Marina Baranova

Mit 19 Jahren kam die Pianistin nach Hannover, um an der HMTMH bei Wladimir Krainew zu studieren. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der List, tritt international auf und hat schon mit Größen wie Giora Feidman gearbeitet. Als Komponistin widmet sie sich der Grenzüberschreitung zwischen klassischer und moderner Musik. Auch die Grenzen der klassischen Aufführungspraxis überschreitet sie und präsentiert ihre Musik auf einer interdisziplinär gestalteten Webseite, wo Bilder, Geschichten und Musik zu einem Gesamterlebnis zusammenfließen.

„Es war damals dramatisch für uns, der Ukraine den Rücken zu kehren, weil klar war, dass das für immer sein würde“, erklärt die Pianistin. Zu dieser Zeit war sie an einen Punkt gelangt, an dem eine weitere Förderung ihres Talents in der Ukraine nicht mehr möglich war.
Beide Eltern sind Berufsmusiker, die Mutter spielt und unterrichtet klassische Musik, der Vater Jazz. „All ihre Freunde waren Musiker, ich wusste lange gar nicht, dass es auch andere Berufe gibt“, lacht Baranova. Natürlich nahmen die Eltern Marina oft mit auf Konzerte und sie fand das eher langweilig – bis sie als Achtjährige erlebt, wie der bekannte Solist Wladimir Krainew Prokofiev spielt: „Das war life changing für mich! Zum ersten Mal sah ich Musik als Bilder vor meinen Augen. Ich hatte das Gefühl, dass er glüht! Ich war wahnsinnig beeindruckt und habe meine Eltern überredet, nach dem Konzert backstage zu gehen. Als er hörte, dass ich auch Klavier spiele, sagte er mir, wenn ich fleißig üben würde, könne ich später bei ihm studieren. Ich habe das sehr ernst genommen. Als ich 18 war – ich hatte inzwischen fleißig geübt – sind wir nach Moskau gereist, wo ich ihm vorspielen durfte. Ich sagte: ‚Da bin ich!‘, aber natürlich konnte er sich nicht erinnern.“ Studieren durfte sie trotzdem bei Krainew, und es war ein Glücksfall für die junge Frau, dass er nicht nur in Moskau, sondern auch in Hannover unterrichtete. Nur ein Jahr später war die Familie nach München übergesiedelt, wo die Eltern auch heute noch leben. Kurz darauf begann Baranova ihr Musikstudium in Hannover. „Dann ging es los mit dem Konkurrenzdruck. Ich bin echt froh, dass ich das erleben durfte, aber auch, dass ich es überlebt habe“, lacht sie. Im Studium nahm sie an unzähligen Wettbewerben teil und gewann sehr viele. Heute sieht sie das eher kritisch. „Klar, für sehr junge Musiker ist Musik noch ein bisschen wie Sport. Man möchte sich messen, gewinnen und feiern. Dass aber die Entwicklung junger MusikerInnen derart auf einer Wettkampfbasis passiert, ist meiner Meinung nach mit verantwortlich dafür, dass die klassische Musik in einer Sackgasse steckt. Man wählt für so einen Wettbewerb ein Repertoire, das gut bei der Jury ankommt, oft bekannte Stücke. Man spielt sie dann so, dass es möglichst jedem gefällt. Das ist weder individuell noch kreativ, sondern ein Kompromiss. Wenn man viele Wettbewerbe spielt, spult man immer wieder dasselbe Programm ab, weil man nichts riskiert und funktionieren muss. Auch morgens um acht in einem leeren Konzertsaal. Wettbewerbe sind leider oft die einzige Chance, an Auftritte zu kommen. Für mich ist es aber essenziell, für ein Publikum zu spielen, nicht für eine Jury. Ich brauche diesen Kontakt und werde sehr stark beeinflusst von der Energie, die aus dem Saal kommt. Irgendwann habe ich mich ganz leer gefühlt und bin sogar nach einem ersten Preis nach Hause gekommen und in ein Loch gefallen. Es ging mir richtig schlecht.“
An diesem Tiefpunkt, der nach Außen hin wie ein Höhepunkt aussah, erinnert Baranova sich daran, wie sie als Kind, noch bevor sie Klavierunterricht hatte, spielerisch ihre Eltern am Klavier imitierte: „Ich habe genau so, wie meine Eltern ihre Notenbücher auf das Notenbrett gestellt haben, meine Bilderbücher dort hingestellt und zu den Bildern improvisiert. Das war, bevor Unterricht und Leistungsdruck dazukamen.“
Als Befreiungsschlag nimmt Baranova ein Album mit Klezmer-Musik auf. Heimlich, denn so etwas wird, genau wie Jazz, von ihren Dozenten nicht goutiert. „Heute hat sich da einiges verändert“, erklärt sie, „aber mein Lehrer war DER Vertreter der russischen Schule. Er war wahnsinnig gut, aber auch sehr konservativ. Ich habe dann angefangen, zu improvisieren und zu komponieren, und es gab kein Halten mehr. Es war wie ein Vulkanausbruch!“
Vor gut einem Jahr, während des ersten Lockdowns, komponierte die Pianistin jeden Tag ein kleines Stück und teilte es digital im Freundeskreis als eine Art musikalischen Adventskalender. „Die Leute waren so dankbar! Ich habe so viel Feedback bekommen, dieser Austausch fühlte sich fast an wie bei einem Konzert.“ Die vielen Rückmeldungen inspirierten Baranova zu ihrem nächsten Projekt, „Bilder einer anderen Ausstellung“, aus dem auch ihr aktuelles Album entstand: Sie bat Freunde und Bekannte, ihr Bilder zu schicken, zusammen mit einem kurzen Text oder einer Geschichte über deren Bedeutung. Sie würde dann zu jedem Bild ein Musikstück komponieren. „Diese Anstöße waren total inspirierend und auch herausfordernd. Mir gefiel die Idee, dass viele Menschen so an den Stücken mitschreiben und sich darin wiederfinden.“ Die Musikerin schickte die ausgewählten Stücke Volodymyr Kompaniets, einem ukrainischen Schriftsteller, der inspiriert von der Musik Texte schrieb, in denen er siebzehn Orte einer Fantasiewelt beschrieb. Genauso schickte Baranova ihre Stücke dem in Leipzig lebenden dänischen Maler Christian Gundtoft. Verblüffenderweise lieferte dieser dann Bilder, die den beschriebenen Orten ähnelten, ohne dass er die Texte zuvor gelesen hatte. „Das war ein Gänsehaut-Moment!“, schwärmt die Künstlerin. „Es war, als hätten beide eine vergessene Welt entdeckt, die ich in meiner Musik beschrieben hatte, und einen ‚Atlas of imaginary places‘, so der Titel des Albums, erstellt.“ Zusammen mit ihrem Mann Damian Marhulets, der ebenfalls Musiker ist, kreiert Baranova nun eine Webseite, die diese im kollektiven Unterbewusstsein existierende Welt darstellen wird. Das Album ist hier eine Insel, zu der täglich neue Inhalte dazukommen, Texte oder Bilder, die in immer feineren Verästelungen diese Welt erlebbar machen werden. Damian Marhulets wird später mit seinem neuen Album den Himmel über dieses Kosmos spannen. Auf die nun folgenden Auftritte ist die Pianistin schon sehr gespannt, genau wie auf ihre weitere Arbeit als Komponistin. „Ich weiß nicht, was ich als Nächstes machen werde, ob es ein klassisches Album wird oder ich mit einem Percussionisten arbeite. Ich werde als Musikerin immer auf der Suche sein, wahrscheinlich ist das meine Konstante.“

      ● Annika Bachem

Mehr Infos unter
www.marinabaranova.com


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