Herr Weil, wir führen dieses Interview kurz nach der Kommunalwahl, aber noch vor der Bundestagswahl. Die Leserinnen und Leser werden also klüger sein als wir, wenn das Stadtkind erscheint. Sprechen wir mal zu Beginn kurz über die Kommunalwahl. Sind Sie zufrieden mit den Ergebnissen?
Alles in allem ja. Es ist natürlich ein buntes Bild. Besonders gefreut habe ich mich über das gute Abschneiden von SPD-Vorschlägen bei etlichen Landrats-, Oberbürgermeister- und Bürgermeisterwahlen. Und daneben gibt‘s auch ein paar Enttäuschungen.
Die CDU bleibt landesweit stärkste Kraft. Die SPD liegt knapp dahinter, so rundum zufrieden können sie nicht sein …
Na ja, der Unterschied beträgt gerade mal 1,7 Prozentpunkte. Klar wären wir nach fünfzig Jahren gerne mal wieder die stärkste Partei bei Kommunalwahlen geworden, aber das landesweite Gesamtergebnis spielt bei Kommunalwahlen eine doch eher nachrangige Rolle. Anders nächstes Jahr um diese Zeit: Dann sind Landtagswahlen und dann ist diese Frage entscheidend.
Erfreulich fand ich, dass die AfD deutlich verloren hat.
Das geht mir auch so. Die AfD hat von allen Parteien die stärksten Verluste eingefahren und ist deutlich unter 5 Prozent gelandet. Die AfD bleibt in Niedersachsen eine kleine Kraft am rechten Rand, die große Mehrheit der Bevölkerung will mit ihr nichts zu tun haben.
Wie gesagt, über die Ergebnisse der Bundestagswahl können wir bei unserem Interview schlecht sprechen. Wir können aber über den Wahlkampf sprechen. Der war lange eher inhaltsleer, erst zum Ende wurde es stellenweise ein bisschen konkreter. Ist diese Vermeidung von klaren Inhalten nicht Gift für die Demokratie?
Es stimmt, die wichtigste Frage in diesem Wahlkampf war die K-Frage – wer wird Kanzlerin oder Kanzler? Das ist dann vor allem eine Personalisierung, aber Personen stehen immer auch für Inhalte. Nehmen Sie ein Beispiel, das mich selbst überrascht hat: Auf die Frage nach dem wichtigsten Thema ergibt sich in den Umfragen eine Mehrheit für „soziale Gerechtigkeit“. Das deckt sich nur wenig mit dem Inhalt von Schlagzeilen und Medienberichten, erklärt aber vielleicht durchaus zum Teil die Zustimmung für Olaf Scholz.
Was mich bei den zahlreichen Runden in den Medien oft sehr gestört hat, das war die offensichtliche „Beugung“ der Wahrheit. Wenn man so ein bisschen die Techniken zur Diskreditierung des politischen Gegners kennt, dann war dieses Schauspiel manchmal schwer zu ertragen. Ich habe da für mich ein paar recht hohe Ansprüche, Haltung ist mir wichtig, Aufrichtigkeit. Was ich aber gesehen habe, war teilweise schlicht Populismus. Und man hat versucht, den politischen Gegner mit Dreck zu beschmeißen, in der Hoffnung, dass etwas hängen bleibt. Ich finde, dass der Begriff Wahrheit in der Politik wieder ins Zentrum gehört. Sie auch?
Das stimmt natürlich, aber über die Wahrheit kann es im Einzelfall sehr unterschiedliche Meinungen geben. Deswegen würde ich im Wahlkampf einen anderen Begriff wählen – Fairness. Fairness schließt Lügen aus, Fairness setzt auf Argumente statt auf dumpfe Vorurteile und Fairness verzichtet auf die Verunglimpfung des politischen Gegners. In Niedersachsen ist uns das in den vergangenen Jahren übrigens ganz gut gelungen, finde ich.
Hatten Sie schon einmal das Gefühl, an irgendeiner Stelle im politischen Tagesgeschäft nicht ganz aufrichtig gewesen zu sein? Zum Beispiel, etwas bewusst weggelassen zu haben?
Von Helmut Schmidt stammt der Hinweis, Politiker dürften niemals lügen, müssten aber auch nicht immer alles sagen, was sie wissen. Da ist etwas dran. Persönlich habe ich im Amt, so glaube ich, noch niemals gelogen.
Eine beliebte Technik ist ja, es einfach sehr kompliziert zu machen. Da werden dann Studien mit anderen Studien „widerlegt“, man zweifelt einfach die Richtigkeit der Ergebnisse an, oder die wissenschaftliche Herangehensweise – und plötzlich finden sich dann in den Parteiprogrammen der CDU/CSU, der FDP und der AfD angeblich ebenfalls große Entlastungen für Menschen mit geringeren Einkommen, obwohl es diese Entlastungen tatsächlich gar nicht gibt. Ist das nicht schlicht Täuschung?
Wie gesagt, es gibt immer wieder auch unterschiedliche Interpretationen. Aber mal ein praktisches Beispiel. Die SPD sagt klipp und klar, dass sie Menschen mit kleinem Geldbeutel entlasten, ihre Einkommen erhöhen will, zum Beispiel beim Mindestlohn. Andere Parteien sagen dagegen ganz offen, dass sie die Wohlhabenden entlasten und große Vermögen schützen wollen – das ist dann zumindest ehrlich.
Ich mache mir sehr große Sorgen, dass wir immer mehr diesen „Trumpismus“ auch in Deutschland erleben werden, dass es immer schwerer werden wird, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden. Das scheint schon ziemlich vorangeschritten, auch die Presse als neutrale Instanz wird inzwischen diskreditiert. Wie ist Orientierung noch möglich?
Natürlich ist das ein echtes Risiko, „fake news“ sind ein Erbe von Donald Trump und finden auch in Deutschland ihre Anhänger. Glücklicherweise verfügt Deutschland allerdings auch über eine vielfältige Medienlandschaft mit überwiegend hochwertigem Journalismus, die nach wie vor vielen Menschen eine gute Orientierung geben. Die Vermittlung von Medienkompetenz wird übrigens auch in der Bildung künftig eine noch stärkere Rolle spielen müssen: In der Schule und auch im Elternhaus müssen Kinder lernen, falsche Behauptungen von Tatsachen zu unterscheiden.
Ich finde, ein erster Schritt nach der Wahl sollte sein, ganz schnell sehr umfangreiche Regeln zur Transparenz in Sachen Lobby und Nebenverdienste einzuziehen. Was dazu bisher beschlossen worden ist, reicht nicht aus meiner Sicht. Wären Sie einverstanden?
Aber ja, und bis jetzt sind wir dabei noch längst nicht weit genug gekommen, wenn wir nur an die Maskenaffären denken. Die CDU hat das ununterbrochen gebremst oder behindert. Hoffen wir, dass damit nach den Bundestagswahlen Schluss ist.
„Sich ehrlich machen“, davon war im Wahlkampf viel die Rede. Ich finde, das gehört ganz an den Anfang der kommenden Legislaturperiode, egal wer regieren wird. Es wäre höchste Zeit, auch im Sinne unserer Demokratie, oder?
Wir müssen uns in vielen Dingen ehrlich machen, etwa was die soziale Situation in unserem Land anbelangt oder auch dahingehend, was notwendig ist, um dem Klimawandel wirklich zu begegnen. Wir können nicht so tun, als könnten wir auf der einen Seite einen großen Energie- und Industriewandel einleiten und dabei auf der anderen Seite gleichzeitig den Status quo erhalten – die Politik muss die nötigen Veränderungen auf den Weg bringen, aber auch gut erklären und begleiten. Ohne die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger den Weg mitzugehen wird das nicht funktionieren – auch das gehört zur Ehrlichkeit.