Der eine kommt ursprünglich aus dem Harz und der andere aus der Inneren Mongolei. Die Schnittmenge der beiden Freundeskreis-Mitglieder ist das kulturelle Leben, weit über Hannover hinaus. Wir treffen virtuell den international erfolgreichen Pianisten Haiou Zhang (HZ) und Werner Buss (WB), den künstlerischen Direktor der GOP Entertainment Group, die das Varieté 1992 aus einem 30-jährigen Dornröschenschlaf erweckte und es zu einem bundesweit agierenden Unternehmen mit sieben Standorten ausbaute.
Wie immer beginnen wir mit einer Vorstellungsrunde.
WB – Ich habe eben Haious Vita gelesen und bin total beeindruckt! Magst du anfangen, Haiou?
HZ — Gern. Ich war noch nicht mal 18, als ich mein Musikstudium in Peking abgeschlossen hatte. Es gab dann damals zwei mögliche Wege für mich. Ich hätte an der Juilliard School in New York studieren können oder an der Musikhochschule in Hannover bei Prof. Bernd Goetzke. Für mich war ganz klar, dass ich nach Deutschland und nicht in die USA gehen wollte, was an meiner Liebe zur deutschen Literatur und Musik liegt. Ich habe vorher acht Jahre in Peking gelebt, einer Mega-City mit 20 Millionen Einwohnern, da hat mich New York nicht wirklich gereizt. Und das Leben hier, dass man Fahrrad fahren kann oder spazieren gehen in den Herrenhäuser Gärten, ist für mich ein absoluter Glücksfall. Jetzt bin ich schon seit 19 Jahren hier.
Ich lasse euch beide als Hannoveraner gelten. Wir sind da nicht kleinlich.
WB – (lacht) Hannover ist, glaube ich, in vielerlei Hinsicht ein Geheimtipp. Ich finde, es ist ein sehr warmer Ort, der etwas Familiäres hat, er ist groß, aber nicht zu groß. Ein echtes Drehkreuz, weil man schnell überall hinkommt, zu dem man aber auch immer wieder gern zurückkehrt. Ich finde es immer faszinierend, wie früh Lebenswege angelegt werden. Ich bin in Braunlage im Harz aufgewachsen und komme aus einer Familie, in der sehr viel musiziert wurde, das hatte für uns viel mit Geselligkeit zu tun. Mein Vater war ein sehr guter Zitherspieler. Ganz zentral bei uns war der Sport. Mein Bruder und ich haben Skilanglauf als Leistungssport betrieben. Unsere Eltern haben das sehr unterstützt, wir sind an fast jedem Wochenende um fünf oder sechs Uhr morgens aufgestanden und zu irgendwelchen Wettkämpfen gefahren. Mein Bruder gehörte zu den bundesweit besten seines Jahrgangs. Ich galt als Talent, war aber faul. Deswegen bewundere ich es sehr, wenn man wie du, Haiou, aus seinem Talent so viel macht, weil man eben nicht faul ist (alle lachen). Und mich interessiert einfach, wie du überhaupt an die Musik herangeführt worden bist, sodass man deine Begabung erkennen konnte.
HZ – Meine erste Begegnung mit westlicher klassischer Musik kam durch zwei Kassetten mit Mozarts Klavierkonzerten, die bei uns herumlagen. Ich hatte keine Ahnung vom Hintergrund dieser Musik und fand sie einfach schön. Ich habe dann angefangen, Keyboard zu spielen. Als ich an einem Wettbewerb teilgenommen habe, haben die Juroren meine Eltern beiseite genommen und ihnen gesagt, dass ich Klavier spielen muss. Finanziell gesehen war das nicht einfach für uns. Damit wir uns ein anständiges Klavier leisten konnten, hat meine gesamte Verwandtschaft zusammengeschmissen. So war ich dann schon neun Jahre alt, als ich mit dem Klavierspielen angefangen habe. Die meisten Kinder in Shanghai oder Peking fangen mit vier oder fünf an, aber ich kam eben aus der Provinz. Und du hast Recht, Werner, dass die Unterstützung der Familie ganz wichtig ist. Eine große Rolle spielt aber auch der erste Lehrer. Mein erster Lehrer hat schnell erkannt, dass ich musikalisch viel zu sagen habe und hat sich bei meinen Eltern dafür eingesetzt, dass wir uns in Peking bei einer berühmten Professorin vorstellen. Meine Eltern haben sich überzeugen lassen und wir sind über 12 Stunden mit dem Zug über die Gebirge nach Peking gefahren. Heute braucht man für die Strecke zwei Stunden (lacht). Wir kannten die Professorin Jo gar nicht, haben uns zu ihr durchgefragt und einfach an ihre Tür geklopft. Acht Jahre später, nach meinem Abschluss in Peking war diese Professorin diejenige, die mich Professor Goetzke in Hannover empfohlen hat. Sie ist heute 93 Jahre alt und witzigerweise geboren in Hannover.
Nein!
HZ – Ihr Vater war chinesischer Diplomat in Deutschland. Sie war bis zum 20. Lebensjahr in Hannover und spricht immer noch perfekt Deutsch.
WB – Spannend! Und noch eine Parallele zwischen uns, denn auch bei uns waren die Verhältnisse früher eher bescheiden. Aber so, wie deine Familie sich ins Zeug gelegt hat, damit du ein gutes Klavier bekommst, hat meine dafür gesorgt, dass wir gute Skier hatten. Und es ist so entscheidend, dass es im Leben eines Kindes Personen gibt, die zum richtigen Zeitpunkt erkennen, wo sie unterstützen müssen.
Wie bist du dazu gekommen, in Hannover ein Theater zu leiten?
WB – Punkt eins ist mein warmes, zugängliches Elternhaus. Mein Vater war eine sehr starke Persönlichkeit und meine Mutter eine großherzige Frau, von der ich lernen durfte, was bedingungslose Liebe ist. Die Türen standen immer offen bei uns. Das ist für mich auch eine Brücke zur Philosophie des GOP: Dass die Arme offen sind für Gäste, kommt aus meinem Elternhaus. Manchmal waren schon Freunde bei uns, wenn wir noch gar nicht zu Hause waren. Ich habe dann eine Ausbildung zum Hotelkaufmann gemacht und so eine andere Form der Gastlichkeit kennengelernt. Das war sehr steif und passte gar nicht zu mir, war aber als Lehre unglaublich wichtig. Ich bin ein sehr rebellischer Mensch und musste mich dort ein bisschen anpassen. Das hat mir ganz gut getan, auch wenn ich das damals nicht so empfunden habe. Dann kam die dritte Station, die mich sehr geprägt hat. Ein Freund kam auf mich zu mit der Idee, in der Touristikbranche bei Aldiana als Animateur zu arbeiten. Ich bin schon mit 15 Jahren gereist und hatte immer Fernweh. Natürlich könnte man das belächeln und sagen „Guck mal, der langhaarige Spinner ist Animateur”, aber das war ein sehr harter Job, in dem ich unendlich viel gelernt habe, auch über mich. Dort hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, als Erwachsener wahrgenommen zu werden. Wir standen jeden Abend auf der Bühne und haben voller Lust und Leidenschaft, wenn auch semiprofessionell Theater gespielt. Das Publikum war immer begeistert. Aber wir wussten, wir sind jetzt nicht die tollen Schauspieler oder großartige Künstler, sondern einfach nur verdammt gute Animateure. Das waren ganz prägende Jahre, in denen ich verstanden habe, wie das Prinzip „Bühne” funktioniert. Was braucht es, damit der Funke überspringt? Welche Qualität, welche Atmosphäre? Ich bin dann Vater geworden und deswegen nach Deutschland zurückgekehrt. Vor drei Wochen bin ich übrigens Großvater geworden! (Allgemeines Hurra!) Zurück in Deutschland, bin ich im Spätsommer 1993 von einem Unternehmensberater angesprochen worden, der das damals gerade wiedereröffnete GOP beraten hat, und der meinte, ich sei die richtige Person, um das in Gang zu bringen. Einen Monat später stand ich mit meinen langen Haaren im GOP Varieté-Theater und war mit 29 Jahren der Älteste im Team. Wir waren 20 Mitarbeiter damals, heute hat die GOP Entertainment Group 1000. Es kam dann eine harte Phase, aber letztlich haben wir es wirklich geschafft, das wiederzubeleben. Wir haben überlegt: Für wen machen wir das? Wie fühlt man sich, wenn man bei uns hereinkommt? Und was muss man bieten, damit die Leute Tickets kaufen? Da gibt es natürlich die Frage des Geschmacks, aber das wichtigste ist die Qualität! Wenn Du ein Konzert gibt, Haiou, ist die Qualität nicht verhandelbar.
HZ – Absolut nicht!
WB – So ist es bei uns auch. Und wenn ich auf der Bühne eine gewisse Qualität erreicht habe, und kann die dann im gastronomischen Bereich nicht halten, dann sagen die Gäste: „Die Show war ja wirklich toll, aber essen kannst du da nicht.” Man hängt sich dann daran auf, was nicht so toll war. Also muss die Qualität in allen Bereichen stimmen und natürlich auch das Preis-Leistungs-Verhältnis. Du musst deine Preise so kalkulieren, dass man sich das, am besten mit der ganzen Familie, leisten kann, vielleicht sogar zwei-, dreimal im Jahr.
Und der dritte, ganz wichtige Punkt bei uns sind die Menschen. Ein Theaterstück oder eine Show sind ein Ort, wo sich Menschen begegnen. Und nur, wenn ich die Künstler, die Mitarbeiter und die Gäste zusammenführen kann, wird es gut. Schon nach einem Jahr haben wir schwarze Zahlen geschrieben. Für mich steht der finanzielle Erfolg aber immer erst an zweiter Stelle. Wenn wir nicht wirklich Lust haben auf das, was wir da tun, dann werden die Zahlen auch nicht stimmen, davon bin ich fest überzeugt. Ich denke, dass das Wirtschaftliche nicht im Vordergrund stehen darf, sondern das Feuer, mit dem man für das brennt, was man tut.
Beim Thema „Für wen machen wir das” möchte ich von Haiou wissen: Für welches Publikum spielst du, was hast du bei der Gestaltung deiner Programme im Hinterkopf?
HZ – Das ist immer ein interessantes Gesprächsthema, das in Nordamerika und Europa viel diskutiert wird. Das Publikum wird immer älter. Wenn man von der Bühne guckt, sieht man einen Silbersee (alle lachen). Aber warum kommen nur so wenige jüngere Menschen? Können sie es sich nicht leisten oder fehlt ihnen einfach der Zugang? Mein Publikum ist im Durchschnitt bestimmt über 50 oder sogar über 60 Jahre alt. Ich würde mir sehr wünschen, dass mehr jüngere Menschen in meine Konzerte kommen und versuche auch, etwas dafür zu tun. Zum Beispiel organisiere ich schon seit 12 Jahren ein Festival in Buxtehude im Alten Land, mit dem ich besonders Jugendliche ansprechen möchte und in dessen Rahmen viele Schülerkonzerte stattfinden. Viele erlernen als Kind ein Instrument, das ist eine gute Basis. Ich frage mich, warum dieses Interesse an der Musik dann nicht bleibt. In China ist das ganz anders, da kommen viele junge Leute, 80 Prozent des Publikums sind junge Mütter mit ihren Kindern. Dabei gibt es in Europa und gerade in Deutschland eine Musiklandschaft wie nirgendwo sonst! Es gibt so viele Festivals, in fast jeder Stadt gibt es ein qualitativ hochwertiges Orchester. Man muss also nicht weit fahren, um fantastische Musiker erleben zu können. Vielleicht wird das alles als zu selbstverständlich wahrgenommen.
WB – Ich glaube, dass das sehr viel mit Kommunikation zu tun hat. Man sieht das ja auch beim Freundeskreis, ein toller Verein, der so vielfältige Möglichkeiten bietet sich einzubringen, aber dessen Mitglieder etwa im gleichen Alter sind wie dein Publikum. Das Stadtkind schafft es, eine breite Leserschaft von jünger bis älter anzusprechen. Es gelingt ihm, die Generationen zusammenzuführen, genauso wie dem GOP.
Euer Programm spricht ja auch wirklich die ganze Familie an.
WB – Wir sagen immer „von sechs bis sechsundneunzig”. Ja, wie baut man eine Brücke, damit junge Menschen in klassische Konzerte gehen? Eine wichtige Frage ist die Atmosphäre, wenn ich da hingehe. Wie werde ich angesprochen? Wie sind die Leute angezogen? Fühle ich mich da frei? Ich glaube, da steckt eine große Chance, weil am Ende Kunst und Kultur, gerade die Musik, die Herzensbildung fördert.
Hat es vielleicht auch zu tun mit dieser unglücklichen Unterscheidung zwischen U- und E-Musik, die klassischer Musik Ernsthaftigkeit unterstellt und fast alles andere als Unterhaltung abqualifiziert?
WB – Dieser Dünkel ist in meinem Bereich ganz stark spürbar. In Frankreich ist das nicht so, da ist Varieté eine anerkannte Kunstform. Hier heißt das Kleinkunst und findet wenig Anerkennung. Aber als wir, das ist inzwischen auch schon einige Jahre her, die erste „Lange Nacht der Theater” veranstaltet haben, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass in dieser Hinsicht Wände eingerissen werden. Und Hannover hat ein tolles, sehr offenes Publikum. Wenn wir diese kleine Brücke noch bauen und die Oper und klassische Musik für junge Menschen öffnen, dann ist Hannover wirklich unschlagbar.
Ihr seid beide Menschen, die vermutlich normalerweise jede Woche in einem Flugzeug sitzen. Wie ist die momentane Situation für euch?
HZ – (lacht) Letzten Monat hätte ich mein erstes Konzert in der Elbphilharmonie gehabt. Im April ist meine neue CD herausgekommen und es war ein Releasekonzert im Konzerthaus in Berlin geplant, all das liegt jetzt auf Eis. Ich bin mittlerweile seit drei Monaten in China. Hier ist die Situation etwas anders und ich kann mich eigentlich normal bewegen, meistens bin ich am Klavier oder am Schreibtisch. Es ist ein komisches Gefühl, so wenig auf der Bühne zu stehen. Außer einem Minikonzert hier in Peking war ja einfach nichts seit November. Ich versuche, das positiv zu sehen und freue mich über die Zeit mit meinen Eltern.
Also du bist jetzt gerade in Peking?
HZ – Ja, ich bin Anfang November nach Shanghai geflogen und hatte dann zwei Wochen Quarantäne im Hotel. Seit Anfang Januar bin ich hier in Peking.
WB – Wie spät ist es jetzt bei dir?
HZ – Gleich 23 Uhr.
WB – Ich bin normalerweise etwa 280 Tage im Jahr unterwegs und besuche weltweit Festivals und Proben. Die Festivals sind bis zum Sommer alle abgesagt, ich bin noch nie so viel zu Hause gewesen wie zuletzt. Meine Frau und ich sind ganz happy und genießen die Zeit, aber wir merken gerade, dass aus diesem „Ach, das ist ja auch mal ganz schön“ eine gewisse Unzufriedenheit wird. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich kein Verständnis für die Maßnahmen hätte, die unterstütze ich voll und ganz. Ich habe einfach einen riesigen Tatendrang. Seit Monaten warten in unseren Gästeapartments Künstler aus allen Teilen der Welt. Die Theater sind jeden Tag für Proben geöffnet, aber trotzdem ist das sehr frustrierend. Die größte Schwierigkeit ist einfach, dass es keine klare Perspektive gibt und wir immer in einer Lauerstellung ausharren. Das ist für einen Apparat mit 1000 MitarbeiterInnen und 100 KünstlerInnen unheimlich schwer.
Was haltet ihr von Streaming-Formaten?
HZ – Ich habe das im letzten Jahr ausprobiert über die Plattform „Classic at home“. Zwei Konzerte habe ich in Hannover im Kanapee aufgenommen. Wir haben sehr viele Zuhörer erreicht damit, von daher war es erfolgreich. Die technische Ausstattung muss aber sehr gut sein, damit man die kleinen Nuancen auch wahrnimmt. Ich habe mit einem Streichquartett der Berliner Philharmoniker zusammengearbeitet, und für uns alle war es ein komisches Gefühl, nur in eine Kamera hinein zu spielen. Normalerweise gehen zwischen uns und dem Publikum so viele Emotionen hin und her, das ist nicht zu ersetzen.
WB – Ich finde all diese Formate toll, um überhaupt in Kontakt zu bleiben. Aber am Ende möchte ich im Saal sitzen, möchte die Reaktion des Publikums sehen oder die Reaktion zeigen, wenn ich Gast bin. Wir verlieren aber den Glauben nicht, das höre ich bei dir auch heraus, Haiou. Am Ende des Tages werden wir viel gelernt haben. Es wird die Zeit kommen, wo wir einander wieder über die Musik, über die Kultur in den Arm nehmen können.
● Annika Bachem