El Kurdis Kolumne im April

Kunst-Epiphanien an der Zonengrenze

Nicht erst seit im letzten Herbst die komplette Findungskommission zurückgetreten ist, fragen sich viele Leute: Wird die nächste Documenta im Jahr 2027 – also Nummer „16“ – überhaupt noch stattfinden? Und noch dazu in Kassel? Während des antisemitischen Skandals der letzten Ausstellung äußerten ja nicht wenige Kunstbetriebler aus der Hauptstadt, es sei sowieso schon lange eine Zumutung, eine Weltkunstausstellung ausgerechnet an dieser nordhessischen Milchkanne zu veranstalten.

Oft stellten sie sogar eine Verbindung zwischen der Provinzialität des Ortes und den judenfeindlichen Entgleisungen her. Wobei die diesjährige Berlinale-Preisverleihung ja sehr unschön bewiesen hat, dass eine simplifizierende „Palästina-gut-und-antikolonial/Israel-böse-und-genozidal“-Propaganda auch auf einer Kulturveranstaltung in Berlin nicht nur widerspruchslos verbreitet werden kann, sondern vom Publikum auch noch begeistert beklatscht wird.

Und obwohl oder grade weil mir bewusst ist, dass sich die Ausstellungsmacher*innen, die Ausstellenden und die Besucher*innen der Documenta noch nie für Kassel als den Ort des Geschehens interessiert haben – hier ein zutiefst provinzielles Plädoyer eines Ex-Kasselers für die Fortführung diese Kunstereignisses genau dort: In der nordhessischen Taiga, in – wie die Frankfurter sagen – „Hessisch-Sibirien“.

Zunächst einmal: Kassel ist kein übler Ort. Man kann da leben, arbeiten, aufwachsen, ohne traumatisiert zu werden. 200.000 Einwohner, viel Grün, viele Nachkriegsbauten. Stünde da nicht auf einem Hügel über der Stadt dieser verstörende große nackte Mann mit einer Keule könnte man Kassel ganz gut mit Braunschweig vergleichen. Und auch wenn viele Hannoveraner*innen ein Leben in Braunschweig als ungefähr so lebenswert einschätzen wie Loriot ein Leben ohne kleine faule Sofa-Hunde („Ein Leben ohne Möpse ist zwar möglich, aber sinnlos“), kann ich aus eigener Erfahrung sagen: Selbstverständlich hat Hannover wesentlich mehr zu bieten als seine ostfälische Nachbarstadt – aber Braunschweig ist eben auch okay. So wie Kassel. Beide Städte, Kassel wie Braunschweig, lagen übrigens ziemlich nah an der DDR-Grenze. Im Zonenrandgebiet. Böse Zungen behaupten, dass man das heute noch merkt. Worauf will ich hinaus? Vielleicht hierauf: Kassel ist so mittel.

Als Jugendlicher will man aber mehr als „mittel“. Man will Aufregung, Abenteuer, Leidenschaft. Man will am eigenen Leib erfahren, was so alles geht. Und da kommt die Documenta ins Spiel: Für viele in Kassel Aufgewachsene gab es mindestens eine Documenta, die sie im Nachhinein als Erweckungserlebnis interpretieren.
Bei mir waren es mehrere. Als Kind und als Jugendlicher liebte ich alle drei Ausstellungen, die ich bei vollem Bewusstsein erlebt habe: 1977, 1982, 1987. In meiner Erinnerung begann bei jeder dieser „Documenten“ die sonst eher dösende Stadt plötzlich zu vibrieren. Und zu klingen. Es war geradezu metaphysisch: Kassel sprach in Zungen. 100 Tage lang. Und das nicht nur, wie sonst an den Nebenspielorten, in den randständigen Einwanderer-Vierteln wie dem, in dem ich aufwuchs. Auch in der guten Stube der Stadt wurde von einem Tag auf den anderen fremdgesprochen: In der Fußgängerzone, in den Cafés, in den Geschäften. Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch… Sogar Japanisch. Überall sah man Leute in absurd-exzentrischer Kleidung. In Zeiten, in denen niemand das Wort ‚non-binär‘ auch nur gedacht hatte, begegneten wir Menschen, die wir beim besten Willen keinem der uns bekannten Geschlechter zuordnen konnten. Wir fanden es super.
Überall fand Kultur statt. Im offiziellen Rahmenprogramm, aber oft auch spontan und überfallartig: Draußen, auf Plätzen, in Parks, in Kneipen. Und vor allem: in unseren Köpfen. Ich wünschte mir damals, dass Kassel immer so wäre. Oder mein Leben.

Und obwohl wir keinen Dunst von Kunst hatten, lernten wir, sie zu verteidigen. Wir stritten mit Eltern, Tanten, Lehrerinnen, und – wenn es sein musste – auch mit Passanten, die sich zum Beispiel über Outdoor-Skulpturen aufregten. Manchmal erklärten wir auch – anderen Passanten gegenüber – irgendeinen beliebigen Bauzaun zum Documenta-Kunstwerk, und waren ein bisschen enttäuscht, wenn das schulterzuckend hingenommen wurde.
Anders gesagt: Wenn man wirklich will, dass Kunst eine Wirkung auf viele unterschiedliche Menschen hat – und nicht nur auf die üblichen Verdächtigen, das museumsbesuchende Bildungsbürgertum –, dann sollte man eine solche Ausstellung in ihrem lebensverändernden Potenzial nicht an Berlin verschwenden.

● Hartmut El Kurdi


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