Editorial 2023-04

Liebe Leserinnen und Leser,

mir ist bei der Lektüre der Leser*innenbriefe zu meinem Standpunkt über Waffenlieferungen in die Ukraine ein Gedanke immer wieder durch den Kopf gegangen: Wäre es wohl möglich, sich mit den ganz harten Kritiker*innen zusammenzusetzen und miteinander faktenbasiert und ergebnisoffen zu diskutieren? Ich befürchte fast, das würde nicht funktionieren. Denn in den Briefen steckt derart viel Unterstellung und Interpretation, dass allein das Ausräumen von Irrtümern, was meine Person angeht, wahrscheinlich schon eine Woche dauern würde. Nur kurz und grundsätzlich, ich bin nicht Mitglied irgendeiner Partei, das Stadtkind wird auch nicht von irgendeiner Partei finanziert, niemand diktiert mir meine Texte oder macht mir irgendwelche Vorgaben, ich denke nicht, dass ich Nachhilfe zur jüngeren Geschichte der USA benötige, ich weiß sehr genau, wo auf der Welt diese Nation in der Vergangenheit großes Unheil angerichtet hat und teilweise noch dabei ist (was den Angriffskrieg Russlands aber nicht rechtfertigt und nicht besser macht, sorry). Ich kenne dazu ziemlich genau die Geschichte der NATO. Und ich kenne ziemlich genau die Geschichte Russlands vor Putin und während Putin bis heute. Ich sehe mich auch nicht als grünes und mit goldenem Löffel im Mund geborenes Bildungsbürgerarschloch, gefangen in meiner woken Bubble. Und ich freue mich darüber, dass Einige mich für jünger halten als ich bin, was in der Logik der mir Schreibenden meine geschichtlichen Wissensdefizite erklärt, denn man weiß ja, dass die Kinder heutzutage in der Schule gar nichts mehr lernen. Wobei, dass mit dem Alter könnte auch mit dem Foto hier unten zu tun haben, das zugegeben schon wieder ein paar Jahre auf dem Buckel hat.

Es ist schon wirklich erstaunlich, was Menschen über Menschen zu wissen glauben, ohne diese Menschen zu kennen. Wie auch immer, meine Grübelei über die Leser*innenbriefe hat mich dazu geführt, mir mal ein bisschen grundsätzlicher Gedanken über unsere Debattenkultur zu machen. Bringen uns unsere Debatten eigentlich weiter? Wie diskutieren wir miteinander? Wie kommen wir miteinander ins Gespräch? Ich muss zugeben, dass ich mich hin und wieder dabei erwische, wovor ich ab Seite 52 sehr entschieden warne, nämlich mich resigniert zu verabschieden aus den Diskussionen, mich herauszuhalten, mich nicht mehr zu interessieren. Mir passiert das in letzter Zeit leider häufiger. Weil ich manche Diskussionen derart unerträglich finde, dass ich mir das Elend einfach nicht antun kann und will. Da wird derart offensichtlich nicht über Lösungen debattiert, nicht über tatsächliche Probleme, da geht es lediglich einzig um das Profil der Diskutierenden und vielleicht noch um das Profil der Partei, in die man irgendwann hineingeraten ist. Volker Wissing hat jetzt die Verbrenner mit e-Fuels gerettet und Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht habe in Berlin eine Demo veranstaltet. Und jetzt? Habe ich zweimal ratlos den Kopf geschüttelt. Aber es hat ja funktioniert, Volker Wissing ist in den Umfragen beliebter als zuvor (warum auch immer) und Sahra Wagenknecht fühlt sich sogar so beliebt, dass sie darüber nachdenkt, Ende des Jahres eine eigene Partei zu gründen. Was war sonst noch?

Ich finde tatsächlich, dass wir uns manche Debatten besser sparen sollten. Um mehr Kapazitäten zu haben für wirklich wichtige Fragen und Diskussionen. Mir fällt da jede Menge ein. Wie verlangsamen wir den Klimawandel? Wie schützen wie unsere Demokratie? Wie ziehen wir dem Kapitalismus die Zähne? Aber vielleicht debattieren wir auch zu viel. Vielleicht haben wir gar kein Debattendefizit, sondern ein Vollzugsdefizit. Ich finde, dass wir tatsächlich an viele Diskussionen mittlerweile einen Haken machen und allmählich mal loslegen sollten. Was passieren muss, ist doch allen einigermaßen klar, außer vielleicht Volker Wissing.

Nicht zuletzt noch kurz zu einem Thema, das nicht nur mich momentan sehr beschäftigt. Ich bin in den vergangenen Wochen mehrmals gefragt worden, wie sehr ich mich über ChatGPT freue, weil ich damit doch jetzt einen Großteil meiner Kosten einsparen könnte. Redakteur*innen seien ja nun nicht mehr nötig und auch ich selbst könnte ein bisschen kürzertreten. Ich finde diesen Gedanken seltsam. Ich will gar nicht kürzertreten, die Schreiberei macht mir Spaß. Und mir macht es außerdem Spaß, Texte von anderen zu lesen, von anderen aus Fleisch und Blut, mit Namen und Persönlichkeit und Fehlern. Und darum wird ChatGPT und auch sonst keine KI bei mir auf absehbare Zeit einen Job bekommen. Wir machen das schön weiter mit unseren eigenen Gehirnen und in Handarbeit. Und falls irgendwann ein Stadtmagazin auftaucht, dass mit viel klügeren und witzigeren KI-Texten punktet, und das Stadtkind damit ausgedient hat, sage ich hier schon mal vorab: Ich sitze dann wahrscheinlich am Kröpcke, so lange Martin Prenzler mich lässt, und spiele Gitarre und bin dankbar für jede Münze im Hut.

Viel Freude mit dieser Ausgabe wünscht
Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind

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