Ein herrenloser Damenrad-Traum
Kürzlich träumte ich, ich sei in meiner Aufwachs-Stadt Kassel mit einem Damenrad in eine vollbesetzte Straßenbahn eingestiegen. Für die, die sich auskennen: In die Linie 1, mit der ich dann vom Rathaus zum Bahnhof Wilhelmshöhe fuhr. Das Fahrrad musste ich aus Platzmangel hochkant stellen und mit Körperdruck vor dem Umfallen sichern – indem ich mich mit dem Rücken dagegen lehnte. Während der Fahrt beugte sich ein mir schräg gegenübersitzender Jugendlicher nach vorne und versuchte, mir heimlich die Schnürsenkel zusammenzubinden. Ein Practical-Joke-Klassiker. Ich sagte: „Ey, hast duse noch alle?“ Er antwortete: „Ist doch nur‘n Spaß!“ Und dann lachte er. Woraufhin ich ihm – weiterhin mein Fahrrad mit dem Rücken sichernd – seine Sonnenbrille aus dem Gesicht nahm und sie in hohem Bogen durch den Waggon warf. Ein anderer junger Mann ließ seinen Arm nach oben schnellen, schnappte sich die Brille, steckte sie ein und stieg aus.
Der Schnürsenkel-Verknoter baute sich drohend vor mir auf. Ich fragte: „Und? Willste mir jetzt eine in die Fresse hauen?“ Er grinste, griff hinter mich, zog blitzschnell mein Fahrrad zwischen mir und der Fahrzeugwand hervor als sei es ein Blatt Papier, schlüpfte damit durch die noch geöffnete Tür und radelte davon. Während des ganzen Vorgangs lief im Hintergrund „Here Comes the Rain Again“ von den Eurythmics. Dann wachte ich auf.
Was bitte soll das? Das „Lexikon der Traumdeutung“ – keine Ahnung welche KI oder abgebrochene Psychologie-Studentin das ins Netz gestellt hat, aber egal – sagt folgendes über diesen Themenkreis: „Es ist keinesfalls unüblich, dass Menschen von Fahrrädern träumen.“ Aha. „Träume, in denen Fahrräder eine Rolle spielen, werden oft als ‚glückliche Träume‘ empfunden, der Betroffene fühlt sich munter und frohsinnig.“ Naja, ehrlich gesagt: Geht so. Weiter: „Wird ein Fahrrad im Traum gestohlen oder geht es verloren, hat man vermutlich im Leben eine Chance verpasst, die das (berufliche) Weiterkommen ermöglicht hätte. Der Träumende sollte die letzten Monate Revue passieren lassen und über einen Verlust nachdenken.“ Äh … okay, kann ich gerne machen, aber ist das Leben nicht sowieso eine endlose Reihe von verpassten Chancen und Verlusten? Für meinen Traum irrelevant, aber mit Anstand am schönsten fand ich übrigens diese komplexe Deutung eines Fahrrad-Traum-Motivs: „Wer einen Gepäckträger im Traum erblickt, der wird sich darauf einstellen müssen, dass schwere seelische Lasten auf ihn zukommen werden.“ Gepäckträger gleich drohende „seelische Last“ – I love it!
Entgegen des Freud-Klischees ist es nicht so, dass real existierende Psychoanalytiker*innen ihre Kundschaft mit solchen albernen Deutungen belästigen. Ich weiß das, weil ich mal eine Psychoanalyse gemacht habe. Nicht etwa, weil ich – wie manche Leute sich dann gerne herausreden – meine Persönlichkeit weiter entwickeln wollte, sondern weil ich einen veritablen mittelschweren Dachschaden habe. Anderes Thema. Auf alle Fälle hätte meine Psychoanalytikerin niemals geraunt: „Wenn in einem Traum ein anderer eine Sonnenbrille trägt, ist dies ein Warnsignal. Sie sollten dieser Person gegenüber vorsichtig sein.“ Auch das steht nämlich in dem komplett überflüssigen Internet-Traumdeutungslexikon und erinnert damit nicht nur zufällig an das morgendliche 10:10-Uhr-Horoskop bei NDR-1-Niedersachen. Klar, wenn einem jemand die Schnürsenkel zusammenbindet, dann sollte man dieser Person gegenüber vorsichtig sein. Mann, Mann Mann!
Meine Psychoanalytikerin hätte hingegen gefragt: „Und was glauben sie, was ihr Traum bedeutet?“ Als sie mir diese Frage zum ersten Mal stellte, dachte ich: „Pardon? Wessen Krankenkasse zahlt hier eigentlich wofür? Muss man in diesem Land eigentlich alles selbst machen?“ Bis mir dann klar wurde, dass es bei der Analyse genau darum geht: Einfach irgendwas als Redeanlass nehmen, und sei es ein bekloppter Traum, und losquasseln und mental loslassen, weil man beim Herumassoziieren erfahrungsgemäß immer wieder auf die gleichen Themen – nämlich auf die für die eigene Person relevanten – kommt und beim dreiundsiebzigsten Mal Durchdelirieren eines solchen Themas dann vielleicht sogar mal was kapiert.
Ein bisschen ist das übrigens wie beim Kolumnieren. Man glaubt, man schreibe, Monat für Monat über aktuelle politische Themen, kulturelle Phänomen oder erzähle lustige kleine Anekdoten, aber in Wahrheit … Eben. In diesem Sinne: Danke für’s Zuhören. Und bis nächsten Monat hier im psychoanalytischen Stadtkind-Stuhlkreis.
Hartmut El Kurdi