Es geht wahrscheinlich allen ganz ähnlich momentan, wir starten in ein neues Jahr und unsere Erwartungen halten sich in Grenzen. Zu viele Konflikte weltweit, zu viele Probleme im eigenen Land. Wir sollen optimistisch in die Zukunft blicken, wir sollen zuversichtlich sein – so hört man es jetzt zum Jahreswechsel überall in den Sonntagsreden, aber das fällt unglaublich schwer. Wobei sich die Gründe für den allgemeinen Pessimismus durchaus unterscheiden. Für manche ist die Einwanderung das zentrale Thema, und ihre Begrenzung ein wichtiges Ziel, andere pochen dagegen auf die Menschenrechte und mahnen, die eigenen Maßstäbe nicht zu sehr zu schleifen. Wieder andere befürchten den Niedergang unserer Wirtschaft, während die nächsten davor warnen, sich selbst immer mehr in die Krise zu diskutieren. Über den Klimawandel sind fast alle besorgt, aber bei den Konsequenzen ist man geteilter Meinung. Für einen Großteil der Menschen ist die Stärke der AfD ein Desaster, während manche sich auf die Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg freuen. Und dann sind da noch, wie schon gesagt, die vielen Kriege und Konflikte in der Welt. Und wir mittendrin, weil sich Deutschland positionieren muss. Aber auf welche Seite schlägt man sich? Auf die der Ukraine, ohne Wenn und Aber? Es gibt nicht wenige Stimmen in Deutschland, die genau das kritisieren. Und jetzt dieser Krieg gegen die Hamas in Israel. Wie stellen wir uns dazu? Sehr viele Menschen in Deutschland solidarisieren sich eher mit der Terrorgruppe Hamas. Für sie ist Israel das Böse schlechthin. Für andere ist umgekehrt die Hamas das personifizierte Böse. Gut und Böse – wir stehen gerne auf der richtigen Seite. Aber welche Seite ist die richtige?
Das kommt ganz darauf an. Du bist ein Kind in Afghanistan, in Pakistan, in Somalia oder im Jemen, du spielst mit deinen Freunden auf einem Hinterhof, deine Welt ist ganz okay und halbwegs heile, doch dann hörst du oben im Himmel ein seltsames Brummen und einen Moment später hast du vielleicht keine Eltern und keine Freunde mehr. Wer ist dann fortan für dich der Teufel? Natürlich der, der diese Drohne geschickt hat. Sehr wahrscheinlich die USA. Amerika setzt bereits seit 2002 gezielt überall auf der Welt Drohnen ein, um Terroristen zu töten. Eine ausgesprochen fragwürdige Strategie, denn so dürfte der Nachschub an Terroristen kaum je versiegen.
Ähnliche Folgen könnte das aktuelle Vorgehen Israels gegen die Hamas haben. Die Terrorgruppe bekommt schon jetzt sehr viel Zustimmung, sie wird sich in einigen Jahren über viele neue Terroristen freuen dürfen. Noch sind es schwer traumatisierte Kinder. Sie lernen gerade, dass die Israelis das Böse sind. Während zuvor die Israelis nahe des Gazastreifens gelernt haben, dass die Hamas durch und durch böse und bestialisch agiert. Und wir hier in Deutschland schauen aus der Ferne zu und erlauben uns eine Meinung zu einem unfassbar komplexen Thema, die wir dann auch gerne mal auf die Straße tragen. Weil wir uns positionieren wollen – auf der richtigen, der guten Seite. Schon haben wir wieder zwei Lager und man steht sich unerbittlich und feindselig gegenüber, mitten in Deutschland. Und auf beiden Seiten ist man überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen.
Wie kommen wir eigentlich zu diesen Urteilen? Klar, durch unsere Umgebung und unsere Erziehung, durch Erfahrungen, durch unsere Sozialisation, durch unsere Religion, durch unsere Kultur. Wir haben alle diverse Werte und Überzeugungen im Rucksack. Und die tragen wir in die Welt. Oft mit großer Überzeugung und einem hoch erhobenen Zeigefinger. Wir kritisieren ja von der richtigen Seite. Was bei uns in Deutschland der Maßstab ist, sollte auch in anderen Ländern der Maßstab sein. Erfahrene Diplomaten warnen allerdings eindringlich vor diesem Selbstverständnis. Denn wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Und wer sich Zeit nimmt und sich auch mal in die Rolle des Feindes versetzt, der wirft vielleicht gar keine Steine mehr. Es ist schwierig, sich klar zu positionieren. Wir in Europa blicken ganz anders auf die Welt als beispielsweise China oder auch die USA. Unser eurozentrischer Blick wirkt andernorts gerne mal abgehoben und arrogant. Und fast unmöglich wird eine Positionierung, wenn die Lage kompliziert ist, wenn es unübersichtlich wird, wenn Schwarz und Weiß sich zu einem schwer durchschaubaren Grau vermischen. Grautöne mögen wir nicht. Wir mögen klare Kanten. Wir sehnen uns nach Ordnung. Und die Sehnsucht wird umso größer, je unübersichtlicher die Lage ist. Wegen dieser Sehnsucht sind wir so anfällig für die einfachen Antworten der Populist*innen. Und natürlich versuchen nicht nur diese Kapital aus der Sehnsucht zu schlagen. Wenn in diesen Tagen die CDU mal wieder das Thema Leitkultur ausgräbt, dann versucht sie ebenfalls an genau dieser Stelle zu punkten. Klare, eindeutige Werte, ein Konsens bei diversen Fragen. Was gehört sich, was gehört sich nicht? Gehört sich der Islam in Deutschland? Oder gehört sich nur das Christentum? Markus Söders Kreuzerlass ist gerade erst für rechtens erklärt worden. Ein Hinweis, wo man zumindest in Bayern bei dieser Frage steht. Wobei sicher nicht alle in Bayern den Kreuzerlass begrüßen. Es wird da schon so ein paar „woke Grüne“ geben, die das ganz anders sehen.
Überhaupt, diese verdammten woken Grünen. Diese verdammten Idioten auf der anderen Seite, in der anderen Ringecke. Diese verdammten Nazis im Osten. Diese verdammten Wessis. Die verdammten Gutmenschen. Die verdammten Kriegstreiber. Die verdammten Putin-Versteher. Die verdammten Klima-Kleber. Das ist der Nachteil unserer Positionierungssucht. Es braucht immer einen Feind. Und es scheint, dass sich in unserer Gesellschaft die Menschen tatsächlich zunehmend immer feindseliger gegenüberstehen. Bereits 1979 hat ein Künstler namens Robert Long folgendes gesungen: „Will einer nicht dein Bruder sein, dann schlag ihm gleich den Schädel ein. Wenn er nicht deiner Meinung ist, dann mach ihn lieber tot, am besten für den lieben Gott.“ Diese Zeilen passen (leider) ganz wunderbar auch in unsere Zeit. Es ist anscheinend nicht besser geworden. Wahrscheinlich ist es sogar eher schlimmer geworden. Und jetzt? Wie arbeiten wir gegen die Gräben, die sich überall auftun, wie verhindern wir die Spaltung in unserer Gesellschaft? Und wie kann es gelingen, auch global das Rad wieder in eine andere Richtung zu drehen? Kann das überhaupt gelingen?
Wir sind schon wieder beim Pessimismus, der sich überall breitmacht und die Spaltung weiter befördert. Und wir sind damit bei der Aufgabe, optimistisch zu bleiben. Nicht aufzugeben. Nicht zu resignieren. Eine echte Herkulesaufgabe. Aber was wäre denn die Alternative? Zuzusehen, wie sich die Autokratien in der Welt breitmachen. Wie die Freiheit mehr und mehr verschwindet. Wie unsere Werte (nicht unbedingt deckungsgleich mit denen der CDU) den Bach runtergehen. Das darf nicht sein.
Aber wenn es unübersichtlich wird, wenn es viele Meinungen gibt, wenn diverse Informationen kursieren, darunter auch immer mehr gefälschte Informationen, dann droht genau das. Dann wackeln die Demokratien. Dann ist unsere Freiheit in Gefahr. Wobei hier bestimmt manche einwenden, dass man uns diese angebliche Freiheit in Deutschland ja nur vorgaukelt, während wir längst alle Sklaven einer geheimnisvollen Macht sind. Klar. Und je mehr Menschen diesen Schwachsinn glauben, desto weniger werden sie sich für unsere Demokratie einsetzen. Ein geschickter Schachzug der Gegenseite, der bösen Seite. Ja, es gibt diese böse Seite. Aber vorher noch kurz ein paar Sätze zu dem, was unsere gemeinsame Basis sein sollte. Und dazu sollte auf jeden Fall der Wille gehören, die Wahrheit wissen zu wollen. Das ist meistens gar nicht so kompliziert. Ein bisschen Quellenanalyse, ein paar skeptische Nachfragen, das reicht oft schon. Nicht danach suchen, was die eigene Meinung und die eigenen Vorurteile bestätigt, sondern bewusst nach Argumenten suchen, die der eigenen Meinung widersprechen, das ist keine so schlechte Technik. Man sollte sich unbedingt diese Mühe machen, um nicht im Lügenmeer Internet zu ertrinken. Wenn es uns gelingt, die Fakten ähnlich anzusehen und zu beurteilen, dann haben wir auch eine Chance und gegen das Böse zu wehren.
Aber was ist das Böse? Auch das ist gar nicht so schwer. Weil wir etwas sehr Gutes haben, nämlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Das sollte unser Konsens sein. Daran sollten wir uns immer wieder messen. Und dann wird es denkbar einfach. Die Menschenrechte stellen hohe Ansprüche. Gesellschaften, die sie zumindest annähernd erfüllen, stehen auf der richtigeren Seite. Länder, in denen beispielsweise Menschen versklavt, gefoltert oder diskriminiert werden, in denen es keine Gleichberechtigung gibt, in denen Minderheiten verfolgt werden, in denen Zensur herrscht, in denen es krasse Ungerechtigkeiten gibt, in denen Willkür herrscht, stehen dagegen auf der grundfalschen Seite. Die einen gut, die anderen böse. Et voilà, wer sich Orientierung wünscht in diesen unsicheren Zeiten, wer wissen möchte, was eigentlich wichtig ist, der sollte sich hin und wieder mal alle 30 Artikel in der Erklärung der Menschenrechte zu Gemüte führen, statt im Internet nach immer neuen Bestätigungen für die längst fertige eigene Meinung zu suchen.
Und wer tatsächlich so unfassbar dämlich sein und demnächst die AfD wählen möchte, dem sei diese Lektüre ebenfalls empfohlen. Was davon würde mit einer regierenden AfD in Deutschland übrigbleiben? Nicht so viel. Wahrscheinlich eher gar nichts. Schon jetzt ist es so, dass man vor allem in einigen Gebieten im Osten Deutschlands (leider) erkennen kann, wohin die Reise gehen würde. Benjamin Fredrich, Herausgeber, Chefredakteur und Gründer des Katapult-Magazins hat am 17. Dezember eine Art Hilferuf geschrieben. Rechte versuchen in Mecklenburg-Vorpommern bereits seit geraumer Zeit die Macher*innen des Magazins einzuschüchtern. Man will Angst und Schrecken verbreiten. Und das gelingt leider immer mehr. Darum sucht Fredrich nun mehr Mitstreiter*innen. „Ich suche Menschen, die gegen Korruption, Rassismus, Antisemitismus, Kriminalität und Extremismus (kurz KRAKE) einstehen“, schreibt er. Wer mag, ist herzlich eingeladen, diesen Verlag zu unterstützen.
Es ist übrigens bemerkenswert, hier werden Menschen gesucht, die „dagegen einstehen“. Dann muss es im Umkehrschluss also Menschen geben, die bewusst für Korruption, Rassismus, Antisemitismus, Kriminalität und Extremismus sind. Was mögen das für Menschen sein? Schaut man sich auf der weltpolitischen Bühne um, findet man tatsächlich schnell ein paar von der Sorte. Aber sie sind da oben ja nicht allein, sie haben Armeen von skrupellosen mordenden und vergewaltigenden Menschen hinter sich. In was für Gesellschaften entwickeln sich solche Monster? In unfreien, autokratischen, egoistischen und unsolidarischen Gesellschaften.
Wir sollten alle sehr wachsam sein, dass wir in Deutschland nicht mehr und mehr in dieses Fahrwasser geraten.
Wir sollten uns bemühen, die Guten zu sein.
Ganz gelingen kann das wahrscheinlich nie, aber der Wille zählt.
LAK