Herr Weil, was wird bei Ihnen bleiben in der Rückschau auf 2016?
Dieses Jahr war durch einen merkwürdigen Widerspruch geprägt. Objektiv betrachtet ging es dem Land Niedersachsen in seiner 70-jährigen Geschichte noch nie so gut wie jetzt. Wir haben eine Rekordbeschäftigung, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr. Zum ersten Mal überhaupt in der Landesgeschichte gibt es einen Haushalt ohne neue Schulden und gleichzeitig gibt es jede Menge Investitionen, beispielsweise in Bildung. Es sieht also richtig gut aus. Gleichzeitig gibt es aber eine spürbare Verunsicherung und ein Gefühl des Umbruchs. Die Begriffe „Brexit“ und „Trump“ stehen beispielhaft. Und überhaupt das Stichwort „Rechtspopulismus“. Am Ende dieses Jahres steht für mich die spannende Frage, wie wir diesen Widerspruch auflösen können.
Ich hatte schon vor vielen Monaten den Eindruck, dass wir weltweit an einer Art Scheideweg stehen und dass es so aussieht, als ginge der Trend dahin, sehr falsch abzubiegen. Mittlerweile ist die Welt an vielen Stellen falsch abgebogen. Und damit sind wir auch schon bei der Zukunft. Wird 2017 wieder ein besseres Jahr?
Für mich ist es eine durchaus bittere Erkenntnis aus 2016, dass vieles, was ich für sicher und gewiss gehalten habe, eben nicht selbstverständlich ist. Ich hätte nie geglaubt, dass bei uns in Deutschland die Demokratie, die Menschenwürde und der gegenseitige Respekt manchmal so schamlos und massiv in Frage gestellt werden könnten. Meine Konsequenz daraus ist, noch mehr für diese Werte zu kämpfen – mit Mut und mit Zuversicht. Denn wer auf der Welt soll diese großen Zukunftsprobleme besser meistern können, als wir? Wir haben hier in Deutschland dafür eine ausgesprochen gute Startposition. Es gibt natürlich viele Herausforderungen: die Globalisierung macht vielen Leuten Angst, die Digitalisierung auch, die Verbindung von beidem erst recht. Aber wir haben keinen wirklichen Anlass, in Alarmismus und Kleinmut zu verfallen. Wir haben jeden Grund, mit Mut und Selbstbewusstsein in das nächste Jahr zu gehen.
Nun sagen manche, es sei vielleicht die bessere Idee, sich in solchen Zeiten darauf zu besinnen, es erstmal vor Ort richtig zu machen und vor der eigenen Haustür zu kehren.
Das ist ja richtig, dass wir vor Ort die Ärmel aufkrempeln müssen. Aber damit kann nicht gemeint sein, dass wir uns abschotten sollen. Das wäre völlig falsch. Natürlich darf es uns nicht unberührt lassen, wenn es in einigen europäischen Ländern einen bedenklichen Rechtsruck gibt und dort demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze über Bord geworfen werden. Aber wir sollten uns davon nicht beirren lassen. Ganz im Gegenteil. Wir sollten den Ehrgeiz haben, zu zeigen, dass man gleichzeitig erfolgreich sein kann und sozial und weltoffen.
Sprechen wir noch mal kurz über die Zukunft der SPD. Sie haben schon vor Monaten von Ihrer Partei gefordert, endlich Profil zu zeigen. Wie steht’s damit? Die SPD scheint viel Zeit zu haben. Gut Ding will Weile haben? Läuft es nach diesem Motto?
Da treffen Sie einen wunden Punkt. Ja, ich hätte mir sehr gewünscht, dass das zweite Halbjahr 2016 genau dafür genutzt wird. Das ist noch nicht geschehen. Ich hoffe darum jetzt umso mehr auf einen kraftvollen Start im Jahr 2017 – und zwar personell und programmatisch.
Im Januar steht auch die Klärung der Kanzlerfrage an. Da haben Sie gesagt, dass der Kandidat eigentlich egal ist, wenn nur das Programm passt.
Na ja, so habe ich das natürlich nicht ausgedrückt. Selbstverständlich ist es wichtig, wer die SPD in den Bundestagswahlkampf führt. Aber es geht mir schon auf die Nerven, dass immer so getan wird, als würde am Ende nur die Person des Spitzenkandidaten über den Wahlerfolg entscheiden. Natürlich ist es am besten, wenn Parteiprogramm und Person zusammenpassen. Wir müssen jetzt sehr schnell klar und präzise herausarbeiten, was unsere wichtigsten Themen und Vorhaben sind. Wir haben noch etwa neun Monate bis zu den Bundestagswahlen – das ist keine lange Zeit. Da müssen wir uns, da muss sich die SPD sputen.
Aus meiner Sicht ist ja die Union für eine Politik, wie ich sie mir von der SPD wünsche und wie ich sie mir für dieses Land wünsche, schlicht der falsche Partner. Wenn ich von einem Burka-Verbot höre, von einer insgesamt härteren Gangart in der Flüchtlingsfrage, dann sind das für mich die ganz falschen Signale an die falschen Leute. Oder glauben Sie, dass wir beispielsweise in Sachen Integration die richtigen Schritte mit der Union erleben werden?
Es stimmt, die bisherigen Erfahrungen mit der Union machen einem da nicht viel Mut. Ich finde es auch wirklich sträflich, dass dieselbe Union, die in wesentlichen Bereichen die politische Verantwortung für die Überforderung des Staates im Herbst 2015 trägt, jetzt ihr Heil in Burka-Verboten sucht, und nicht in erster Linie am Thema der Integration arbeitet. Und wenn es nach der SPD geht, dann können wir uns sicherlich auch andere Konstellationen als eine Große Koalition vorstellen.
An der SPD-Basis sehe ich momentan eher Resignation. Ich würde mir aber Haltung und Kampf wünschen nach den Jahren in der Großen Koalition. Davon ist noch nicht viel zu bemerken.
Der Eindruck täuscht. Aber Sie haben Recht, wenn Sie sagen, die Aufgabe der SPD bestehe darin, jetzt positive Perspektiven zu vermitteln. Es ist absehbar, dass CDU und CSU auf das Thema Angst setzen werden. Schnellere Rückführung, Burka-Verbot und so weiter. Alles mit dem Ziel, dass doch bitte verunsicherte Menschen einen sicheren Hafen ansteuern mögen. Und zur Not mischt man dafür bei der Verunsicherung noch weiter mit. Ich sehe im Gegensatz dazu für die SPD eine echte Chance darin aufzuzeigen, wie es noch besser werden kann als es derzeit ist. Und da gibt es viele Felder. Wenn man beispielsweise das Thema soziale Gerechtigkeit angeht, gibt es wirklich jede Menge zu tun. In den letzten 20 Jahren ist die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergegangen. Ich betrachte es als Aufgabe der SPD, da gegenzusteuern.
Ich würde mir auf Bundesebene ein klares Bekenntnis der SPD zu Rot-Rot-Grün wünschen. Warum kommt dieses Bekenntnis nicht?
Weil auch Rot-Rot-Grün beantworten müsste, was auch eine Große Koalition beantworten muss; was genau ist eigentlich die gemeinsame Aufgabenstellung, die gemeinsame Mission, die einen zusammenbringt, die gemeinsame Basis, von der aus man arbeitet. Das ist momentan nicht ganz so einfach zu beantworten, für Rot-Rot-Grün.
Aber liegt es nicht weitaus näher, mit den Grünen und Linken nach Gemeinsamkeiten Ausschau zu halten?
Im Zweifel ist es genauso mühselig, die Union zu einer fortschrittlichen Politik zu motivieren wie die Linke zu einer realistischen. Bei den Linken gibt es viele, die sich ganz wohl damit fühlen, immer Recht zu haben, nicht in der Verantwortung zu stehen und deshalb keine Kompromisse schließen zu müssen. Allerdings gibt es auch andere, die würden gerne lieber heute als morgen mitregieren.
Mit diesen anderen könnte man ja mal reden …
Ich finde, die SPD sollte sich nun zunächst darauf konzentrieren, für die eigene Arbeit und die eigenen Ideen einzutreten. Alles darüber hinaus ist nachrangig und es ist müßig, schon jetzt über mögliche Koalitionen zu reden.
Aber könnte man nicht mit so einer Koalitionsaussage vielleicht genau die Aufbruchstimmung erzeugen, die momentan noch fehlt. Indem man sagt, dass eine andere Konstellation als die Große Koalition durchaus möglich ist?
Nochmal: Es muss klar sein, was der gemeinsame Kern einer solchen Konstellation wäre. Ein Teil der Linken vertritt beispielsweise eine sehr europakritische Position, mit denen ich als Sozialdemokrat herzlich wenig anfangen kann. Und es gibt in der Partei nach wie vor eine sehr starke Fixierung auf die Themen Agenda und Hartz IV. Auch das hilft für die Zukunft nicht viel weiter. Also, Rot-Rot-Grün wäre keine wesentlich leichtere Übung als Rot-Schwarz.
Interview: Lars Kompa
Foto: Anke Wittkopp