Ein letztes Wort im November…

…mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

 

Foto: Dominik ItzigehlHerr Weil, am Ende unseres letzten Interviews haben wir darüber gesprochen, dass es gut wäre, sich mal wieder auf das Wesentliche zu besinnen und zu überlegen, was Politik eigentlich richtig machen kann. Wie müsste denn aus Ihrer Sicht beispielsweise eine richtige Integrationspolitik aussehen?
Da fange ich weniger bei der Politik, sondern mitten in der Gesellschaft an. Ich finde, wir müssen alle einen Satz verinnerlichen: Es ist egal, wo jemand herkommt; wichtig ist, wo er hin will. Würden wir das beherzigen, dann wäre die Hälfte der Integration bereits geschafft. Das Entscheidende ist aus meiner Sicht, dass wir den Migranten vermitteln, dass sie bei uns eine faire Chance bekommen. Sie müssen darüber nicht die eigene Kultur verlieren, aber sie sollen sich anstrengen für ihre Familie und für unsere Gesellschaft und ihre Chancen nutzen. Was wir momentan erleben, ist aber leider etwas völlig anderes. Ich höre sogar zunehmend von Leuten, die zum Teil bereits seit Jahrzehnten in Deutschland leben, und denen dennoch Deutsche verstärkt abweisend und skeptisch begegnen.

Ich finde ja die ausgestreckte Hand überaus wichtig, den direkten Kontakt, das „an die Hand nehmen“.
Ja, das ist enorm wichtig. Ich habe mir auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise mal vorgestellt, was ich mir wünschen würde, wenn ich gezwungen wäre, meine Heimat zu verlassen und es mich unfreiwillig in ein mir ganz und gar fremdes Land verschlagen würde, wenn ich ganz weit weg ganz neu anfangen müsste. Am allermeisten würde ich Menschen brauchen, die mir dabei helfen, dort anzukommen. Menschen, die sich auskennen und die mir zeigen, wie alles funktioniert. Das wäre für mich wahrscheinlich noch wichtiger als Sprachkurse.

Also funktioniert wirkliche Integration nur mit Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger?
Meiner Meinung nach ja. Zu meiner Zeit als Oberbürgermeister haben wir mal bewertet, welche von der Stadt unterstützten Integrationsprojekte besonders erfolgreich laufen. Und herausgekommen ist, dass es jene Projekte waren, bei denen Eins-zu-Eins-Beziehungen hergestellt wurden. Darum ist für mich auch die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe von wirklich großer Bedeutung. Da helfen Menschen sehr direkt anderen Menschen, das ist ein ganz zentraler Ansatz, den auch das klassische Einwanderungsland Kanada verfolgt. Dort übernehmen Einzelpersonen, kleine Gruppen, Unternehmen oder Gemeinden Patenschaften für Zugewanderte und helfen ihnen, in Kanada anzukommen und sich zurecht zu finden.

Hinzukommen muss dann aber auch der erste Sprachkurs?
Natürlich. Wir müssen vor allem in den Bereichen Bildung und Ausbildung noch bessere Rahmenbedingungen schaffen, unter denen der Einstieg in unsere Gesellschaft gelingen kann. Wenn wir zum Beispiel in einigen Schulen einen Migrationsanteil von achtzig Prozent haben, dann müssen wir diese Schulen in besonderer Weise personell ausstatten. Und wer in einer beruflichen Ausbildung ist, die er praktisch gut bewältigt, aber in Prüfungen noch Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hat, der braucht vielleicht einfach ein bisschen mehr Zeit. Das können und müssen wir möglich machen. Aber wie gesagt, für mich steht an allererster Stelle die Frage, wie wir uns grundsätzlich zur Migration stellen. Dieser furchtbare Satz von Horst Seehofer, die Migration sei die Mutter aller Probleme, ist einfach ganz großer Blödsinn.

Jetzt ging neulich durch die Zeitungen, dass in Niedersachsen Gelder für Sprachkurse gestrichen wurden.
Das ist ein Missverständnis, das ich gerne aufklären will. Wir haben im Haushalt 2016 und 2017 sehr viel Geld für Sprachförderung eingestellt, so viel, dass gar nicht alles abgeflossen ist. Und auch in diesem Jahr wird einiges an Geld übrig bleiben. Darum haben wir gesagt, dass wir im Jahr 2019 erst mal die Mittel verwenden, die wir schon bereitgestellt haben. Das heißt aber nicht, dass wir Abstriche bei den Sprachkursen machen. Sprachförderung ist und bleibt ganz entscheidend. Wobei man aber hinzufügen muss: So ein Sprachkurs ist ein bisschen wie Trockenschwimmen. Man lernt die Bewegungen, aber Schwimmen kann man eigentlich noch nicht. Schwimmen lernt man erst im Wasser. Und das Wasser ist in diesem Fall die Ausbildung oder der Beruf, aber auch gemeinsame Freizeitgestaltung oder gemeinsames Engagement. Menschen, die zu uns kommen, brauchen viel Kontakt mit sogenannten Einheimischen, viele Gelegenheiten zum Reden. Dann verlieren sie die Hemmungen und die Angst, Fehler zu machen.

Was müsste denn bundespolitisch passieren in Sachen Integration, um es insgesamt auf einen richtigen, einen nachhaltigen Weg zu bringen?
Zunächst mal muss man feststellen, dass Integration oft ein jahrelanger Prozess ist. Ob Integration gelingt oder nicht, das entscheidet sich nicht im Bundesgesetzblatt, sondern im Dorf oder im Stadtteil, also vor Ort, dort findet die eigentliche Integrationsarbeit statt. Wir brauchen vom Bund aber die für die Unterstützung des Integrationsprozesses notwendige finanzielle Ausstattung. Und wir brauchen ein einfach zu durchschauendes Regelwerk für den Umgang mit Asyl und Zuwanderung. Ein solches Regelwerk muss endlich anerkennen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, es muss pragmatische Lösungen anbieten, wie beispielsweise den Spurwechsel. Das ist zwar ein furchtbares Wort, aber letztlich geht es darum, dass es natürlich völliger Quatsch ist, Menschen, die hier bei uns gut integriert sind, die eine Ausbildung gemacht haben und auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind, abgeschoben werden. Das ergibt keinen Sinn.

Ist Deutschland ein Einwanderungsland?
Ja, Deutschland ist schon seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland. Professor Haverich, der Direktor der Klinik für Herz-, Thorax-, Transplantations- und Gefäßchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover, hat neulich mal so eine Art Familienfoto seiner Abteilung in Umlauf gebracht und die Herkunftsländer der einzelnen Personen reingeschnitten. Und was sieht man? Dass es ohne Migration keine Herztransplantationen oder ähnlich schwierige Operationen geben würde an der MHH. Und das ist nur ein Beispiel, wir sehen das ja überall. Es ist doch nun wirklich höchste Zeit, dass wir die Leute nicht mehr nach ihrer Herkunft beurteilen, sondern nach ihrer Einstellung und Leistung.

Also Haltung, Anerkennung, sinnvolle Gesetze und die notwendigen Mittel …
Länder und Kommunen brauchen vom Bund mehr und verlässliche materielle Unterstützung. Wir müssen insgesamt die Situation in unseren Schulen oder am Wohnungsmarkt verbessern, auch um Spannungen abbauen zu können. Und um bestimmte Zielgruppen in besonderer Weise zu fördern. Es ist beispielsweise schwieriger, geflüchtete Frauen in Sprachkurse, in Ausbildung und Beruf zu vermitteln als Männer. Wenn das aber nicht gelingt, dann bleiben die Frauen und mitunter auch die Kinder womöglich auf viele Jahre zu sehr in ihrer eigenen Community.

Wenn ich mir die Stimmung in Deutschland so ansehe, auch die Stimmung in der Bundesregierung, dann habe ich kaum Hoffnung, dass wir in absehbarer Zeit eine vernünftige Politik in Sachen Integration erleben werden. Ich hoffe sehr, dass Sie sich da irren. Ich finde es selbst einigermaßen unerträglich, dass wir eigentlich permanent in so einem Krisenmodus unterwegs zu sein scheinen und dass manche auch noch denken, sie könnten die AfD entzaubern, wenn sie ähnliche Positionen vertreten. Wir sollten all dem mit einer erfolgreichen, starken und vertrauensbildenden Politik begegnen. Ständige Auseinandersetzungen in der großen Politik sind da absolut kontraproduktiv.

Interview: Lars Kompa, Foto: Dominik Itzigehl


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