Ein letztes Wort im November

mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, wir treffen uns am 11. Oktober, wenige Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel …

Und es ist unfassbar, was dort geschehen ist. Fürchterliche Terrorangriffe, Grausamkeiten, die wirklich sprachlos machen. Mich hat das alles, wie viele andere, zutiefst erschüttert. Es ist völlig klar, dass wir in einer solchen Situation an der Seite Israels stehen. Und wir werden in Niedersachsen Sympathiebekundungen für den Terror der Hamas konsequent unterbinden. Israel hat das Recht, sich zu verteidigen. Das Ende des Terrors ist auch die Voraussetzung dafür, dass es für die Menschen in Gaza wieder zu einigermaßen erträglichen Lebensbedingungen kommt.

Es fällt schwer, so ein Thema in unserem Gespräch auszuklammern, aber wenn das November-Stadtkind in gut zwei Wochen erscheint, haben wir wahrscheinlich schon wieder eine ganz andere Situation in Israel. Wie es dort weitergeht, darüber könnten wir jetzt nur spekulieren. Darum zurück nach Deutschland und zu den aus SPD-Sicht sicher traurigen Wahlen in Hessen und Bayern. In Bayern waren es für die SPD noch 8,4 Prozent …

Ich war drei Tage unterwegs, um in beiden Ländern den Wahlkampf zu unterstützen, und ich muss ehrlich zugeben, dass mich die Ergebnisse dann nicht mehr überrascht haben. Die Stimmung war für die SPD in beiden Ländern spürbar schlecht. Aber was mir in Bayern besondere Sorgen macht, das ist einerseits eine starke AfD mit 14,6 Prozent und dazu die Freien Wähler mit 15,8 Prozent. Das sind zusammen über 30 Prozent! Und hinzu kommt noch eine CSU mit 37 Prozent, die unter diesen Bedingungen dann schon die Partei der Mitte ist. Und weniger als 30 Prozent für Liberale, SPD und Grüne – das beunruhigt mich sehr. Mich haben auch schon die Reaktionen auf die Affäre-Aiwanger erschrocken. Verfehlungen, die vor 35 Jahren geschehen sind, sind natürlich schon lange her, aber wenn so etwas passiert ist, dann muss man wenigstens anständig damit umgehen. Glaubt wirklich irgendjemand, dass Herr Aiwanger die Wahrheit gesagt hat? Und trotzdem fühlen sich viele von ihm nicht etwa hinters Licht geführt, sondern solidarisieren sich mit ihm. Was ist da los? Ich fürchte, dass in unserer Gesellschaft teilweise ein paar moralische Grundlagen verloren zu gehen drohen.

In Hessen waren es für die SPD 15,1 Prozent, weit hinter der CDU mit 34,6 Prozent und auch hinter der AfD mit 18,4 Prozent …

In Hessen müssen wir einfach einen großen Erfolg der CDU konstatieren. Und die SPD dort ist noch mehr als in Bayern in die Bundesdiskussion mit reingezogen worden. Die Stimmung der Ampel gegenüber ist wirklich nicht gut. Hinzu kommt, dass wir tatsächlich zu hohe Zuwanderungszahlen haben. Und die Bundesinnenministerin steckte als Spitzenkandidatin mitten in dieser Debatte. Das hat sicherlich eine Rolle gespielt.

Für die SPD waren die Wahlen ein Desaster.

Da ist so.

Würde es in Niedersachsen am kommenden Sonntag anders aussehen?

Die letzte Umfrage für Niedersachsen gab es im Juli, da war das Ergebnis für die SPD noch sehr passabel. Aber wir werden demnächst zum einjährigen Bestehen der Landesregierung sicher neue Umfragen bekommen. Mal sehen, wie die ausgehen. Niedersachsen ist keine Insel, aber wir sind in Niedersachsen – so mein Eindruck – auf einem wesentlich gefestigteren Boden unterwegs.

Wir sehen in Deutschland ganz eindeutig einen Rechtsruck. Und mich wundert das gar nicht. Denn was ich feststelle, ist, dass sich die demokratischen Parteien allesamt immer wieder vor den Karren der AfD spannen lassen. Die AfD setzt die Themen und treibt die anderen Parteien. Und plötzlich klingen im Sound alle fast gleich. Ich habe mir neulich mal einen Vergleich der europäischen Länder angesehen. Wie werden Flüchtlinge, Asylbewerber*innen, Migrant*innen bei uns behandelt, wie werden sie in anderen Ländern behandelt? Das Ergebnis: In vielen anderen Ländern geht man schäbig mit diesen Menschen um. Sie werden in erbärmlichen Behausungen untergebracht, sie werden schlecht behandelt, sie bekommen keine Unterstützung, keine Freundlichkeit. Nichts. Während wir in Deutschland uns bisher immerhin größte Mühe geben. Bei der Unterbringung, bei der Integration. Da ist sicher Luft nach oben, doch vergleichsweise verhalten wir uns bisher wirklich human, menschlich. Aber sind wir darauf stolz? Sehen wir das positiv? Nein, stattdessen gibt es inzwischen einen Wettbewerb, wie wir es den anderen Ländern nachmachen können, wie auch wir es diesen Menschen, die zum Teil zutiefst traumatisiert sind, möglichst noch schwerer machen können. Das kann es doch nicht sein. Kleine, längere Ansprache, Entschuldigung.

Zum Teil haben sie recht. Wir müssen aber – egal was die AfD sagt – auch einfach feststellen, dass wir in vielen Städten und Gemeinden riesige Probleme mit der Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten haben. Wir sind kaum noch in der Lage, grundlegende Integrationsleistungen so zu erbringen, wie wir das für notwendig erachten. Die Situation ist schwieriger als 2015/16, weil der Sockel wesentlich höher ist. Schon im letzten Jahr waren wir deutschlandweit bereits bei etwa 250.000 Menschen, bis Endes des Jahres werden wahrscheinlich noch einmal 300.000 dazukommen. Ganz zu schweigen von den Aufnahmen in den Vorjahren. Hinzu kommen in Niedersachsen noch etwa 130.000 Menschen aus der Ukraine, die bei uns Zuflucht gefunden haben. Die allwöchentlich große Zahl neuer Geflüchteter macht insbesondere den Kommunen große Sorgen. Es hat leider schon einen Grund, wenn die allgemeine Verunsicherung wächst. Und beim Thema Migration wird dann verständlicherweise die Frage gestellt, warum wir acht Jahre nach dem Herbst 2015 noch keine kontrollierte Migration haben. Wir brauchen keine Politik der Schikane, aber wir brauchen eine Kombination aus europäischen und nationalen Maßnahmen, um Menschen ohne Bleibeperspektive zügig zurückschicken und denjenigen, die vor Krieg, Verfolgung und Vertreibung fliehen, effektiv Schutz gewähren zu können.

Und dann kommt Friedrich Merz und spricht davon, dass sich die Leute hier die Zähne machen lassen. Der Chef der Partei mit dem „C“ im Namen. Das ist doch AfD pur und hat mit der Suche nach Lösungen rein gar nichts zu tun.

Das war unterirdisch, da gebe ich Ihnen Recht. Und ja, das war AfD-Sprech, das hilft auch der CDU nicht. Wir müssen die echten Probleme klar benennen und gute Lösungen finden. Der Sound verantwortungsbewusster Politikerinnen und Politiker muss ein anderer sein. Wenn wir Handlungsfähigkeit beweisen, werden wir auch Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen.

Mir fehlt dazu trotzdem eine Art Perspektivwechsel. Wir werden unsere Gesellschaft nicht zusammenhalten, wenn wir Neiddebatten führen, Angst verbreiten, Missgunst sähen, sondern wenn wir uns daran erinnern, dass wir solidarisch und human sein sollten, dass wir über Menschen sprechen, und dass wir nach wie vor ein starker Staat sind, der sehr viel leisten kann. Diese Ansprache fehlt mir momentan.

Aber neben schönen Ansprachen wollen die Menschen auch Taten sehen. Machen wir uns nichts vor, wir brauchen jetzt kontrollierte Verfahren und spürbare Verbesserungen in Europa und in Deutschland. Klar ist, dass wir das Grundrecht auf Asyl schützen und bewahren wollen. Und wir wollen unsere humanitären Verpflichtungen erfüllen. Auch deshalb müssen Menschen, die kein Schutzrecht haben, unser Land wieder verlassen. Geflüchtete aus Nordafrika haben beispielsweise eine Anerkennungsquote von unter einem Prozent. Wir können nicht alle Menschen bei uns aufzunehmen, die sich das wünschen, auch wenn viele Motive nachvollziehbar sind. Ich tue mich schwer mit der Vorstellung, dass Europa sich an seinen Grenzen abriegelt, aber ich halte das inzwischen für notwendig. Und es ist wohl leider auch notwendig, bereits an den Außengrenzen der EU über die Bleibeperspektive zu entscheiden. Und für Deutschland ist es besonders wichtig, dass wir eine gleichmäßige Verteilung über ganz Europa hinbekommen. Das alles ist noch ein dickes Brett, aber zumindest bin ich inzwischen zuversichtlich, dass wir zum ersten Mal zu einer europäischen Asylpolitik kommen. Das wäre ein ganz wichtiger Schritt.

Interview: Lars Kompa


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