Herr Weil, das Thema Sicherheit war Ihnen in letzter Zeit besonders wichtig. Warum?
Das Thema Sicherheit bewegt viele Menschen in Deutschland. Das ist nun einmal ein Grundbedürfnis, gerade in einer Zeit eines tiefgreifende Umbruchs und darum muss sich Politik dann auch kümmern.
Ich habe bei diesem Thema immer zuerst die Befürchtung, dass da jemand am rechten Rand auf Stimmenfang gehen möchte.
Mein Antritt ist das sicher nicht. Es gibt bei diesem Begriff ja eine eher einfache, konservative Lesart: Härtere Gesetze und mehr Polizei auf der Straße, das sind so die üblichen Antworten. Meine Sicht ist eine deutlich andere. Sicherheit ist natürlich Schutz vor Straftaten und natürlich ebenfalls Sicherheit im öffentlichen Raum, aber für mich geht es auch und vor allem um die soziale Sicherheit und um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn für mich geht innere Sicherheit – verstanden im wahrsten Sinne des Wortes – weit über das hinaus, was die Spahns dieser Welt für richtig halten. Und in diesem Sinne, also erweitert um die soziale Komponente, ist Sicherheitspolitik ein Kernthema der SPD.
Was würde in Deutschland denn zu mehr sozialer Sicherheit führen?
Da gibt es viele Beispiele. Nehmen sie die Befristung von Arbeitsverträgen. Befristungen müssen wir stark einschränken, weil sie die soziale Sicherheit gerade von jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in vielen Millionen Fällen in Frage stellt. Mir begegnet dieses Problem immer wieder in den Bürgerversammlungen. Da sagen mir jüngere Leute, dass sie eigentlich gerne eine Familie gründen würden, aber das lieber zurückstellen, weil sie noch nicht wissen, wie es mit ihnen weitergeht. Ein zweites Thema ist die Altersversorgung und insbesondere die bei vielen Menschen bestehende Furcht vor Altersarmut. Wir haben zwar den Generationenvertrag, aber der wird so auf Dauer nicht funktionieren. Wir müssen also an Alternativen arbeiten. Für mich versammeln sich solche und weitere Themen unter dem Begriff Sicherheit.
Den Begriff Sicherheit inhaltlich neu zu füllen, stelle ich mir aber ein wenig schwierig vor. Wenn heute in Deutschland jemand „Sicherheit“ sagt, geht es um die Sicherheit à la Spahn, um Recht und Ordnung, mehr Polizei auf den Straßen und so weiter.
Das ist so, weil die politische Linke das Thema Sicherheit der politischen Rechten zu lange überlassen hat. Was ich für einen schweren Fehler halte. Mit dem Begriff Heimat geht es mir ähnlich. In der Diskussion ist Heimat immer gleich verbunden mit „Heimattümelei“. Kann man nicht andere Assoziation haben? Beschreibt Heimat nicht auch den Zusammenhalt in einer gut funktionierenden Gemeinschaft? So wird mir der Begriff sympathisch. Wir sollten die Interpretationen dieser Begriffe nicht länger den Rechten überlassen. Ich bin ja sehr häufig in Niedersachsen unterwegs und was mir überall begegnet, ist eine starke Verbundenheit der Leute mit ihrer Region. Das finde ich absolut positiv. Das ist identitätsstiftend, schafft Zusammenhalt und auch Sicherheit.
Was mir oft fehlt beim Thema Sicherheit, das ist vor allem ein Faktencheck, um die Spahns dieser Welt zu entzaubern. Wir leben in Deutschland so sicher wie noch nie, die Kriminalitätsrate sinkt seit Jahren kontinuierlich.
Ja, aber bei diesem Thema geht es natürlich auch sehr stark um Gefühle. Boris Pistorius hat neulich an einem Tag zwei verschiedene Statistiken veröffentlicht. Zum einen die polizeiliche Kriminalstatistik für Niedersachsen 2017 mit dem Ergebnis, dass das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, so niedrig ist, wie seit 35 Jahren nicht mehr. Die zweite Statistik basierte auf einer Umfrage zum Sicherheitsgefühl. Ergebnis: Die Menschen fühlen sich so unsicher wie noch nie. Eine erschreckende Diskrepanz. Man muss also zwischen der objektiven und der subjektiven Sicherheit unterscheiden. Nehmen Sie ein Beispiel, das ich schon in der Schule gehört habe: Statistisch betrachtet ist es auf dem Friedhof um Mitternacht total sicher, trotzdem hätten viele Menschen dort um diese Zeit ein Unbehagen. Was wir uns fragen müssen, ist Folgendes: Wie kommt es, dass trotz der Fakten das Sicherheitsgefühl nicht besser, sondern schlechter wird?
Haben Sie eine Antwort?
Man landet schnell bei ganz anderen Themen. Wir leben in einer Zeit grundlegender Umbrüche, Stichworte sind hier zum Beispiel Globalisierung und Digitalisierung. Und es gibt ein prinzipielles Unwohlsein, das viele Menschen in solchen Umbruchsituationen empfinden. Die Globalisierung wird nun auch immer stärker sichtbar durch die Zuwanderung. Das verunsichert weiter. Und befördert wurde diese Verunsicherung mit der Erfahrung eines Kontrollverlusts des Staates im Herbst/Winter 2015. Dieser Fehler wirkt bis heute nach. Aus all diesen Gründen ist die Sicherheit ein Thema. Beziehungsweise ist eigentlich die Unsicherheit ein Thema. Leute wie Herr Spahn und andere reiten auf dieser Welle. Ich verstehe das nicht wirklich, denn es wird der CDU letztlich nicht nutzen, mit den Stichworten der AfD zu polarisieren. Ganz am Ende nutzt das nur der AfD, es treibt unsere Gesellschaft weiter auseinander und verstärkt so das Unsicherheitsgefühl noch.
Diesen Vorwurf der Wellenreiterei mache ich durch die Bank allen Parteien. Auf der Welle waren Teile der Grünen und Teile der Linken unterwegs. Und auch die SPD hat sich aus meiner Sicht stellenweise nicht mit Ruhm bekleckert. Ich hätte mir von den etablierten Parteien sachliche Diskussionen und ein Beharren auf den Fakten gewünscht.
Meine Kritik an der SPD ist in dieser Frage eine andere. Ich finde, dass wir nicht mal auf der Welle mitgeritten ist, sondern versucht haben, das Thema zu umgehen. Das kann nicht funktionieren. Wenn viele Menschen ein so prägendes Gefühl haben, dann muss die Politik darauf eingehen. In Niedersachsen haben wir mit der Zuwanderungswelle 15/16 das Bündnis „Niedersachsen packt an“ etabliert. Das war und ist ein guter Ansatz. Ein Bündnis von ganz unterschiedlichen Kräften, die alle dieselbe Haltung zeigen, das vermittelt nebenbei auch Sicherheit. Dass Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte ihre Arbeit machen müssen, ist völlig klar., aber für ein wirkliches Sicherheitsgefühl sorgt doch vor allem die Gewissheit, in einer funktionierenden Gemeinschaft unterwegs zu sein.
Ich fühle mich sicher, wenn ich weiß, dass ich von klugen, nachdenklichen, sachbezogenen Politikern regiert werde, die nicht populistisch agieren und keinen Schaum schlagen, sondern wirklich genau hinsehen, die Ärmel hochkrempeln.
Ja, Politiker sollten Sicherheit stiften und nicht darüber quatschen.
Das tun Politiker aber leider gerne, gerade beim Thema Sicherheit. Politiker reden über mehr Videoüberwachung, mehr Polizisten, eine bessere Ausstattungen der Polizei, mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden, Vorratsdatenspeicherung, schnelle Abschiebungen von Asylbewerbern, mehr Rechte für Geheimdienste, das aus für den Doppelpass, ein Burkaverbot, Bundeswehreinsätze im Inland, Rucksackverbote bei Großveranstaltungen… Da wird jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf getrieben.
Wobei manches aus Ihrer Liste durchaus Substanz hat, anderes nicht. Die Möglichkeiten der Digitalisierung und insbesondere des Netzes werden auch von der organisierten Kriminalität genutzt und Cyberkriminalität ist leider inzwischen ein Massenphänomen – beides lässt sich einfach nicht bestreiten. Deshalb ist es auch notwendig, die Polizei in einem Rechtsstaat entsprechend handlungsfähig auszustatten. Wenn die Kriminellen im Netz unterwegs sind, dürfen die Strafverfolgungsbehörden nicht im analogen Zeitalter verharren. Im Übrigen zeigt uns gerade das Beispiel Facebook, dass wir vielleicht viel mehr Angst haben müssen vor der Datenmacht anonymer, privater Mächte als vor einem Rechtsstaat. Ein Rechtsstaat sieht zumindest eine wechselseitige Kontrolle der Staatsgewalten vor. Mir machen die großen amerikanischen Konzerne sehr viel mehr Sorgen als der deutsche Staat. Aber es stimmt, viele Themen sind dem Populismus geschuldet. Oft werden Maßnahmen propagiert, die nichts nutzen. Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: wenn wir die Diskussion annehmen und unaufgeregt und sachlich diskutieren, sorgen wir für Glaubwürdigkeit. So können wir dann populistische Vorschläge am besten zurückweisen.
Was ich ebenfalls problematisch finde, bei der Diskussion um mehr Sicherheit, ist die Vermischung der Themen Zuwanderung und Antiterrorpolitik.
Ja, dieses Gift hat der Islamismus tatsächlich verbreitet. Es ist ihm gelungen, in den Köpfen vieler Menschen eine Verbindung von Terrorismus und Zuwanderung herzustellen. Objektiv betrachtet ist das Unfug, aber wie gesagt, Sicherheitspolitik hat immer eine starke subjektive Komponente.
Umso mehr wünsche ich mir Politiker, die nicht müde werden darauf hinzuweisen, dass es Unfug ist. Und die nicht im Gegenteil versuchen, Kapital daraus zu schlagen.
Zum Glück haben wir mit Boris Pistorius einen Innenminister, der dafür ein gutes Beispiel abgibt. An seiner konsequenten Haltung hat niemand ernsthaft Zweifel. Und trotzdem verstehen alle, dass er die Kirche im Dorf lässt. Das ist die genau richtige Herangehensweise.