Lieber Leserinnen und Leser,
ich habe in dieser Ausgabe mit Kaja (19 Jahre) über Zukunft gesprochen. Und natürlich haben wir uns dabei auch über die Gegenwart unterhalten. Was sie mir erzählt hat, war nicht besonders angenehm, es ist schwer, wenn so ein junger Mensch den Finger so konsequent in die Wunde legt. Ein Satz (neben vielen anderen für mich schweren, weil so wahren Sätzen) hat mich tatsächlich regelrecht umgehauen: „Es ist ein Privileg zu sagen, ich habe Angst vor der Zukunft, denn es gibt Menschen, die haben Angst vor der Gegenwart.“
Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass dieser Generation weitaus mehr zugehört wird als bisher. Und dass wir nicht nur zuhören, sondern auch entsprechend umdenken. Ich sehe in den Talkshows ständig Männer und Frauen jenseits der 40, 50 und 60, die in Diskussionen beispielsweise mit Klimaaktivist*innen so eine leicht herablassende, freundlich nachsichtige Haltung annehmen, weil diese jungen Leute ja noch nichts wissen von der Welt, weil sie noch gar keine Erfahrung haben, weil sie noch träumen, während die Realität dann doch ein bisschen anders aussieht. Wohlstand muss man sich auch verdienen, wird dann gesagt, das Geld wächst nicht auf den Bäumen und wir leben nicht im Wolkenkuckucksheim.
Das ist angesichts des zunehmend drastisch sichtbareren Klimawandels ziemlich hässlich und auch dumm. Und ich kann verstehen, wenn bei den nachwachsenden Generationen allmählich die Geduld mit uns zur Neige geht. Wenn sie keine Lust mehr haben auf Lösungen von vorgestern für die Probleme von morgen. Was nützt uns all unser Wohlstand, wenn das Klima kippt, wenn tatsächlich viele Bereiche der Erde unbewohnbar werden? Dieser Frage müssen wir uns endlich ganz nüchtern stellen, denn das Szenario stammt nicht aus irgendeinem Science-Fiction-Film mit Weltuntergangsdramatik, das sagt die Wissenschaft in weltweit überwältigender Einigkeit. Oder anders gesagt, wer heute noch behauptet, dass es nicht in einer Katastrophe endet, wenn wir nicht augenblicklich sehr radikal auf die Bremse treten, ist ein Idiot.
Was für Schlussfolgerungen müssten wir eigentlich ziehen aus den Erkenntnissen der Wissenschaft? Zum Beispiel, dass jedes Prozent mehr Wachstum die Katastrophe für die Welt nur weiter verschärft. Der Earth Overshoot Day, der Welterschöpfungstag, war in diesem Jahr am 28. Juli. Seither verbrauchen wir jeden Tag mehr natürliche Ressourcen als nachwachsen können. Daran wird sich auch durch ein bisschen „grünes“ Wachstum in Deutschland kaum etwas ändern. Es ist, wie es ist, wir dürfen nicht mehr weiter wachsen, im Gegenteil, wir müssen bescheidener werden und Wohlstand ganz anders und neu definieren. Wir müssen wahrscheinlich unseren Kapitalismus ganz neu denken und dabei bitte nicht alten, teils verqueren Ideologien nachhängen. Es gibt viele, altbekannte Lösungen, die momentan gerne propagiert werden. Aber die haben auch in der Vergangenheit alle nicht funktioniert. Klar, man könnte die halbe Menschheit zur Umerziehung ins Arbeitslager sperren, aber ist das wirklich ein tragfähiges Zukunftsmodell? Und klar, man könnte einen ganz hohen Zaun um Deutschland ziehen, sich mit Ackerbau und Viehzucht autark ernähren und auf alle schießen, die über die Grenze kommen, um bei uns Kartoffeln zu klauen. Das ist es irgendwie auch nicht. Aber einfach so darauf zu hoffen, dass der Krieg in der Ukraine endet und sich dann alles wieder beruhigt, um dann wieder zurückzukehren zu unserem alten Geschäftsmodell und nebenbei mit vielen klugen Innovationen (die es alle noch nicht gibt) das Weltklima retten, das ist es leider auch nicht. Das ist nur heiße Luft.
Aber was passiert, wenn sich jemand in die üblichen Talkshows setzt und propagiert, dass unsere Wirtschaft schrumpfen muss? Stellen wir uns dort eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler vor, mit echter Expertise und lauter Fakten im Gepäck. Sie würde ihn grillen. Sie würden an seiner Forschung zweifeln, ihn diskreditieren, und irgendwo würde da auch noch eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler sitzen und das Gegenteil behaupten, wegen der richtigen Balance. Auch wenn diese zweite Meinung in der Wissenschaft total isoliert ist. Man müsste beispielsweise bestimmt 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ins Studio bitten, für die der Klimawandel menschengemacht ist, wenn dort ein Klimaskeptiker auftreten soll und man eine „true balance“ zeigen will. Aber egal, was kümmert uns die richtige Balance. Die Hauptsache ist doch, das nicht sein kann, was nicht sein darf. Und kein Wachstum, das darf nicht sein. Dann empören wir uns prognostizieren den Untergang.
Was mich im Gespräch mit Kaja am meisten beeindruckt hat, das ist ihr Optimismus, ihre Zuversicht. Das ist auch ihr Mut. Was mich am meisten bedrückt hat, das ist die Hoffnungslosigkeit, die sich hin und wieder kurz zeigt. Denn ihr ist bei all ihren Forderungen völlig klar, dass kaum etwas davon passieren wird, dass wahrscheinlich erst noch alles viel schlimmer und apokalyptischer werden muss, bis sich in den (älteren) Köpfen wirklich etwas bewegt. Mehr ab Seite 54
Viel Spaß mit dieser Ausgabe
Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind