Meine frittierte Kindheit
Auch in diesem Jahr – oder im letztem, je nachdem ob Ihr diese Kolumne prä- oder post-Silvester lest – stellte ich mir wieder die Frage: Wer ist eigentlich auf die Kack-Idee gekommen, direkt vor dem Hauptbahnhof einen Weihnachtsmarkt aufzubauen? Also dort, wo es Leute eilig haben? Wo sie mitunter rennen müssen, um ihren Zug nicht zu verpassen? Und man somit nur zwei Optionen hat: Die glühweinseeligen Mitbürger*innen per Body-Check aus dem Weg zu crashen oder eben eine Stunde auf die nächste Bahn zu warten?
Ich muss allerdings gestehen, dass ich sowieso nicht der größte Fan des Phänomens „Weihnachtsmarkt“ bin. Trotzdem gehe ich immer wieder hin – und wundere mich dann dort über so einiges, zum Beispiel über das vielfältige Imbissangebot: Es gibt schleimig-ölige Pfannen-Champignons, halbe Meter lange Bratwürste, die – um den Autoren-Kollegen Frank Schäfer zu zitieren – links und rechts aus den Baguettes „herauspimmeln“, blitz-erkaltende Spiralkartoffeln, modisch-hippe in BBQ-Soße ertränkte Pulled Pork Burger, spanische Churros und ebenso fettiges heimisches Schmalzgebäck, dazu wahlweise finnischen Glögi, deutschen Glühwein oder amerikanischen Eggnog …
Nicht umsonst treibt die Advents- und Weihnachtszeit den Managern der Magensäure-Blocker-Industrie regelmäßig die Freudentränen in die Augen. Und macht ihnen die Taschen voll. Doch nicht nur das Sodbrennen-Potenzial haben all diese Speisen gemeinsam, sondern auch die horrenden Preise.
Dabei kann man ungesunde Trash-Gerichte doch auch viel günstiger an den Menschen bringen. Jedes Mal, wenn ich auf einem Weihnachtsmarkt eine kleine Schale gebratene Pilze für 6 bis 10 Euro kaufe, überkommt mich die sentimentale Erinnerung an den günstigsten Imbiss, den ich hierzulande je aß. Es war vor langer Zeit, in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts. Meine Kindheits-Pommesbude in Kassel-Helleböhn bot damals ganzjährig ein gar köstlich Gericht an: den „Gammler“. Hier das Rezept: Man nehme ein handelsübliches Brötchen, werfe es mit leichtem Effet in eine Fritteuse, lasse es im lange gereiften, mindestens hundert Mal wiedererhitzten Sonnenblumenöl einige Minuten braunbrutzeln, bis seine Farbe ungefähr dem Teint von vitalen, sportlich aktiven deutschen Mallorca-Rentnern entspricht – schließlich nehme man das nun ebenso krustige wie fetttriefende Backwerk aus dem Öl und serviere es in einer Pommes-Pappschale mit einem Klecks Ketchup und Mayo. Zack. Fertig. Lecker und enorm sättigend. Und das Beste: Der „Gammler“ kostete nur schlappe 50 Pfennig!
Da ich mich selbst als knallharten investigativen Journalisten sehe, habe ich vor dem Schreiben dieser Kolumne nochmal exakt sieben Minuten recherchiert und herausgefunden, dass der „Gammler“ wohl nicht nur an Imbissbuden in Nordhessen angeboten wurde, sondern auch im Saarland. Dort allerdings verzichtete man darauf, das Brötchen zu frittieren, was ich dann doch einigermaßen feige finde. Und statt Ketchup und Mayo gab es zum kalten und trockenen Brötchen in Saarbrücken, Saarlouis und St. Ingbert: Schaschliksoße. Das scheint mir doch nicht the real thing zu sein. Der Preis war allerdings derselbe.
Insofern liegt in beiden Fällen der Grund für die Namensgebung auf der Hand: Die Delikatesse war so billig, dass sogar arbeitsverweigernde, drogenaffine Jung-Hippies, damals allgemein „Gammler“ genannt, sie sich regelmäßig leisten konnten. Aber auch für Kinder mit keinem oder wenig Taschengeld war der Imbiss bezahlbar. Ich finanzierte mir mein gelegentliches „Gammler“-Menu von den wenigen Münzen, die ich bei der von mir allabendlich durchgeführten Taschenkontrolle des Mantels meiner Mutter fand. Manchmal reichte es sogar noch für ein buntes Stangen-Wassereis zum Dessert.
Warum sich der günstige „Gammler“ damals nicht bundesweit durchgesetzt hat, ist wohl eines der großen Mysterien der Imbiss-Geschichte. Hätte das Snack-Schnäppchen vielleicht doch eines ansprechenderen Namens bedurft? Wie könnte man ein frittiertes Brötchen mit Ketchup und Mayo noch nennen? „Höllen-Bollen rot-weiß“? “Öl-Bombe Schranke”? „Fat, Carbs and Dips – cheap and crunchy“? Auf dem Weihnachtsmarkt könnte man ihn analog zur Feuerzangenbowle anbieten und ihn, nachdem er sich in der Fritteuse mit Öl vollgesogen hat, noch kurz anzünden beziehungsweise show-flambieren. Und dann dazu schaumigen Eierpunsch in kleinen roten Bechern reichen: „Brennendes Brötchen mit Feuerlöscher“. Wenn das mal keine Idee für ein Startup ist?! Gern geschehen. Mein Leben ist Service.
● Hartmut El Kurdi