Ein letztes Wort im Juli …

Herr Weil, heute mal ein Interview zu einem Schlagwort, mit dem ich ehrlich gesagt kaum etwas anfangen kann: Leitkultur.
Das geht mir ganz ähnlich.

Von der deutschen Leitkultur war ja in letzter Zeit wieder häufiger die Rede, auch nachdem Thomas de Maizière seine zehn Punkte dazu veröffentlicht hat. Ich habe mir diese zehn Punkte angesehen – und habe trotzdem nicht verstanden, was diese Leitkultur inhaltlich meint. Haben Sie eine Idee, was die CDU mit diesem Begriff verbindet?
Das Wort ist so eine Art Ungeheuer von Loch Ness der deutschen Politik: Es taucht etwa alle zwei Jahre auf, gerne vor Wahlen, geistert dann ein bisschen durch die Medien und taucht wieder ab. Ich habe, seit es diesen Begriff gibt, noch nie so ganz verstanden, um was es dabei im Kern eigentlich gehen soll. Aus meiner Sicht brauchen wir keinen diffusen Begriff „Leitkultur“. Wir haben ein Grundgesetz; das ist weit mehr als nur ein Organisationsstatut für den Staat, das Grundgesetz liefert eine Werteordnung. Und zu diesem Grundgesetz bekenne ich mich voll und ganz, ohne dass ich dazu einen solchen diffusen Begriff brauche.

Diffus ist ein gutes Stichwort. „Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und was uns von anderen unterscheidet“, schreibt de Maizière. Von wem? Das habe ich mich gefragt. Wer sind diese anderen? Ich unterscheide mich von jedem anderen Menschen in meiner Nachbarschaft, klar. Aber im Grunde unterscheidet mich doch gar nichts von anderen.
Das sehe ich ähnlich, ich weiß nicht, worin beispielsweise der wesentliche Unterschied zwischen einem Niedersachsen und einem Dänen bestehen soll. Es gibt natürlich unterschiedliche Ausprägungen im Lebensstil. Es gibt unterschiedliche Kulturen, das ist völlig unstrittig, aber letztlich sind wir alle Menschen, die von der Kultur anderer auch etwas in ihre eigene aufnehmen. Zum Beispiel kenne ich viele Deutsche, die sehr gerne Pizza und Pasta essen und nicht nur Hackbraten mit Kartoffeln mögen. Kulturen vermischen sich, was viele Vorteile mit sich bringen kann. Gut ist es immer, wenn man voneinander profitiert und sich das Gute voneinander abschaut. Ich halte es dagegen für nicht gut, wenn Kulturen unbeeinflusst voneinander eng nebeneinander existieren, denn dann haben wir es am Ende nicht mehr mit einer Gesellschaft zu tun, sondern mit mehreren.

Problematisch finde ich bei diesem Begriff Leitkultur, was zwischen den Zeilen steht, „die anderen“. Für mich beschwört die CDU damit so ein schwammiges Zusammengehörigkeitsgefühl und vermittelt gleichzeitig, dass viele nicht dazu gehören. Es geht um Abgrenzung und Ausgrenzung, oder?
Leitkultur ist ein populistischer Begriff. Ich kann die tieferen Ursachen durchaus verstehen, die bei vielen Menschen momentan das Bedürfnis nach Abgrenzung wecken. Weil wir im Zuge der Globalisierung und auch Digitalisierung eine Entgrenzung erleben. Die Welt ist auf eine unglaubliche Art und Weise zusammengerückt, und sie ist damit zugleich sehr viel unübersichtlicher geworden. Das schafft entsprechende Bedürfnisse. Aber wenn uns daran gelegen ist, dass wir hier in Deutschland gut miteinander leben wollen, dann dürfen wir andere trotzdem nicht ausgrenzen.

Sondern müssen im Gegenteil eigentlich die Begegnung suchen.
Wir müssen alle mit einbeziehen, genau. Und ich kann jedem Zuwanderer gut erklären, was in unserem Grundgesetz steht, einschließlich der Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Bei dieser Leitkulturdebatte ist aus meiner Sicht immer auch eine Menge Unterstellung im Spiel. Sie haben gerade ein Beispiel genannt: die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das wird gerne pauschalisiert: Alle, die jetzt kommen, haben damit ein Problem. Viele, die ich kennen gelernt habe, haben damit aber überhaupt kein Problem.
Die Gleichberechtigung von Mann und Frau steht in unserem Grundgesetz. Wir müssen erklären, was mit solchen Grundwerten bei uns inhaltlich gemeint ist. Statt über solche Begriffe wie Leitkultur zu diskutieren, sollten wir eher darüber reden, wie es in unserer Verfassungswirklichkeit tatsächlich aussieht und ob wir genug tun, um die Werte unserer Verfassung wirklich einzuhalten. Und da landet man dann durchaus bei unangenehmen Fragen wie: Wenn Männer und Frauen bei uns gleichberechtigt sind, wie kommt es dann, dass Frauen im Durchschnitt 20 Prozent weniger verdienen als Männer?

Ich habe den Eindruck, dass mit der Leitkultur bei der CDU/CSU an der Basis teilweise schon sehr klare Vorstellungen verbunden sind. Die Ehe, die Rolle der Frau Richtung Kinder und Herd, die guten alten 50er-Jahre. Ist da was dran?
Das ist ganz sicher nicht die einheitliche Sicht der Konservativen. Die deutsche Gesellschaft unterscheidet sich heute fundamental von der in den 1950er-Jahren. Und auch von der in den 1980er-Jahren. Wer versucht, dahin zurückzukehren, muss scheitern. Kluge Konservative wissen das. Darum hat Herr de Maizière, den ich eindeutig diesen klugen Konservativen zuordne, sehr darauf geachtet, bei seinen Ausführungen nicht weiter ins Detail zu gehen. Unterm Strich habe ich seine Thesen schlicht als Beitrag zum Landtagswahlkampf in NRW verstanden. Mehr war es nicht.

„Wir sind nicht Burka“, das hat er auch geschrieben. Das war dann doch recht konkret. Was halten Sie von dem Satz?
Das ist mehr oder weniger Nonsens. Die Debatte darüber ist völlig überzogen. Ich bin zum Beispiel auch dafür, dass Schülerinnen nicht ihr Gesicht verhüllen dürfen im Unterricht, weil ich der festen Überzeugung bin, dass zum offenen Austausch im Schulunterricht gehört, das Gesicht des Gesprächspartners sehen zu können. Aber die Burka als großes Problem in Deutschland – sorry, ich sehe es nicht. Und ich sehe auch keinen Bedarf für eine Leitkultur.

Ihnen reicht das Grundgesetz.
Absolut. Wir haben eine erstklassige Verfassung. Das Grundgesetz beginnt mit einem Satz, der dort steht wie ein Fels: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder Mensch hat bei uns Anspruch auf Respekt und Fairness, keiner ist mehr wert als der andere. Nicht nur Deutsche im Sinne des Grundgesetzes haben eine Würde, die zu respektieren ist, sondern alle Menschen. Ich finde, damit hat unser Grundgesetz schon mal einen sehr guten Start. Es ist sehr offen gehalten, es schreibt uns nicht alles vor. Ein wesentlicher Grundsatz ist allerdings: Du kannst etwas aus deinem Leben machen, du kannst frei wählen, aber nicht auf Kosten anderer. Unsere Verfassung will keine Ellenbogengesellschaft. Darum findet man im Grundgesetz viele Hinweise auf die Belange der Gemeinschaft, die zu berükksichtigen sind.

Mir ist der Begriff der Leitplanke ja weitaus sympathischer als der der Leitkultur.
Das Grundgesetz gibt uns in der Tat Leitplanken, insbesondere im Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft. Jeder kann sich austoben, wie er will, aber er muss sich dabei innerhalb der sehr weiträumig angelegten Leitplanken bewegen. Bei Kollisionen bin ich durchaus Anhänger eines starken Staates. Wer aus diesen Leitplanken ausbrechen will, der muss mit Sanktionen rechnen. Aber innerhalb der Leitplanken darf es aus meiner Sicht gerne kreuz und quer und vor und zurück gehen. Wir müssen nur darauf achten, dass es dabei nicht zu Unfällen kommt, darum braucht es noch ein paar Regeln. Beim Stichwort „Unfälle“ fällt mir die Straßenverkehrsordnung ein, die in § 1 eine perfekte Übersetzung des Kategorischen Imperativs von Kant liefert: Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten hat, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Kant hat gesagt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Das ist der gleiche Grundgedanke. Kant, Grundgesetz, Straßenverkehrsordnung, das reicht allemal – eine Diskussion über eine vage Leitkultur brauchen wir nicht.

Interview: Lars Kompa


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