Liebe Leserinnen und Leser,
spätestens im Herbst werden sie sich wieder versammeln, all jene, die sich ärgern, die wütend sind. Wir werden Demonstrationen sehen gegen die Corona-Maßnahmen, gegen steigende Preise, gegen die Inflation, gegen soziale Härten, gegen eine Unterstützung der Ukraine durch Deutschland, gegen Migration, gegen die Demokratie, gegen den Staat oder wahlweise gegen den „Great Reset“. Das alles wird sich bunt mischen und diverse Kamerateams werden unzählige O-Töne einsammeln, Statements zum jeweiligen Stein des Anstoßes, darunter werden kluge, informierte, klare, aber auch irre, flache, dumme, asoziale und radikale Statements sein – sehr unterschiedliche Ansichten und Meinungen, teilweise vereint auf ein- und derselben Demonstration. Es wird friedlich zugehen – und aggressiv, übergriffig und brutal. Und es ist wohl nur ein sehr frommer Wunsch, dass alle Beteiligten danach gesund wieder nach Hause gehen.
Ich blicke auf diese Demonstrationen, die ja nichts Neues sind in Deutschland, und komme stellenweise doch sehr ins Grübeln. Wie kann es sein, dass Menschen in ein- und demselben Land, die potenziell über dieselben Informationsquellen verfügen und die ähnliche Bildungskarrieren haben, zu völlig unterschiedlichen Schlüssen kommen? Was auf diesen Demonstrationen so erzählt wird, ist stellenweise derart absurd, dass sich wirklich die Nackenhaare aufstellen. Da berichtet jemand über Genveränderungen durch Impfungen, da ist ein anderer überzeugt, dass es den Klimawandel gar nicht gibt, da spricht der nächste über den Angriffskrieg der NATO gegen Russland. Man kann sich darüber lustig machen, kann sich abwenden, kann das alles ignorieren, weil ja nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in den Irrsinn abdriftet. Aber das wäre zu kurz gesprungen, weil inzwischen sehr viele Menschen punktuell ihre Zweifel haben. Was sind die Erkenntnisse der Wissenschaft wirklich wert? Was ist Wahrheit? Was ist gesicherte Erkenntnis. Was ist Fakt? Mit wachsender Unsicherheit angesichts immer neuer Krisen erfahren jene Zulauf, die einfache Antworten geben. Das Problem ist uralt – Fakt (ganz sicher) ist, dass die Menschen an dieser Stelle anscheinend kaum etwas dazugelernt haben – jedenfalls weitaus weniger als es uns allen zu wünschen wäre.
Die Wissenschaft muss zunehmend kämpfen, sie sieht sich quasi permanent Angriffen ausgesetzt, man zweifelt an ihrer Unabhängigkeit, ihrer Reputation – und damit schlussendlich auch an ihren Erkenntnissen. Wissenschaft wird gerne diskreditiert. Während auf der anderen Seite die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kaum Lust haben, sich zu verteidigen, zu erklären, zu übersetzen, ihr Metier ist die Forschung – und wenn die Ergebnisse den sogenannten „Peer Review“ durchlaufen haben, ist für Seriosität gesorgt. Wozu dann noch kommunizieren? Und wie soll man Laien das alles überhaupt verständlich erklären? Das ist gar nicht leistbar. Zumal die vielen „Geister“, die im Internet tagtäglich verbreitet werden, ohnehin nicht einzufangen sind …
Ich habe in dieser Ausgabe (ab Seite 54) mit Jens Rehländer, Kommunikationschef der Volkswagenstiftung, über die Herausforderungen gesprochen, die Wissenschaft und letztlich auch Wissenschaftsjournalismus zunehmend zu bewältigen haben. Ein Gespräch über Wissenschaft und Wahrheit …
Viel Spaß mit dieser Ausgabe!
Herausgeber Stadtkind