Der Freundeskreis im Gespräch im November

Diesen Monat haben wir uns mit Oliver Macarenhas (OM) und Leonid Bialski (LB) getroffen. Beide sind Mitglied im Freundeskreis Hannover e.V. In unserem Gespräch ging es um die verschiedenen Funktionen von Musik und darum, was sie in der Gesellschaft bewirken kann.

Fangen wir mit einer Vorstellung an: Wer seid ihr? Was macht ihr?
OM – Mein Name ist Oliver Mascarenhas, bin 49 Jahre alt und seit 26 Jahren Cellist in der NDR Radiophilharmonie Hannover. Ich bin alleinerziehender Familienvater zweier wunderbarer Kinder und auch über das Orchester hinaus musikalisch aktiv.

LB – Ich heiße Leonid Bialski und wurde 1955 in der Ukraine geboren. Im Jahr 1990 kam ich nach Deutschland, 1992 nach Hannover. In meiner Heimat habe ich Violine als Orchestermusiker und Musikpädagoge studiert. Derzeit beschäftige ich mich am meisten mit Organisation von Projekten, wobei ich sehr gerne den Schwerpunkt in der Förderung talentierter Nachwuchs setze.

Wann habt ihr geahnt, wo es einmal hingehen soll? Wann hat sich dieses Verlangen, sich mit Musik zu beschäftigen, erstmals gezeigt?
OM – Ich bin bereits mit 4 Jahren von meinem Vater an das Violoncello herangeführt worden. Mein Vater ist selber Cellist, stammt aus Goa in Indien. Er ist durch ein DAAD-Stipendium nach Deutschland gekommen, hat in Essen studiert, meine Mutter in derselben Celloklasse kennengelernt. Auf Wunsch meines Vaters sollte ich auch das Cello erlernen. Es sei noch ergänzt, dass mein Opa aus Indien auch ein Cellist gewesen ist und für die Maharadschas gespielt hat. Wir sind wenn man so will eine Cellist:Innen-Dynastie.

Wenn du „sollte“ sagst, klingt das so ein bisschen nach Zwang …
OM – Es war erstmal ein Vorschlag meines Vaters und ich hatte anscheinend Talent. Das hat er natürlich gefördert – aber später wurde es über weite Strecken zwingend. Letztendlich war ich mit 14 Jahren so weit, dass ich keine Lust mehr auf das Cello hatte und etwas anderes machen wollte. Durch „Jugend musiziert“ kam ich zu einem anderen Lehrer, der die Lust am Cello wieder in mir entfacht hat. Jürgen Wolf aus Düsseldorf, Solo-Cellist der Düsseldorfer Rheinoper hatte das Talent, mit einer sehr bildhaften Sprache und viel Humor zu unterrichten.

LB – Bei mir war das doch etwas anders: Im Gegenteil zu Oliver hatte ich keine Musiker in meinem direkten Umfeld. Die Einzige, die wirklich musikalisch war, war meine Oma. Sie sang sehr gern beim Nähen und beim Kochen. Als meine sieben Jahre ältere Schwester angefangen hat private Klavierstunden zu nehmen, habe ich mich immer versteckt und konnte stundenlang lauschen. Damit habe ich den Anstoß bekommen, erstmal Klavier zu lernen. Irgendwann meinte meine Klavierlehrerin ich hätte Gehör, und zwar absolutes Gehör und gehöre damit zum Geigenspielen. So war mein Weg …

Du bist auch im Tolstoi e.V. aktiv …
LB – Ich bin seit der Gründung Mitglied im Tolstoi Hilfs- und Kulturwerk – und bin dort als Projektleiter für größere Musikprojekte zuständig, die wir initiieren, durchführen und realisieren. Manchmal mache ich das allein, manchmal in Kooperation mit anderen Institutionen und Organisationen.

Es gab ja 2022 anlässlich des Ukraine-Krieges ein Benefiz-Konzert vom Tolstoi Hilfs- und Kulturwerk e.V.
LB – Dieses Konzert wurde eigentlich von den Sängerinnen und Sängern der Staatsoper in Hannover initiiert – und von Tolstoi e.V. unterstützt. Da war ich nicht direkt mit involviert. Das heißt: Ich war als Zuhörer da und habe sehr laut applaudiert…

Aber vielleicht sprechen wir einmal über Musik als vermittelndes, verbindendes Medium. Was kann denn Musik eigentlich in der Gesellschaft erreichen?
OM – Musik ist sehr verbindend. Das kann ich konkret an absolvierten Projekten verdeutlichen: Ich habe 2006 einmal ein größeres Benefizkonzert in der Lister Matthäus Kirche veranstaltet – anlässlich des 60-jährigen Jubiläums von UNICEF. Man hat an diesem Abend gemerkt, dass Musik so universell und verbindend ist und immer einem guten Zweck dienen kann. Ich hatte damals die Chance, den damaligen Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg als Schirmherrn, ein Gesangsensemble der HMTMH, den Mädchenchor Hannover sowie ein Jugend Ensemble (Percussion Crew Ostkreis), das damals eine unglaubliche Stimmung gezaubert hat für die Veranstaltung zu gewinnen. Ich bin der Meinung, wir müssen solche unterstützenden Projekte immer wieder organisieren. Es ist total wichtig, dass Aufmerksamkeit  aufgebaut wird, um bestenfalls Spenden für einen guten Zweck zu generieren. Es gibt ein weiteres Projekt, das ich damals zu Corona-Zeiten mit einem sehr guten Freund (Julian Scarcella) aus Fischbeck Nähe Hameln initiiert habe: „ClimateCrisis? Stop and Listen!“ Das kann man im Netz heute noch anschauen. Es handelte sich um einen Klima-Chat mit Kompositionen, die nach Aussagen prominenter Menschen entstanden sind, die sich gegen die Klimaerwärmung ausgesprochen haben, z. B. Papst Franziskus. Da haben wir dann entsprechend zu diesen Sätzen oder Aussagen Musik komponiert und diese in einem Klima-Livestream präsentiert. Ich erkenne, wenn ich nach 26 Jahren zurückblicke, dass es gerade in Hannover eine unglaubliche Initiative gibt – nicht nur von den Institutionen, sondern auch besonders von der freien Musikszene.

LB – Von zwei Projekten möchte ich kurz erzählen: Ein Projekt entstand ca. 2001 aus meiner Idee in Zusammenarbeit mit dem bekannten russischen Klavierprofessor Wladimir Krainew, der viele Jahre an der Musikhochschule Hannover gelehrt hatte. Zusammen mit dem Tolstoi e.V. haben wir überlegt, dass wir junge Musiktalente aus Russland nach Deutschland holen und sie anschließend auf ihren musikalischen Wegen begleiten. Manche dieser Nachwuchstalente wurden später weltberühmt, wie der Starpianist Daniil Trifonov. Das zweite Projekt haben wir nach dem Beginn des Ukraine-Krieges initiiert, mit dem Weltklasse-Jazzhornisten Arkady Shilkloper, der ursprünglich aus Moskau kommt, und mit dem ausgezeichneten Jazz-Pianisten Vitaliy Kyianytsia, der aus Kiew kommt. Die beiden Ausnahme-Musiker haben sich zum ersten Mal in Berlin – ihrer zweiten Heimatstätte – getroffen und ein Konzertprogramm zusammen kreiert, das unter dem Titel „Jazz-Dialog für den Frieden“ im November 2022 im Lister Turm vom Tolstoi e.V. präsentiert wurde.

In euren Beispielen scheint es mir vier wichtige Punkte zu geben… Da war zunächst das Generieren von Aufmerksamkeit für ein Thema, dann das Spenden, darüber hinaus noch die über Textelemente vermittelte Botschaft … und schließlich ein interkultureller Aspekt. Bei Spenden hat man ja einen messbaren Effekt. Wie schätzt ihr solche Effekte von Musik in den anderen Bereichen ein? Vermutet ihr, dass sich durch die generierte Aufmerksamkeit sehr viel tut – oder ist die spätestens am nächsten Tag gleich wieder futsch?
OM – Ich würde noch die Jugendförderung erwähnen wollen, die ist immens wichtig. Es kommt aber darauf an, wie eine Veranstaltung angelegt ist. Wenn es nur ein einzelnes Konzert ist, kann es am nächsten Tag in Vergessenheit geraten. Wenn es mehrere Konzerte sind oder eine Reihe von Aufritten z. B. auf einem Festival, dann ist es gut möglich, dass es länger im Bewusstsein bleibt. Wenn ich selber als Zuhörer in ein Benefz-Konzert gehe und es eine tolle Darbietung mit wunderbaren Musiker*innen und Künstler*innen ist, die mich fesselt und begeistert, dann bin ich selbstverständlich immer bereit, mehr Geld zu geben. Das hängt aber an vielen organisatorischen Faktoren. Wie viele Möglichkeiten bekommt man, ein Konzert bekannt zu machen? Oft muss man selber für Publikum sorgen. Man muss selber die PR-Maschinerie mobilisieren, Kontakt zu Online, Zeitungen, Radio, gegebenenfalls Regionalfernsehen aufbauen. Das ist ein unglaublicher Aufwand im Vorfeld. Aber Beharrlichkeit siegt. Man bemüht sich nach Kräften ein größeres Publikum anzusprechen. Je nach Aktualität des Themas wird das natürlich entsprechend auch veröffentlicht.

Bei dir fiel gerade der Anspruch an die Aktualität der Konzerte. Wie sehr wird die Aktualität zwingend vorausgesetzt? Kann man ein Konzert bewerkstelligen, das vielleicht gar keine Aktualität, keinerlei Gegenwartsbezug hat? Fällt das dann schwerer?
OM – Ja, dem würde ich zustimmen. Natürlich muss es nicht immer eine zwingende Aktualität haben. Wir haben so viele Probleme in der Welt, ein unglaubliches Durcheinander, dass man im Prinzip selber manchmal überhaupt nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht. Wir bleiben beim Thema Musik und das ist letztendlich die Qualität, die wir geben, die wir vermitteln können und die wir auch zu Gehör bringen wollen. Mein musikalisches Leben hat sich in den letzten Jahren etwas verlagert. Meine beiden Kinder motivieren mich zunehmend, wieder mehr Jugendförderung zu betreiben. Ich habe jüngst für die Klasse meiner Tochter einen kleinen Opernbesuch mitorganisiert. Die Oper macht ganz wunderbare Jugend- und Kinderprojekte in diesem „Exchange-Programm“. In dem Rahmen wurde ein Kinderkonzert in der Oper veranstaltet – mit einem Maler, der zeitgleich zu der wunderbaren Musik ein wunderschönes Bild an eine riesige Leinwand gemalt hat. Das war für die Kinder einfach grandios. Thema Begeisterung: Das ist ein grundlegendes Thema. Wenn man in der Lage ist, etwas begeistert zu vermitteln, dann merkt es auch das Publikum – Klein wie Groß.

Wie blickst du auf die Effekte von Musik?
LB – Für uns ist Nachhaltigkeit sehr wichtig, das heißt: Folgeprojekte mit gleichen Teilnehmer*innen unter bestimmten Themenansichten, sodass wir quasi das Werk rollen lassen. Zum Beispiel haben wir so ein Projekt mit Arkady Shilkloper: In Folge dieser ersten Zusammenkunft mit einem ukrainischen Musiker ist eine Initiative entstanden, sodass Arkady im nächsten April eine Reihe von Workshops und anschließenden Konzerten mit und für ukrainische Jazzmusiker machen wird, die, begründet durch diese Kriegssituation, jetzt in Hannover leben. Und natürlich träumen wir davon, die Besten bei dem Enecity Swinging Hannover präsentieren zu können! Darin sehen wir eine absolut direkte Nachhaltigkeit. So machen wir das auch bei anderen Projekten. Im Moment arbeiten wir an einem Projekt mit jungen Streicherinnen und Streichern aus Dänemark und Deutschland. Ein preisgekröntes Jugendstreichorchester aus Kopenhagen soll im Februar 2024 nach Hannover kommen, hier mit jungen Ausnahmetalenten ein gemeinsames Programm zusammenstellen und dieses bei zwei Konzerten präsentieren: ein Konzert in Hannover am 11. Februar und ein Konzert in Celle. Dabei sind Anfänger und absolute Virtuosen, die schon vieles erreicht haben, die bei internationalen Wettbewerben Preise abgeräumt haben, bei renommierten Festivals gastieren und mit etablierten Orchestern spielen. Und das ist natürlich das Faszinierende: Das begeistert und motiviert zum Erreichen von weiteren Zielen.

Wenn über die Musik unterschiedliche Generationen oder Nationalitäten zusammengebracht werden, dann würde ich sagen, dass das vielleicht den recht progressiven Effekt hat, dass der Horizont ein bisschen erweitert wird. Ließe sich Musik nicht aber auch missbrauchen? Es gibt ja europaweit so einen Rechtsruck …
OM – Ich möchte jetzt nicht die verschiedenen musikalischen Stilistiken bestimmten politischen Gesinnungen zuordnen, nach dem Motto „Heavy Metal nutzen rechtsorienterte Menschen zur gegenseitigen Erbauung und klassische Musik ist nur reichen Menschen vorbehalten“. Da hat sich einiges getan in den letzten Jahrzehnten. Ich glaube, Musik ist immer sehr universell und verbindend gewesen und wird es auch weiterhin bleiben. Musik ist lokal, national und international zugleich. Ich denke, man kann nicht einen Rachmaninoff oder einen Tschaikowsky verbieten, weil Krieg in der Ukraine herrscht. Diese Komponisten sprechen Alt und Jung gleichermaßen an. Genauso wie Jazz oder auch Heavy Metal. Musik sollte absolut sein und nicht politisiert werden. Man sollte hin- und wieder den Kontext analysieren, inwieweit welcher Künstler, welcher Komponist, welche Musik bei welchem Anlass gebraucht – oder vielleicht eben auch missbraucht – hat.

LB – Das kann ich nur unterstützen. Der Herr Tschaikowsky konnte nichts dafür, dass Herr Putin jetzt so einen furchtbaren Krieg führt. Übrigens war Tschaikowskys Vater ein Ukrainer, was viele nicht wissen. Ich finde, das ist absoluter Nonsens und ein No-Go, dass man das verbietet. Zugleich ist es mir auch eher unsympathisch, wenn man ganz im Gegenteil etwa zeitlich befristete Akzente setzen will und bestimmte Gruppen für eine Zeitlang in den Vordergrund rückt. Da frage ich mich, was passiert danach? Warum muss man in einem Monat so einen Akzent setzen – und in den anderen nicht? Und ich bin auch kein Freund von Quotenregelungen. Also für mich persönlich sind alle Menschen gleichwertig, unabhängig von Hautfarbe, von Religion, vom Bildungsstand… Und so finde ich, schöne Musik – ob Rock, Jazz oder Klassik, egal von wem – muss gehört und muss vermittelt werden.
OM – Was mir aber tatsächlich ein bisschen Angst macht, ist doch diese Instrumentalisierung. Denn man kann eigentlich alles, wenn man will und es darauf anlegt, instrumentalisieren. Und auch das, was als gut und schön angesehen wird, kann man instrumentalisieren.

Sicherlich birgt das Verbindende von Musik auch Gefahrene. Es gibt ja den Spruch: „Wo man singt, da lass Dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.“ Aber das ist ja unsinnig – und im Nationalsozialismus wurde auch gesungen …
OM – Beispiel Schlager: Man hört ihn gerne, aber wie schnell er missbraucht werden kann, das ist bedenklich.

CK/LD


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