Die große Verunsicherung
Über Angst, Wut und Egoismus – ein Standpunkt
Ich habe momentan einige Ängste, und darum wird es gleich zuerst gehen – um eine persönliche Bestandsaufnahme. Was verunsichert mich, was macht mir Sorgen, was lässt mich nachts nicht gut schlafen? Wo fühle ich mich machtlos? In den vergangenen Monaten und Jahren sind mir viele Gewissheiten abhandengekommen. Und nicht nur mir.
Die Verunsicherung ist überall greifbar in Deutschland. Es kracht ordentlich im Gebälk. Zuerst war es die Pandemie, nun bekommen wir die Auswirkungen von Putins Krieg zu spüren. Wir steuern auf eine Rezession zu, wir müssen um unseren Wohlstand fürchten.
Und viele reagieren auf diese Entwicklungen nun mit Wut, mit Empörung. Ich auch, doch ganz anders. Aber von vorne. Mein Startpunkt soll meine Angst sein.
Ich habe Angst. Ich würde sogar sagen, neuerdings habe ich multiple Ängste. Ich habe zwei Kinder und ich weiß sehr genau, dass es den beiden mal schlechter gehen wird als mir. Das ist eine ganz miese Erkenntnis. Es ist keine Befürchtung, leider nicht. Es ist eine Gewissheit. Meine Kinder werden in einigen Jahren in einer total anderen Welt leben als ich. Kein schönes Gefühl. Ich gucke da gar nicht so genau hin, ich blende das meistens lieber aus.
Es gibt zahlreiche, sehr fundierte Studien darüber, wie sehr sich unsere Welt verändern wird. Ich schaffe immer nur im Ansatz, mir das zu geben. Ich will einfach nicht wissen, dass meine Kinder vielleicht in einigen Jahren Kriege um Nahrungsmittel führen müssen.
Klar, all diese Studien machen eine Einschränkung: Wenn wir jetzt nicht handeln, nur dann drohen diese Szenarien. Aber wir handeln ja nicht. Vielleicht ein bisschen in Deutschland, ausgenommen unser Verkehrsminister. Aber weltweit? Wurde der Ausstieg aus den fossilen Energien gerade erst wieder vertagt. Die Lobbyisten der großen Energiekonzerne haben in Ägypten gewonnen, das Ergebnis der Klimakonferenz war ein einziges Desaster.
Also, ich habe entsetzliche Angst um die Zukunft meiner Kinder.
Ich habe Angst vor den Folgen des Klimawandels.
Aber da ist noch mehr. Putin macht mir Angst. Er macht mir sehr direkt Angst, wenn ich zum Beispiel an Saporischschja denke. Jeden Tag könnte es dort den ganz großen Knall geben. Ein Supergau im größten Kernkraftwerk Europas. Putin macht mir aber noch viel größere Angst, wenn ich sehe, mit was für einer unfassbaren Unmenschlichkeit er agiert. Er ist ein Massenmörder, ein Kriegsverbrecher. Und dabei völlig unberechenbar. Wir wissen nicht, was er morgen oder übermorgen anrichten wird. Wir wissen nicht, wie lange dieser Krieg noch dauern wird. Wir wissen nicht, wann dieser Wahnsinn aufhört.
Mit diesem Krieg eng verbunden sind die wirtschaftlichen Auswirkungen, die uns auch in Deutschland treffen. Wir haben steigende Energiekosten, insgesamt steigende Lebenshaltungskosten, die Inflation ist noch nicht gebändigt, wir verlieren jeden Tag Wohlstand und es trifft vor allem jene, die keine Reserven haben, die ohnehin schon am Limit gelebt haben. Macht mir diese wirtschaftliche Krise Angst? Ja und nein.
Natürlich mache ich mir Sorgen um meine eigene Existenz, um meinen Verlag, um mein Auskommen. Aber noch viel mehr mache ich mir Sorgen darüber, was dieser wirtschaftliche Abschwung aus unserer Gesellschaft macht. Ob wir angesichts von Inflation und drohender Rezession noch über die richtigen Themen diskutieren oder den Falschen zuhören werden.
Und ich bemerke, dass da allmählich etwas kippt in Deutschland. Dass sich die Mehrheiten verschieben. Dass die Solidarität mit der Ukraine schwindet. Dass wir auch bei uns nicht vor Wahlergebnissen wie in Italien, Schweden oder auch Frankreich gefeit sind. Das macht mir große Angst. Dass die Politik immer populistischer, irrationaler und radikaler wird. Und die Menschen gleichzeitig nicht klüger oder solidarischer werden. Dass die Ellenbogen im Gegenteil immer spitzer werden.
Und als ob das alles nicht schon genug wäre, ist da auch noch, oder noch immer Corona. Momentan scheint die Pandemie kein großes Thema mehr zu sein, aber ausgestanden ist das alles wahrscheinlich noch längst nicht. Ich habe keine Angst und hatte keine Angst vor Corona, ich habe mich impfen lassen, ich habe die Regeln befolgt, ich habe Risiken vermieden. Ich habe allerdings gesehen, wie sehr so etwas eine Gesellschaft spalten kann. Und ich habe sehr viel dummes, sehr viel irres Zeug gehört. Wut und Hass auf „die da oben“. Mir macht nicht so sehr die Pandemie Angst, obwohl sie für viele Menschen großes Leid gebracht hat, mir machen vor allem die vielen Verrückten Angst.
Womit wir schon bei meiner letzten großen Angst sind. Ich habe Angst vor den Erzählungen, vor Manipulation und Desinformation.
Ich glaube tatsächlich an keine einzige Verschwörungstheorie, ich werde sogar ein bisschen ungeduldig, wenn mir jemand erzählen will, dass es den Klimawandel gar nicht gibt oder dass Corona nur so eine Grippe war, die man genutzt hat, um uns zu knechten. Ich glaube nicht daran, dass sich Putin durch die NATO bedroht gefühlt hat und ich glaube auch nicht an Nazis in der Ukraine. Klar, da gibt es welche. Bei uns auch. Ich glaube das alles nicht.
Und das hat einen einfachen Grund. Ich bin all diesen Geschichten nachgegangen, ich habe gegraben, mich informiert, Quellen studiert und ganz am Ende stand bei tatsächlich allen Themen immer wieder nur eine Erkenntnis: Kompletter Schwachsinn.
Es ist mir ein absolutes Rätsel, warum so viele, teils kluge Menschen so gerne an Märchen glauben. Vielleicht machen diese Geschichten einfach begreifbarer, was schwer zu begreifen und kaum zu überblicken ist. Sie verpassen dem ganzen Chaos eine gewisse Logik. Das macht es für viele anscheinend leichter. Aber besser wird es damit trotzdem nicht.
Ich brauche keine Verschwörungstheorien, keine geheimen Mächte, die mich bedrohen und die an allem Schuld sind, die im Hintergrund heimlich ihre Fäden ziehen. Mir reicht die Realität, die ist schlimm genug.
Machen wir noch einmal kurz eine Bestandsaufnahme: Der Klimawandel nimmt momentan so richtig Fahrt auf, manche Wissenschaftler prognostizieren, dass wir schon 2030 die ersten Kipppunkte erreichen. Die 1,5°C, auf die sich die teilnehmenden Staaten beim Pariser Klimaabkommen als Ziel geeinigt hatten, sind nur noch ein frommer Wunsch. Auch eine Begrenzung des Temperaturanstiegs auf unter 2°C scheint inzwischen utopisch. Wir werden immer mehr Extremwetterereignisse erleben. Die Durchschnittstemperatur von Luft und Wasser verändert sich, die Wettersuppe wird ganz neu angerührt. Wir werden hier bei uns Stürme mit einer Intensität erleben, wie man sie sonst nur aus tropischen Wirbelsturmgebieten kennt. Dazu Starkregen und Hitzewellen mit Dürren und Bränden. Das wird die neue Normalität sein. Wir verlieren insgesamt unsere Lebensgrundlagen. In vielen Teilen der Welt wird künftig nichts mehr gedeihen, die Ernteausfälle werden immens sein. Es wird weitaus mehr lebensfeindliche Gebiete geben. Und das alles habe ich mir nicht ausgedacht, über all das herrscht in der Wissenschaft Konsens. Was droht, sind globale Verteilungskämpfe. Wir erleben schon jetzt eine krasse soziale Spaltung der Gesellschaft.
Und weltweit ist die Kluft zwischen Arm und Reich schlicht unerträglich. Wir werden weitere Kriege sehen, viele Konflikte. Wir werden Flucht und Vertreibung sehen. Wir werden vielerorts die vollkommene Abwesenheit der Menschenrechte erleben. Und bei all dem dürfen wir uns wahrscheinlich noch über weitere Infektionskrankheiten freuen, weil wir stellenweise der Natur viel zu nahe kommen.
Gleichzeitig leben wir in einem System, das eine Umkehr so gut wie unmöglich macht. Wir sitzen sozusagen in der Kapitalismusfalle, im Wachstumshamsterrad. Wachstum ist auch aktuell die einzige Medizin, die wir uns in der Krise verschreiben. Olaf Scholz glaubt ans Wachstum, Christian Lindner natürlich auch, alle wünschen sich ganz schnell wieder ganz viel Wachstum.
Dabei weiß man es schon seit rund 50 Jahren besser. 1972 wurden „Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ veröffentlicht. Mit einer klaren Ansage.
Aber wir leben einfach weiter über unsere Verhältnisse. Jedes Jahr wird ein Datum berechnet, an dem die Belastungsgrenze der Erde erreicht ist. Ab diesem Tag beginnen die Menschen mehr Ressourcen zu verbrauchen, als ihnen nachwachsend in dem Jahr zur Verfügung stehen. Der Earth Overshoot Day sollte in einer nachhaltigen Gesellschaft der letzte Tag des Jahres sein, er rückt aber von Jahr zu Jahr näher an den Jahresanfang. In diesem Jahr haben wir ihn am 28. Juli „gefeiert“. Es könnte sein, dass wir durch die Rezession im kommenden Jahr ein paar Tage länger nicht über unsere Verhältnisse leben.
Aber der große Plan ist natürlich ein ganz anderer, ein möglichst schnelles Zurück zu den Verhältnissen, die wir vor dem Krieg in der Ukraine hatten. Das ist das Versprechen der Ampel. Man will alles daransetzen, dass wieder alles so wird, wie es vorher war. Und selbst von der Formel „Wandel durch Handel“ hat man sich stellenweise noch nicht so ganz verabschiedet. Doch auch wenn das nicht funktioniert, Handel muss es ja trotzdem weiter geben, auch mit Staaten, die keine lupenreinen Demokratien sind. Weil unser Wohlstand andernfalls ja endgültig den Bach runtergehen würde. So wird argumentiert. Begleitet von einer konservativen Opposition, der der Weg zurück in die Vergangenheit gar nicht schnell genug gehen kann.
Und jetzt kippt es in unserer Gesellschaft angesichts der vielen Krisen und der Auswirkungen. „Was haben wir eigentlich mit dem Krieg in der Ukraine zu tun? Sollten wir nicht besser die Sanktionen beenden, wenn sie uns so sehr schaden? Ist es eigentlich gut, noch mehr Waffen in die Ukraine zu liefern, verlängert das nicht einfach nur den Krieg?“ All diese Fragen werden immer lauter gestellt. Von immer mehr Menschen. Befeuert von einem Friedrich Merz, der zwischendurch über Sozialtourismus fabuliert.
Und es tut mir leid, ich bin darüber entsetzt. Wie hat Brecht es so schön formuliert: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Ich finde, es ist nicht so schwer zu verstehen, was Putin im Schilde führt, er ist schon seit einigen Jahren im Krieg mit den westlichen Demokratien, mit wachsendem Erfolg. Viele Geschichten aus der Propagandaabteilung des Kremls haben es bei uns inzwischen bis weit in die Mitte der Gesellschaft geschafft. Und mit seinem Krieg befördert er nun weiter die Spaltung bei uns.
Aber was heißt eigentlich Spaltung? Aus meiner Sicht beschreibt das momentan einfach die Abkehr von der Solidargemeinschaft. Man denkt mehr und mehr egoistisch, man denkt bis zum eigenen Gartenzaun und nicht mehr weiter. Man denkt an den eigenen vollen Kühlschrank, an die eigenen Kinder und nicht mehr auch an die Nachbarskinder. Aus meiner Sicht ein Irrweg. Stattdessen müssten wir doch das Gegenteil tun. Wir müssten uns unterhaken, uns gegenseitig unterstützen, uns helfen, wir müssten zum Beispiel alle gemeinsam die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine zu unserer ganz persönlichen Chefsache machen. Wer Platz hat, kann etwas tun, wer keinen Platz hat, kann vielleicht Platz schaffen. Wir würden Putins Strategie auf diese Weise wunderbar scheitern lassen. Aber wir diskutieren stattdessen lieber über 53 Euro, die wir „den anderen“ jedoch nicht wirklich gönnen. Eine Mehrheit war zuletzt in Deutschland bei der Diskussion um das „Bürgergeld“ für Sanktionen. Nun gibt es einen Kompromiss mit mehr Sanktionen als ursprünglich geplant und weniger Schonvermögen. Und die CDU, allen voran Friedrich Merz, feiert einen großen Sieg. Was ist das für ein irres Theater? Drei Prozent der Leistungsbezieher*innen in Deutschland werden überhaupt sanktioniert. Man macht ein marginales Thema zur Hauptsache, man befeuert den Neid und pocht auf „Gerechtigkeit“ und schrottet damit einen anderen, einen nicht nur humaneren, sondern auch viel klügeren Ansatz.
Was da gelaufen ist in den vergangenen Wochen, dass war Populismus der übelsten Sorte. Es stimmt, wir dürfen verlangen, dass sich die Ampel ins Zeug legt, wir dürfen uns wünschen, gut regiert zu werden. Ich wünsche mir dazu aber auch eine ernsthafte Opposition, die nicht mit den niederen Instinkten der Menschen spielt. Die CDU/CSU ist zu einem Großteil mitverantwortlich für die Krise, in der wir momentan stecken, sie hat vieles blockiert, verzögert, verhindert, nicht nur beim Thema Energie. Auch beim Thema Zuwanderung hat die Union versagt. Statt Deutschland fit zu machen für mehr Zuwanderung, war man lieber hart bei der Abschiebung. Man hat Ängste und Ressentiments geschürt, statt konstruktiv unsere Gesellschaft zu öffnen und für die Zukunft zu wappnen. 400.000 Menschen fehlen uns pro Jahr. Sie werden nicht kommen, denn dass sie hier bei uns nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen werden, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Und wenn die Union nun auch noch davon redet, dass man endlich etwas gegen die überbordende Bürokratie tun muss, dann wird es ganz und gar bunt. Da macht sich der Bock selbst zum Gärtner.
Opposition kann man auch ganz anders hinbekommen. Man könnte die Ärmel hochkrempeln und einsteigen in den Wettbewerb um die besten Ideen. Man könnte konstruktive Vorschläge machen. Wie beseitigen wir die Bürokratie, wie schaffen wir gute Voraussetzungen für mehr Zuwanderung, wie können wir noch schneller werden beim Ausstieg aus den fossilen Energien? So viele drängende Fragen und keine einzige Antwort von der Opposition. Man sagt lieber, was die anderen schlecht machen. Und wenn die anderen es gar nicht so schlecht machen, dann redet man es trotzdem schlecht. Genau das ist im Moment, in unserer aktuellen Situation, völlig fehl am Platze, wir brauchen keine populistische Opposition, die gelegentlich rechts blinkt, wir brauchen jetzt ein konstruktives Miteinander.
Und wir brauchen endlich auch den Mut, über die richtigen Fragen zu diskutieren. Sie überhaupt zu stellen.
Die Zeiten des Wachstums sind vorbei. Da hängt wirklich alles mit allem zusammen. Wenn die Weltwirtschaft weiter wächst wie bisher, dann schrotten wir unseren Planeten endgültig und das nicht erst in vielen Jahren, sondern absehbar sehr bald.
Wie gesagt, das sind keine Hirngespinste. Das alles ist längst wissenschaftlich belegt. Wir steuern direkt in die Katastrophe. Und wir bräuchten dringend ein ganz neues Denken, ganz neue Ideen, keine Denkverbote.
Stattdessen haben wir eine Opposition, die nur auf Fehler der Ampel lauert, und wir haben eine Ampel, die sich nur mit Mühe einig ist. Und gemeinsam heuchelt man sich durch die Weltgeschichte.
Es ist kein Wunder, dass sich so viele Menschen abwenden von der Politik, das Stück, das momentan aufgeführt wird, ist teilweise wirklich erbärmlich. Und demnächst diskutiert und empört sich Deutschland dann wieder über Klimaaktivist*innen, die sich auf dem Asphalt festkleben und Straßen blockieren. Ganz ehrlich, ich kann die ziemlich gut verstehen. Es ist eine hilflose Geste der Ohnmacht gegenüber einer Politik, die Realität und Wissenschaft teilweise gefährlich ausklammert.
Genau das macht mir Angst, genau darüber bin ich wütend.
Lars Kompa