Liebe Leserinnen und Leser,
und noch einmal, nach der Ausgabe Dezember, in der ich mir ein paar Sorgen gemacht und über meine Ängste geschrieben habe, ein weiterer kleiner, persönlicher Zwischenruf. „Bruchlinien“, so habe ich den Text auf den Seiten 54 und 55 in dieser Ausgabe überschrieben. Und ich ahne schon, dass ich es mir mit diesem Text vielleicht mit ein paar guten, alten Freunden verderbe, von denen ich weiß, dass sie sehr vehement ganz anderer Meinung sind. Denn ich habe in meinen „Bruchlinien“ unter anderem einen ganz klaren Standpunkt bei der Frage zur Unterstützung der Ukraine: Alles, was geht, beziehungsweise rollt!
Ich habe bereits vor einigen Monaten den von Alice Schwarzer initiierten Offenen Brief an Olaf Scholz gegen die Lieferung von schweren Waffen nicht nur nicht verstanden, mich hat im Nachgang dazu erschrocken, wer dort alles mitunterzeichnet hat. Ich habe im Nachgang die Erklärungen von Richard David Precht gehört und bin noch heute überzeugt, dass nie ein Philosoph mehr geirrt hat. Okay, ich übertreibe. Die Philosophie hat eine große Geschichte der Irrungen und Wirrungen. Was gut ist, denn das schafft Erkenntnis.
Inzwischen gab es ein paar Erkenntnisse, und auch Richard David Precht musste zähneknirschend zugeben, dass er damals ein bisschen danebengelegen hat. Die Ukrainer haben sich gewehrt und sie sind immer noch da, was ohne die gelieferten Waffen äußerst fraglich wäre. Sie haben sich verteidigt, während Russland bis heute Kriegsverbrechen an Kriegsverbrechen reiht. Ich sehe kein einziges Argument, nach wie vor nicht, das diesen russischen Angriff rechtfertigen könnte. Alles, was da so kursiert, ist aus meiner Sicht auf Deutsch gesagt dummes Zeug. Man hat sich bedroht gefühlt von der NATO? Ernsthaft? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Bevölkerungen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien usw. einen Angriffskrieg der NATO gegen Russland mit wehenden Fahnen begleitet hätten? Genau! Null. Und dann diese Geschichte mit den Nazis in der Ukraine. Ich sehe dort vor allem Menschen, denen das blanke Entsetzen in den Gesichtern steht. Putin hat diesen Krieg lange vorbereitet. Und Teil dieser Vorbereitung war die gezielte Verbreitung diverser wirrer Erzählungen. Leider hat das vielfach funktioniert. Wer aber diese Erzählungen jetzt noch glaubt, angesichts der täglichen Gräueltaten durch die Russen in der Ukraine, dem ist entweder nicht zu helfen oder der möchte ahnungslos bleiben.
Ich habe meinen Zwischenruf in dieser Ausgabe vor allem wegen des Krieges in der Ukraine, beziehungsweise wegen der deutschen Haltung zu Waffenlieferungen geschrieben. Glaubt man den neusten Umfragen, lehnt eine Mehrheit die Lieferung schwerer Waffen inzwischen ab. Ich finde das ganz entsetzlich. Denn diese Ablehnung hat ja Gründe. Angst vor Eskalation, Angst davor, dass wir zur Kriegspartei werden könnten, Angst vor einer Verlängerung des Krieges, der Wunsch nach einem schnellen Ende, der Wunsch, dass möglichst bald wieder billiges Gas durch die Pipelines fließt, der Wunsch, dass möglichst schnell alles so wird wie früher. Ich finde diese Gründe zynisch, angesichts dessen, was in der Ukraine passiert.
Aber warum bezieht „der Westen“ nicht auch in anderen Kriegen Stellung, warum nur in der Ukraine? Diese Frage höre ich sehr oft. Manchmal auch mit diesem schönen „Ich-stelle-nur-Fragen-Unterton“. Die Frage ist absolut berechtigt. „Der Westen“ war in der Vergangenheit ziemlich oft ein äußerst fragwürdiger Verein und ist es stellenweise noch. Aber vielleicht erleben wir ja gerade einen Neuanfang. Eine Abkehr von der Verlogenheit, eine Abkehr davon, für gute Geschäfte beide Augen zuzudrücken. Okay, ich höre schon auf. Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen …
Geträumt habe ich zugegeben auch ein bisschen im Titeltext. Von einer Gesellschaft, die hoffentlich noch die Kurve kriegt. Ich habe nämlich die Befürchtung, dass wir bereits vor einer Weile ziemlich falsch abgebogen sind. Dass wir stellenweise unsere Mitmenschlichkeit vernachlässigt und vergessen haben, dass wir nicht mehr aufeinander achtgeben. Dass wir uns mehr und mehr im Egoismus verlieren. Dass wir nicht mehr als Gesellschaft funktionieren, sondern nur noch eine Versammlung von Ego-Shootern sind. Ich hoffe sehr, dass ich mich irre, aber die Haltung zur Unterstützung der Ukraine, die sich momentan in Deutschland mehr und mehr etabliert, lässt mich doch arg zweifeln. Ich habe vor einigen Ausgaben im Titelinterview „Über Armut“ mit Klaus Dieter Gleitze gesprochen, dem Geschäftsführer der Landesarmutskonferenz, und er hat mir erzählt, dass er unsere Gesellschaft zunehmend als kalt empfindet. Ich habe das damals nicht so recht glauben wollen. Inzwischen habe ich die Befürchtung, dass es stimmt. Es wird kälter in Deutschland und stellenweise ist es schon eiskalt.
Ich hoffe, wir bekommen das irgendwie gedreht.
Viel Freude mit dieser Ausgabe wünscht
Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind
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