Ein letztes Wort
… mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil
Herr Weil, heute sprechen wir für die Mai-Ausgabe. Was machen Sie am 1. Mai?
Ich bin auf einer DGB-Veranstaltung.
Es ist der Tag der Arbeit. Vielleicht erläutern Sie mir mal kurz, warum dieser Feiertag noch zeitgemäß und vielleicht auch wichtig ist.
Wir leben unverändert in einer Arbeitsgesellschaft. Die meisten Menschen in Deutschland und auch weltweit sind abhängig Beschäftigte. Und Menschen in abhängiger Beschäftigung müssen sich zusammentun, um ihre Rechte durchzusetzen. Das klappt in Deutschland noch relativ gut, aber auch bei uns geht die Tarifbindung immer weiter zurück. In anderen Ländern gibt es allerdings noch sehr viel mehr zu tun für die Arbeitnehmerrechte als bei uns. Der internationale Tag der Arbeit ist also wichtig, um uns daran zu erinnern, was bereits erreicht wurde und was noch erreicht werden muss. Ich finde diesen Tag aber noch aus einem anderen Grund wichtig. Ich glaube, dass Arbeit ein ganz entscheidender Faktor für ein glückliches Leben ist. Davon bin ich fest überzeugt. Wer einer Arbeit nachgeht, die zufrieden macht und unter guten Bedingungen stattfindet, hat ein vergleichsweise besseres Leben, als jemand der keine Arbeit hat oder eine unbefriedigende Arbeit, die dennoch kaum zum Leben reicht. Der Tag der Arbeit ist für mich also auch wichtig, um uns an den Wert von guter Arbeit zu erinnern.
Am 1. Mai ist immer viel von Solidarität die Rede. Den Begriff können Sie mir als aufrechter Sozialdemokrat bestimmt wunderbar erklären …
(Lacht) Man hält zusammen, man steht zusammen, man unterstützt sich gegenseitig, man braucht sich gegenseitig. Übrigens ebenfalls eine unabdingbare Voraussetzung für ein zufriedenes Leben. Ich habe diesen Gedanken, dass jeder und jede sich selbst der und die Nächste sein sollte, noch nie so richtig verstanden. Nach dem Motto: wenn alle an sich denken, ist an alle gedacht. Für unsere Gesellschaft ist das kein guter Weg. Gleichwohl scheint es bei uns einen Trend in diese Richtung zu geben. Und das sollten wir im Auge behalten. Es kann einem nur gutgehen, wenn es den anderen auch gut geht.
Solidarität als Kitt für eine gut funktionierende Gesellschaft?
Unbedingt! Gemeinschaft ist wichtig. Und auf die Gefahr hin, dass ich hier Phrasen dresche: Geld allein macht tatsächlich nicht glücklich. Was uns wirklich glücklich macht, das sind Freundschaften, Beziehungen, Austausch, Zusammenarbeit und Begegnungen. Und dies auch bei der Arbeit. Darum bin ich beim Thema Homeoffice vorsichtig. Natürlich erhöht mobiles Arbeiten die Flexibilität der Beschäftigten und kann Vorteile für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bringen. Aber für das kollegiale Miteinander und den inhaltlichen Austausch ist die gemeinsame Arbeit an einem gemeinsamen Arbeitsort unverzichtbar.
Den Begriff der Work-Life-Balance sehe ich deswegen durchaus kritisch. Im Grunde wird durch diese Unterscheidung zwischen Arbeit und Leben signalisiert, dass ein größerer Teil der Lebenszeit offenbar nicht als Teil des Lebens empfunden wird. Das kann doch nicht unser Ernst sein! Ich habe zum Glück immer Arbeit gehabt, die ich als Teil meines Lebens empfunden habe und die für mich auch eine Erfüllung war. Und ich denke, dass es eigentlich darum gehen sollte, so eine Aufgabe zu suchen und zu finden. Im Trend scheint derzeit eher der Wunsch zu sein, möglichst wenig in diesem System eingebunden zu sein und möglichst viel Zeit zur freien Verfügung zu haben. Ich bin nicht überzeugt, dass das alle Menschen gleichermaßen glücklich macht. Und ich fürchte, so funktioniert es unterm Strich auch insgesamt nicht mit unserer Wirtschaft.
Die Forderung nach einem starken Sozialstaat und einer leistungsfähigen öffentlichen Daseinsvorsorge unterschreiben Sie trotzdem ohne Wenn und Aber, richtig?
Ja, natürlich. Es gibt diesen alten Satz aus der Geschichte der Arbeiterbewegung: Nur die Starken können sich einen schwachen Staat leisten. Natürlich kann ein Millionär für fast alle Risiken vorsorgen. Mit einem kleinen, überschaubaren Einkommen kann man das definitiv nicht. Ich halte es für eine große Qualität, dass unser Sozialstaat für so etwas Vorsorge trägt.
In den vergangenen Wochen wurde in Deutschland ja viel über die diversen Streiks diskutiert. Die Gewerkschaften sahen sich der Kritik ausgesetzt, die Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen und Deutschland lahmzulegen. Was sagen Sie diesen kritischen Stimmen?
Streiks sind selbstverständlich absolut notwendig, wenn man im Konfliktfall Einfluss auf Arbeitsbedingungen nehmen will. Schon wieder so ein alter, wahrer Satz: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Da sind wir wieder bei der Solidarität. Typischerweise sind ja die Kräfteverhältnisse so, dass der Arbeitgeber, meist ein Unternehmen, eine größere Macht hat als der oder die einzelne Beschäftigte. Das ändert sich nur durch den Schulterschluss. Ein wirklich historisches Erfolgsrezept.
Ganz davon abgesehen gibt es in Deutschland vergleichsweise wenig Streiks, gerade im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, wie z. B. Frankreich. Das liegt insbesondere auch an der in Deutschland etablierten und erfolgreichen Sozialpartnerschaft. Es gibt natürlich Konflikte zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, aber diese werden meist sehr dialogorientiert gelöst. Ich verstehe natürlich trotzdem, dass für Eltern der Streik in Kitas ein echtes Problem ist, aber ich würde daraus trotzdem nicht die Schlussfolgerung ziehen wollen, dass man über die Berechtigung von Streiks nachdenken sollte. Das würde ich für komplett falsch halten.
Kritische Stimmen zu den Streiks gab es im Bund auch vom Ampelpartner FDP.
Streik ist in Deutschland ein Grundrecht und im Grundgesetz verankert – und dies zurecht. Die Tarifverhandlungen sind Sache der Sozialpartner. Tariferhöhungen einzufordern, gerade vor dem Hintergrund einer hohen Inflation, ist die Aufgabe der Gewerkschaften. Und dies im Zweifel eben auch mit dem legitimen Instrument des Streiks. Würden sie sich anders verhalten, würden sie ihren Job verfehlen.
Wie sieht es denn bei den Gewerkschaften aus, was die Mitgliedszahlen angeht? Das war ja die vergangenen Jahre eher rückläufig …
Das ist bei den einzelnen Gewerkschaften sehr unterschiedlich. Gerade im öffentlichen Dienst und auch im Industriesektor führen Tarifkonflikte aber nicht selten zu einem Mitgliederzuwachs. Hier sind wir auch wieder beim Thema Solidarität. Die Beschäftigten haben in der Vergangenheit im Zweifel immer mehr erreicht, wenn sie sich in Gewerkschaften zusammengetan habe.
Ein massives Problem ist die Tarifflucht, oder?
Ja, das sehe ich mit großer Sorge. Die Zahl der Arbeitsplätze, die tarifgebunden sind, geht stetig zurück. Immer mehr Unternehmen verabschieden sich – in Niedersachsen sind es nur noch knapp über 50 Prozent und damit sind wir in Deutschland sogar über dem Durchschnitt. Wozu das führen kann, das sehen wir beispielsweise in der Altenpflege. Da haben wir traditionell einen ganz schlechten Organisationsgrad. Und es verwundert darum nicht, wenn Arbeitsbedingungen dort problematisch ausfallen. Fest steht, dass sich die Menschen eher keinen Gefallen tun, wenn sie einen Bogen um die Gewerkschaften machen.
Bei den großen, internationalen Unternehmen, die auch in Deutschland Standorte haben, gibt es die Tendenz, die Rechte der Arbeitnehmer*innen nicht ganz so sehr in den Fokus zu stellen, um es mal charmant auszudrücken. Betriebsräte haben es in solchen Unternehmen schwer. Sie waren neulich nicht bei Amazon zu Besuch …
Amazon hatte den Termin kurzfristig ohne Presseöffentlichkeit und Beteiligung des Betriebsrats geplant. Daraufhin habe ich meinen Besuch abgesagt. Es gibt mittlerweile aber eine erneute Einladung von Amazon, der ich demnächst gerne folge, um dann vor Ort unter anderem auch über die Situation der Betriebsräte zu sprechen.
Es gibt bei vielen, gerade auch bei sehr großen Unternehmen diesen Geist, dass Betriebsräte nur stören. Und dann wird ziemlich massiv dagegen gearbeitet.
Ja, das sogenannte Union Busting. Das ist ein Problem. Wir hatten in Deutschland mal eine Tarifbindung von über 70 Prozent. Dabei sind starke Gewerkschaften und Betriebsräte nicht allein ein Vorteil für die Mitglieder, sie sind auch insgesamt für die Gesellschaft sinnvoll, zumindest wenn es mit der Sozialpartnerschaft so läuft wie in Deutschland. Gerade in den Krisen haben auch die Unternehmen nämlich festgestellt, dass die Gewerkschaften eine große Hilfe waren. Beispielsweise während der Weltfinanzkrise 2008/2009. Damals haben die Gewerkschaften alles dafür getan, dass sowohl die Beschäftigten als auch die Betriebe gut durch die Krise kommen. Denn es gibt ja auch ein übergeordnetes gemeinsames Interesse: sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer möchten, dass es dem jeweiligen Unternehmen gut geht.
Interview: Lars Kompa