30 23     www.vietkafe-hannover.de

Öffnungszeiten Mo – So 10 – 19 Uhr

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Roberto Goldner  vom Zahnmobil

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Roberto Goldner vom Zahnmobil


Porschefahrende Freizeitgolfer, die sich außerhalb ihrer Hochglanz-Praxis höchstens die Börsenkurse angucken? Solche Zahnärzte gibt es natürlich auch. Ganz andere trifft man beim Zahnmobil. Hier bieten sie in ihrer Freizeit kostenlos Zahnbehandlungen an. Für Menschen, die das gut gebrauchen können, weil sie aus den unterschiedlichsten Gründen aus dem System herausgefallen sind. Wir treffen den Diplom-Stomatologen Roberto Goldner in seiner Lindener Praxis.

Schon von Anfang an war er dabei, aufgrund seiner Freundschaft mit Dr. Ingeburg Mannherz, die das Projekt zusammen mit ihrem Mann initiiert hat. „Als sie die Idee hatte, 2010 muss das etwa gewesen sein, habe ich gesagt: Wenn du das machst, mache ich mit.”
Ein gebrauchter Rettungswagen, finanziert von der Stiftung „Hilfswerk deutscher Zahnärzte”, wurde zu einer sechs Quadratmeter kleinen, voll ausgestatteten Zahnarztpraxis umgebaut – und 2012 ging es los. „Über die Jahre ist mir das total ans Herz gewachsen”, so Goldner, der für sein Ehrenamt etwa zweimal im Monat seinen Freitagnachmittag, manchmal auch den Samstagvormittag im Zahnmobil verbringt. „Es ist toll zu sehen, dass sich da jemand riesig freut, dass er oder sie zu uns kommen kann und von Schmerzen befreit wird”, so der Zahnarzt. „Es macht Spaß, man lernt ganz andere Patienten und auch Kollegen kennen als im normalen Praxisalltag. Es ist einfach schön, auf diese Weise etwas zurückzugeben.”
Das Zahnmobil kommt zu festen Zeiten an verschiedene Standorte, oft in der Nähe von Wohnungslosentreffs. Dort wird über Aushänge und von den dort arbeitenden Menschen darauf hingewiesen, wann das Zahnmobil da sein wird. Meist wird es dann schon von einer Reihe Patienten erwartet.
„Wenn die Leute versichert sind, rechnen wir die Behandlung ganz normal ab und spielen so wieder ein bisschen Geld ein. Und die nicht Versicherten, häufig Geflüchtete, durch Migration illegalisierte Menschen, oder ehemals privat Versicherte, behandeln wir dann einfach so. Wir brauchen einen Stellplatz, einen Stromanschluss, fahren seitliche Ausleger aus, damit der Wagen nicht wackelt, und dann kann es losgehen. Digitales Röntgen, kleinere chirurgische Eingriffe – eigentlich sind alle therapeutischen Schritte durchführbar, ganz wie in einer normalen Praxis”, so Goldner.
„Nur bei einem Zahnersatz, der mehrere Termine erfordert, wird es schwierig. Denn erstens ist es ungünstig, wenn ein anderer Kollege weitermachen muss, was man selbst angefangen hat – da hat jeder seine eigene ‚Handschrift‘. Und vor allem weiß man nie so genau, ob die Leute wirklich wiederkommen. Wenn so etwas nötig ist, was ja auch oft mit mehrstündigen Terminen verbunden ist, die hier den Rahmen sprengen, versuchen wir, den Menschen die Angst zu nehmen, in eine Praxis zu gehen.”
Hier liegt oft das größte Problem. Denn auch Obdachlose sind in Deutschland in der Regel krankenversichert. Sie haben aber sehr oft riesige Berührungsängste, fürchten, schief angeguckt oder abgewiesen zu werden. Hier leistet das Team des Zahnmobils wertvolle Basisarbeit. Durch das niederschwellige Angebot kommen viele, die seit langer Zeit keinen Fuß mehr in eine Praxis gesetzt haben. So fassen sie Mut, sich wieder eine Praxis zu suchen.
„Und das funktioniert auch,” freut sich Goldner, „manchmal kommen Patienten nach Jahren wieder und sehen auf einmal 20 Jahre jünger aus, weil sie vernünftig mit Zahnersatz versorgt worden sind. Das ist dann echt schön! Die kommen manchmal und bringen kleine Geschenke mit, einfach weil sie sich so riesig freuen.”
2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle stand das Zahnmobil oft vor den verschiedenen Unterkünften, um Geflüchtete zu behandeln. Verständigungsprobleme wurden damals von den in den Unterkünften tätigen Dolmetschern gelöst. Ansonsten sind Sprachprobleme selten, man behilft sich notfalls mit Englisch. Oft werden die Patienten aber von den SozialarbeiterInnen der Wohnungslosentreffs vorbereitet und bringen jemanden mit, der übersetzen kann.
Zum Team gehören neben den ehrenamtlichen Fahrern und einer Zahnarzthelferin etwa 30 ZahnärztInnen, die an ihren freien Vor- oder Nachmittagen kommen. Manche haben halbe Stellen und somit freie Kapazitäten, andere sind schon im Ruhestand, oder nutzen ihre praxisfreien Zeiten. Die Zahnarzthelferin ist die einzige Angestellte. „Es ist ganz wichtig, dass es einen Fixpunkt gibt, eine Person, die genau weiß, wo alles ist und die immer den Überblick hat. Denn ansonsten wechselt die Belegschaft ja täglich”, erklärt Goldner. „Auch muss die Hygiene sichergestellt werden, wie in jeder anderen Praxis, und dafür ist sie ebenfalls zuständig.”
Und wie stark war der Einschnitt durch die Corona-Pandemie? „Wir waren im Grunde schon vor Corona vielleicht noch stärker auf Infektionsschutz bedacht als sowieso üblich, weil wir bei unserer Klientel nie sicher sein können, ob vorhandene Infektionen kommuniziert werden. Oft wissen diese Patienten ja nicht mal, ob sie Infektionen wie Hepatitis B oder C haben,” erklärt Goldner. „Von daher mussten wir gar nicht so viel ändern. Wir tragen jetzt noch zusätzlich Visiere und Schutzkleidung, aber alles andere, wie Desinfektion der Oberflächen etc., war auch vorher schon selbstverständlich. Das größere Problem war zunächst, dass die Wohnungslosen anfangs völlig uninformiert waren. Die gucken ja nicht unbedingt die Tagesschau oder lesen Zeitung. Und so haben sie sich auch gar nicht geschützt, weil sie keine Ahnung hatten. Dabei trifft gerade sie so eine Infektion am härtesten, weil sie ungesund ernährt und sowieso schon in einem schlechten Gesundheitszustand sind.”

Vor drei Jahren wurde unter der Trägerschaft des Diakonischen Werks ein Förderverein gegründet, dessen vorrangige Aufgabe es ist, den jährlichen Finanzbedarf des Zahnmobils von etwa 80.000 Euro über Sponsoren und Spenden zu sichern. Wer sich als ZahnmedizinerIn, FahrerIn, oder einfach als Fördermitglied engagieren möchte, findet alle Infos unter: www.zahnmobil-hannover.de

 Annika Bachem

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Tonträger im August

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Tonträger im August


Might: Might
Kurz nach Auflösung ihres Trios Deamon’s Child im Januar hoben Ana Muhi und Sven Missullis ihre Band Might aus der Taufe. Hier macht das Ehepaar jetzt erstmal alles alleine. Unbeirrt, aber doch stark geprägt von der hereingebrochenen Pandemie, liefern die beiden mit ihrem Debütalbum einen von wenigen hellen Momenten durchzogenen, noisig düsteren, schwer krachenden Soundtrack zum neuen Normal.

 

 

 

Sofie: Cult Survivor
Eine hypnotisch-verschlafene Grundstimmung zieht sich durch das Debütalbum der US-Amerikanerin mit österreichischen und iranischen Wurzeln. Aus Los Angeles, wo sie als DJ und Label-Mitarbeiterin eher HipHop, Funk und Soul verbunden war, nach Wien zurückgekehrt, sind ihre Songs überraschend poppig geraten. Gutes Songwriting unter einer manchmal etwas dicken Schicht Watte.

 

 

 

 

The Hu: The Gereg Deluxe
Die Deluxe-Ausgabe ihres aufsehenerregenden 2019er Debüts: Der Sound von mongolischem Kehlkopfgesang und traditioneller Instrumente wie die Pferdekopfgeige oder Topshur, eine zweisaitige Gitarre, bilden mit bekannten westlichen Rock-Strukturen ein gelungenes Amalgam, mit dem die Männer aus Ulaanbaatar die Festivalsaison 2019 erfolgreich aufgemischt haben.

 

 

 

 

Portmonee: 404
Ein schönes Debütalbum zwischen Indie-Deutschrock, Pop und Gisbert zu Knyphausen: Benannt nach einer Dead-Link-Fehlermeldung im Netz, abwechslungsreich und immer solide ist das Werk der Berliner Band, bei der es keinerlei Schmerzen bereitet, dass die Texte deutsch sind – im Gegenteil. Rotzig und schlau halten sie die Spannung, wenn es musikalisch vielleicht ein bisschen beliebig wird.

 

 

 

Alex Izenberg:
Caravan Château
Nach seinem Debüt „Harlequin“ zog sich der kalifornische Singer- Songwriter für ein paar Jahre in sein Universum zurück. Von dort bringt er jetzt elf schräg-schöne Songs mit, von ein bisschen versponnen bis ganz großes Kino. Gleichermaßen leicht wie sperrig und getragen von Izenbergs heiser tönender Stimme, sind sie ein Fest für alle, denen allzuviel musikalische Glätte suspekt ist.

 

 

 

Protomartyr:
Ultimate Success Today
Das fünfte Album der Postpunk-Formation aus Detroit reiht 10 atmosphärisch düstere, krachige, überwiegend maulig in The Fall-Manier vorgetragene Songperlen aneinander, die durchaus, wie das melancholisch-schöne „The Aphorist“ geeignet sind, ein Lichtlein anzuzünden. Der letzte Titel „Worm In Heaven“ setzt ein weltuntergangsmäßig trauriges, schrecklich schönes Fanal.

 

 

Gösta Berlings Saga: Konkret Musik
Der Name der schwedischen Instrumental-Progrockband bezieht sich auf das Romandebüt von Selma Lagerlöf. Selbst bescheinigten sie sich schon früh nerdige Tendenzen und nannten sich „that band your unmarried, childless uncle with that beard and the weird smell likes”. Keine zwei Monate nach ihrem überraschend und quasi unangekündigt herausgebrachten Livealbum „Artefacts“ ist hier nun ihr sechstes Studioalbum, für das die fünf Stockholmer exzessiv mit Sythesizern experimentiert haben. Und die kommen nicht nur in den verträumt-ruhigen Passage zum Tragen, sondern geben den treibend-groovigen Tracks einen gewissen Captain Future-Touch, oder auch einen Hauch Kraftwerk. Die 12 Stücke sind vertrackt, aber alles andere als unzugänglich, und so kurzweilig, dass die Idee, Gesang zu vermissen, nicht aufkommt. Weder bei müffelnden Prog-Opas, noch bei allen anderen.

 

L.A. Salami: The Cause of Doubt & A Reason To Have Faith
Der Londoner Poet und Singer-Songwriter Lookman Adekunle Salami, dessen Stimme an The Flamimg Lips’ Wayne Coyne erinnert, schlendert auf seinem dritten Album wunderbar lässig durch die Genres und nimmt mit, was nicht niet- und nagelfest ist. Nichts wirkt aber zusammengeschraubt, wenn er Rap, Folk, Psychedelic und Pop zu wildesten, versponnenen Kombinationen verbindet, weil alles fließt. Schon der Eröffnungs- und Titelsong ist ein ungestüm wilder Ritt durch die psychedelisch verzerrte Landschaft. „Ich mag die Idee von polierter, sorgsam arrangierter Musik, aber ich mag auch die Ehrlichkeit von Dingen, die fast auseinanderfallen“, sagt der Brite mit nigerianischen Wurzeln, dessen Verehrung für Bob Dylan auch hier immer wieder auf das Schönste hörbar wird. Aber dann rappt er auch gleich wieder, als hätte er nie was anderes gemacht.
 Annika Bachem

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Andersch – Natur pur

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Andersch – Natur pur


„Hinaus in Feld und Flur! Hinauf auf Gipfel und Grat! Durch Hag und Heide, durch Moor, Modder und Morast!“ Mit diesen Worten und einem tatendurstigen Blitzen in den Augen trat ich an den platingrauen Mercedes heran, in dem mein alter Schulfreund Roger bereits auf mich wartete. Der schien von meinem Anblick einigermaßen erstaunt. „Wird jetzt gerade der Fasching nachgeholt, oder was?“, fragte er, während ich meine Outdoor-Regenschutz-Kappe auf den Rücksitz schleuderte und die Bauch- und Brust-Gurte meines Survival-Rucksacks lockerte. In Anerkennung von Rogers flachem Scherz klopfte ich mir auf den von Multifunktionshosen verhüllten Schenkel. „Der war gut! Nein, ich wollte einfach für jede Eventualität gerüstet sein. Immerhin gibt es da draußen keine Supermärkte, Krankenhäuser und im Zweifelsfall niemanden, der einen schreien hört.“
Dass er mich daraufhin entgeistert anblickte, begann mich zu ärgern. „Na hör mal, du warst es doch, der das vorgeschlagen hat! – Gestern, am Telefon: ‚Anne, hast du Lust, einen Abstecher in die weite, karge Wildnis zu unternehmen?‘ hast du gefragt …“ „Mitnichten!“, protestierte Roger und beobachtete unglücklich, wie ich mich mit meinen dreckverkrusteten Wanderstiefeln auf den Beifahrersitz schwang. „Ich fragte, ob du Lust hast, einen Absacker im Kleingarten von Tante Hilde einzunehmen!“
Einen Moment lang dachte ich darüber nach, den Klappspaten aus meinem Rucksack hervorzuholen und mir hier und jetzt ein Loch zu graben, in dem ich vor Scham versinken könnte. Aber dann beschloss ich, die Coole zu spielen. „Naja, wer weiß, in was für einem Zustand dieser Garten ist.“ „Wenn man meiner Tante glauben will, in einem fürchterlichen“, grummelte Roger und startete den Motor, „zumindest sagt sie das andauernd.“
Als wir ein halbes Stündchen später Tante Hildes Parzelle in der Kleingartenkolonie „Laubenpieper e.V.“ erreichten, konnte ich mich selbst davon überzeugen. Sogleich wurden wir auf einem geschmackvollen Ensemble aus Rattanmöbeln geparkt und von der rüstigen Rentnerin dazu aufgefordert, uns schon mal tüchtig in ihrer „grünen Oase“ umzuschauen, während sie die Getränke holte. Das tat ich auch, wobei mir ein Schauder nach dem anderen über den Nacken lief: Grün war hier keineswegs eine dominierende Farbe. Der gesamte Boden war, bis auf zwei ausgewiesene Sukkulentenpflanzungen, mit Granitsplitt und Zierschotter bedeckt. Dazwischen führten schmale Pflastersteinpfade, gesäumt von glänzenden Gartenzwergen mit roten Bäckchen und toten Augen. Den einzigen zusammenhängenden grünen Flecken in all dem Grau bildete eine kaum mannshohe Harlekinweide, deren Krone in eine peinlich perfekte Kugelform geschnitten worden war und dem Afroschopf von Bob Ross ähnelte. Ob der sich hier wohl genauso gegruselt hätte wie ich …?
Ich zitterte. Vielleicht, weil meine Füße so kalt waren. Denn die schmutzigen Wanderstiefel hatten das Gartentor nicht passieren dürfen.
„Ich weiß, es herrscht eine fürchterliche Unordnung, ich komme mit der Pflege gar nicht mehr hinterher!“, rief Tante Hilde, als sie mit den Getränken zurückkam, „eigentlich ist es auch viel zu viel Arbeit für eine Frau in meinem Alter. Aber was soll man machen – jeder will eben sein Fleckchen Natur!“ Solche und ähnliche Reden schwang die alte Dame unentwegt, während sie die mittig auf unseren Untersetzern platzierten Gläser bedächtig mit alkoholfreiem Weizen füllte. Ein weiteres Verbrechen. „Ihr müsst verzeihen, das richtige Bier habe ich für meine Nacktschneckenfalle aufgebraucht. Auf der Rückseite des Hauses habe ich nämlich ein Salatbeet, das von diesen kleinen Halunken nur allzu gut besucht wird. Mit Glyphosat lassen sie sich leider nicht vertreiben – auch nicht mit Metaldehyd, Eisen-III-Phosphat oder Mesurol.“ Ich schluckte. „Was passiert mit den Schnecken in der Falle?“, fragte ich heiser. „Ach, dasselbe wie mit einem Menschen: Sie werden betrunken und müde und lassen sich dann leichter beseitigen.“ Ich schluckte abermals. „W-wie beseitigen?“ Langsam drehte die alte Dame mir ihr rundes Gesicht zu, das von einem honigsüßen Lächeln erhellt war, und die Sonne schien sich zu verdunkeln. „Sie werden mit einem Spaten der Länge nach zerteilt.“ Und dann wandte sie sich an ihren Neffen: „Roger, mein lieber Junge, wirst du deiner alten Tante wohl den Gefallen tun, das für sie zu erledigen? Meine Arthritis macht mir heute ganz besonders zu schaffen, und in der Falle haben sich siebzehn von den kleinen Banditen angesammelt.“ „Null Problemo“, sagte Roger und erhob sich zur Tat. Das war zu viel für mich.
Mit einem schrillen Schrei sprang ich auf die Beine und setzte meinen Schulfreund mit einem Schlag gegen die Kinnlade außer Gefecht, danach betäubte ich seine Tante durch Anwendung eines vulkanischen Nackengriffs. Nachdem ich mir meinen Rucksack übergestreift hatte, rannte ich zu dem vermaledeiten Salatbeet, neben dem die Schüssel mit den alkoholseligen Schnecken stand. Alarmiert durch das Stöhnen der vorzeitig erwachenden Hilde ergriff ich die Schüssel und rannte los, schlug mich querfeldein durch die Gartenkolonie, sprang über Zäune und Zierteiche, Pools und Pergolen, Bohnenstangen und Bodendecker, und hielt lange Zeit nicht an …
Seit drei Wochen bin ich nun schon in den menschenleeren Wäldern untergetaucht. Den Schnecken geht es gut, mir ebenso. Schließlich war ich für alle Eventualitäten gerüstet. Nur eines finde ich ein wenig schade: Dass ich auf meiner überstürzten Flucht meine Wanderstiefel zurücklassen musste.

 Anne Andersch

Foto von Lum3n von Pexels

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… mit Barbara Kantel, Rabea Schubert und Saham El-Gaban

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… mit Barbara Kantel, Rabea Schubert und Saham El-Gaban


Barbara Kantel, Rabea Schubert und Saham El-Gaban sprechen über ihre Arbeit als TheaterpädagogInnen, über neue Aufgaben und Herangehensweisen in Corona-Zeiten und über analoge und hybride Zukunfstpläne.

Stellt euch zum Einstieg mal kurz vor …
Barbara Kantel: Hier am Schauspiel Hannover arbeite ich als Dramaturgin und leite gleichzeitig die Abteilung „Künstlerische Vermittlung und Interaktion“, die eng angedockt ist an die Arbeit des Jungen Schauspielhauses. Aber nicht nur. Die Abteilung macht für alle Produktionen die Vermittlungsarbeit. Zudem realisieren wir partizipativen Produktionen und Projekte, z. B. die Playstations, unsere Theaterjugendclubs, oder das House of Many. Meine Arbeit betrifft vor allem die Konzepte und die Koordination.
Rabea Schubert: Ich bin Theaterpädagogin im Team „Künstlerische Vermittlung und Interaktion“. Es gibt zwei Säulen: das Vermittelnde und das Interagieren mit der Zielgruppe, vor allem Schulen und Jugendliche. Und vielleicht noch eine dritte Säule, das Künstlerische, die bestimmte Umsetzung, die Überlegung: Wie kann ich etwas kreativ vermitteln? Wenn ich mit den ganz Kleinen arbeite, dann sage ich: „Ich bin sowas wie eine Lehrerin, aber ohne Tafel und Schreibzeug, sondern ich möchte euch etwas auf praktische Art beibringen. Und ich habe euch etwas mitgebracht: Ein Theaterstück, ein Projekt.“ So kommen die Kinder in Kontakt mit Theater – über Spiele, über Bewegung. Und wenn ich mit Älteren arbeite, sage ich oft: „Wir gucken uns das Theaterstück oder das Projekt etwas genauer an und dafür brauchen wir gar nicht viele Worte, sondern eher einen gemeinsamen Raum.“ Eine sehr klassische Arbeit als Theaterpädagogin betrifft unsere Playstations: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene kommen ins Theater, weil sie Theater machen und lernen möchten. Und weil sie Lust haben, Teil vom Theater zu sein.

Lässt sich die Altersklasse eingrenzen?
RS: Ab 12 – und dann gibt es nach oben fast keine Grenze.
BK: Jugendlichkeit ist ja etwas, was sich gerne bis ins Erwachsenenalter hineindrängt. Die Inszenierungen am Schauspiel Hannover sind überwiegend generationenübergreifend konzipiert. Neben dem intergenerativen Ansatz und der partizipativen und interaktiven Arbeit spielen auch das Trans- und Interkulturelle für uns eine große Rolle.

Kommt es denn oft vor, dass ältere Personen mitwirken?
BK: Ja, wir hatten schon intergenerative Playstations, die waren auch ziemlich spannend. Das hat immer auch ein bisschen damit zu tun, wie die Clubleitung sich selbst positioniert und was sie interessiert.

Nun aber zu dir …
Saham El-Gaban: Ich arbeite ebenfalls im Team „Künstlerische Vermittlung und Interaktion“, bin Theaterpädagoge und als Coach im Projekt House of Many tätig. Und für mich wie für die Jugendlichen ist es wichtig, viele Workshops anzubieten, um ihnen die Inszenierungen näherzubringen.

Du warst ja stark in das interkulturelle Projekt „Yalla“ eingebunden – kannst du dazu etwas erzählen?
SEG: „Yalla“ ist ein 2017 gestartetes Projekt. Ich habe drei Künstler aus Syrien angeleitet und mit Jugendlichen aus Hannover und der Region mit unterschiedlichen Hintergründen gearbeitet. Herausgekommen sind dann ein Film und fünf Vorstellungen. Ich habe sehr gute Erfahrungen in der Zeit gemacht. Wir alle hoffen, dass es auch in der nächsten Spielzeit weitergeht. Wobei die Frage wäre, ob das wegen Corona analog oder digital geschehen kann.
BK: Wir konnten das „Yalla“-Ensemble 2015 aus Mitteln finanzieren, die das Ministerium für Wissenschaft und Kultur im Rahmen der Geflüchtetensituation für Projekte bereitgestellt hat. Das Ensemble bestand sowohl aus geflüchteten als auch aus einheimischen Menschen. Und es war intergenerational, da waren mehrere dabei, die der Generation 50+ angehörten. Nun ist aber leider die Finanzierung durch das Ministerium ausgelaufen.

Handelte es sich bei „Yalla“ um professionelle KünstlerInnen oder auch um Laien?
BK: Professionell waren die, die diesen Club und die einzelnen Projekte geleitet haben. Die haben immer ein Vierteljahr mit den „Laien“ gearbeitet, ehe es dann eine Präsentation gab, etwa ein Theaterstück, eine Lesung, einen Film. Die einzelnen Gruppen zählten etwa 20 bis 30 Leute – wobei es eine hohe Fluktuation gab, weil beispielsweise TeilnehmerInnen den Wohnort wechseln mussten. Inzwischen, nach dem Ende der Finanzierung, ist „Yalla“ eine unserer Playstation-Gruppen geworden, so dass die Arbeit zumindest in diesem Rahmen weiter geht. Es ist gut, dass wir über Saham eine personelle Kontinuität haben. Aber leider ohne die finanziellen Möglichkeiten, weitere KünstlerInnen einladen zu können.

Das House of Many probiert sich an verschiedenen Formen, derweil die Playstation mehr an klassischer Theaterarbeit interessiert ist?
RS: Genau. Beim House of Many gibt es nicht so sehr die klassische Spielleitungsfunktion, wie es sie sonst bei theaterpädagogischen Spielprojekten gibt, sondern …
SEG: … es geht eher darum, sich zu organisieren.
BK: Die klassische theaterpädagogische Arbeit, in der man ein Angebot macht – und junge oder weniger junge Leute sagen dann: „Ja, genau das will ich machen …“ Das ist das eine. Es gab aber vor ca. zehn Jahren eine Umfrage unter jungen Leuten, bei der herauskam, dass die gar nicht unbedingt nur solche Angebote wollen, sondern einen Raum, in dem sie selbst etwas machen können. Daraus ist die House-of-Many-Idee entstanden: Es gibt einen Raum, das Ballhof-Café – und wir sagen: „Das ist der Raum und ihr bekommt einen Coach.“ Das ist in dem Fall Saham, bzw. gibt es ab der nächsten Spielzeit jeweils für zwei bis drei Monate einen Celebrity aus unterschiedlichen Communities hier in Hannover, der oder die dann als GastgeberIn fungiert. „Und was dann passiert“, so sagen wir das, „liegt im Prinzip in eurem Ermessen.“ Es ist quasi eine Schnittstelle zwischen politischer und kultureller Tätigkeit. Und natürlich sind die Mittel, mit denen man arbeitet – Diskussionen, Lesungen, Filme, Poetry Slam, Speed Datings, Installationen – immer künstlerische Mittel. Aber die Ziele werden von den TeilnehmerInnen des House of Many selbst gesetzt.

Wie hat Corona eure Arbeit verändert?
BK: Erstmal gab es ja den Shutdown, da konnten wir nichts machen, weil uns das Publikum fehlte. Die Schulen sind komplett weggebrochen, es kamen aber auch Lehrkräfte im Bereich „Darstellendes Spiel“ auf uns zu und fragten, wie sie das denn nun online unterrichten sollen. Und wir haben uns dann umgeguckt und gefragt, welche Möglichkeiten es gibt, online Theater zu machen. Das hatte viel mit Fortbildung zu tun.
RS: Ich habe gemerkt, dass ich seit dem Shutdown quasi von vorne anfange, dass ich das Theater ganz neu Leuten schmackhaft mache. Theaterpädagogisch ist es ja wichtig, zu motivieren. Genau das war nun aber schwierig, diese direkte Brücke zu schlagen. Ich hatte meine Gruppe ja gerade erst kennengelernt und plötzlich war die Brücke weggebrochen. Das wiederherzustellen und mich dabei auch selbst zu motivieren, war nicht so leicht. Ich war zwischendurch sehr frustriert. Aber irgendwann, als ich meinen „neuen Job“ als Social-Media-Expertin und Video- und Schnitt-Beauftragte so richtig verstanden hatte, habe ich total Lust bekommen, meinen Aufgabenbereich zu erweitern. Manche aus der Gruppe sind dann drangeblieben, andere sind nun nicht mehr dabei. Manche hatten Lust, Theater weiterzudenken, zu fragen: „Was kann Theater sein?“ Und für manche ist Theater eben nur analog möglich.
BK: Zuerst dachten wir, dass ich, als die Älteste im Team, die letzte wäre, die einen digitalen Weg initiieren würde. Letztlich war es aber genau umgekehrt. Vielleicht weil bei unseren jüngeren Mitarbeiter-Innen oder Club-TeilnehmerInnen – Achtung, steile These – also bei jungen Leuten, die sich für das Theater interessieren, die Affinität zu digitalen Medien nicht so groß ist wie bei anderen jungen Leuten.
Wie war denn so insgesamt die Resonanz?
BK: Da gibt es durchaus Positives zu verzeichnen, nämlich das Ansteigen unserer Reichweite. Das House of Many, zu dem höchstens 70 Leute gehörten, hatte auf einmal doppelt bis dreimal so viele TeilnehmerInnen. Das ist ein Aspekt, der uns zu denken gibt. Möglicherweise erreichen wir jetzt Menschen, die wir ansonsten analog nicht erreichen. Vielleicht ist das auch eine Chance. Wir dürfen uns ja nichts vormachen, wir bewegen uns in einer Blase, auch in diesem Playstation-Jugendclub-Bereich haben wir eine Klientel mit einem ganz bestimmten Hintergrund Wir haben selten Menschen, die nicht schon aus bildungs- oder theateraffinen Haushalten stammen. Und es kann sein, dass uns der virtuelle Raum da hilft. Oder dass wir uns bewusst werden, wie eng wir eigentlich unsere Einladungen aussprechen, wie speziell der Zirkel ist, für den sie gedacht sind. Es gibt also diesen Moment, wie Rabea auch schon gesagt hat, an dem wir uns neu erfinden. Unser Arbeitsfeld wandelt und erweitert sich. Und es sind spannende Formate, die während der Conora-Zeit rauskommen sind.
RS: Ich finde, dass wir im Team stellenweise sogar über uns hinausgewachsen sind und uns intensiv fortgebildet haben. In allen Arbeitsfeldern ist etwas weggebrochen – aber auch dazugekommen. Diese neuen Erfahrungen möchte ich nicht missen. Jetzt die Souveränität zu haben, zum Beispiel mal im
Videochat geprobt zu haben, die Vor- und Nachteile erfahren zu haben – das ist großartig.
SEG: Ja, wir arbeiten sehr viel digital und versuchen, gute Übungen anzubieten. Das gelingt auch. Aber für mich bleibt es so, dass ich das Analoge mag und auch will.
BK: Es gibt diese guten Erfahrungen, und gleichzeitig ist das, was Saham sagt, ganz symptomatisch für Leute am Theater. Es gibt bei allen diese analoge Sehnsucht und die Hoffnung, dass das bald wieder geht.

Was ist denn für die nächste Spielzeit an analogen Projekten angedacht?
BK: Nächstes Jahr? Im Prinzip ist die komplette Workshoparbeit in den Schulen analog gedacht, allerdings versuchen wir alles hybrid zu denken. Im Ernstfall könnten wir dann alle Workshops auch digital anbieten. Und weil wir voraussetzen, dass die Schulen nicht immer die technischen Mittel haben, gehen wir mit unserem eigenen technischen Koffer in die Schulen. Es soll dazu noch ein größeres Projekt mit den Schulen geben, das sich zwischen Politik und Kultur bewegt und der Demokratie widmet. Darin sollen sich die SchülerInnen und eine Gruppe KünstlerInnen gemeinsam mit der Kinderrechtskonvention und den Sustainable Development Goals auseinandersetzen. Wir planen die Endpräsentation im Niedersächsischen Landtag, haben aber noch nicht das finale Okay erhalten. Zudem ist eine internationale Koproduktion mit dem Theater in
Groningen angedacht. Und natürlich sollen alle Playstation-Clubs und das House of Many weitergehen … analog oder eben digital.

 Interview: Christian Kaiser

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