Ich lebe in Zweieinhalb-Zimmer-Liedern und in Roman-Wohnmobilen. Ich bin zu Hause in Kinderreim-Kammern, Lyrik-Lofts und Film-Appartements.
„Heimat“ hatte für mich immer mit Kultur zu tun. Und mit Sprache. Meine Kindheit verbrachte ich unter anderem in einem kleinen oberhessischen Dialekt-Fachwerkhaus. Dort heißt eine Kuh „Kou“, zwei Kühe „Kie“ und der Hahn „Gickel“. Das Huhn heißt „Hingkel“, ein kleines Küchenmesser „Kneipche“ und der Flur „Ern“. Höre ich diese Wörter, habe ich die Illusion von Heimat. Auch wenn ich in einem Film ein englisches Weihnachtslied höre, habe ich dieses Gefühl. Oder wenn jemand auf der Straße „Yallah“ oder „Challas“ ruft.
Ich war fünf als ich nach Deutschland kam. Vorher hatten wir in Jordanien und in England gelebt. Bei uns zu Hause wurde in heiterem babylonischen Durcheinander Englisch, Deutsch und Arabisch gesprochen. Ich weiß nicht, welche Sprache ich mit wem sprach. Relativ sicher ist, dass ich mich mit meiner Mutter auf Deutsch unterhielt. Beziehungsweise auf Hessisch. Sicher ist auch, dass ich mit meinem Vater kein Deutsch sprach. Weil er es nicht beherrschte. In welcher Sprache ich mit meinen Geschwistern kommunizierte, kann ich nicht sagen. Vermutlich mal so, mal so.
In Deutschland besuchte ich dann einen Kindergarten. Dort diskutierte ich täglich mit den anderen Kindern darüber, ob das Ding mit den Flügeln auf dem Dach nun ein „helicopter“ oder ein „Hubschrauber“ sei, ob wir unsere Bildchen mit „sellotape“ oder „Tesa“ an die Wand klebten oder ob es zum Nachtisch ein Stück „Battiach“ oder „Wassermelone“ gab. Trotz meiner übersichtlichen Arabisch-Kenntnisse – diese Sprache konnte ich von allen am schlechtesten – existierten manche Dinge, vor allem Nahrungsmittel, für mich nur auf Arabisch. Wie eben die Wassermelone, der Joghurt („Laban“), Okra-Schoten („Bamja“) oder Zucchini („Kusa“). Meine deutsche Mutter kochte fast nur jordanische Gerichte.
An meinem ersten Morgen im Kindergarten in Kassel zeigte mir die „Tante“ die Räume. Ich hieß damals nicht nur hinten „El Kurdi“, sondern vorne auch noch „Samer“ und hatte grade ein halbes Jahr in Jordanien verbracht. Die Kindergärtnerin ging wohl davon aus, dass ich schlecht Deutsch spräche. „Hier im Schlafraum“, sagte sie langsam und sehr deutlich „halten alle Kinder ihren Mittagsschlaf.“ Sie nahm eine Wolldecke von einem der Klappbettchen und hielt sie hoch: „Und damit decken wir uns zu. Wie heißt das denn in deiner Sprache?“ Ich dachte nach und sagte: „Koldr!“ Die nette Kindergärtnerin versuchte mir das vermeintlich arabische Wort nachzusprechen. Es gelang ihr so mittel.
Aus irgendeinem Grund brannte sich dieses ebenso unschuldige wie unwichtige Gespräch in mein Hirn ein. Vielleicht, weil es mein erster Tag in einer neuen Welt war. Als ich mich viele Jahre später mal wieder daran erinnerte, hatte ich eine Erleuchtung. Ich verstand plötzlich, was sie mit „in deiner Sprache“ gemeint hatte. Ich verstand, was da wirklich passiert war. Und stellte mir vor, wie die arme Frau irgendwann im Urlaub in Kairo oder Marrakesch nachts an einer Hotel-Rezeption um eine zusätzliche Wolldecke bittet, und dabei stolz das arabische Wort „Koldr“ benutzt. Und der Rezeptionist sie verwirrt und ratlos anstarrt. Weil „Koldr“ selbstverständlich nicht Arabisch ist. Sondern Oberhessisch. Um genau zu sein: „Croafelder Platt“, der Dialekt des Heimatdorfes meiner Mutter – Crainfeld im Vogelsberg. „Croafelder Platt“ war die Sprache, in der meine Geschwister und ich vermutlich unsere ersten Worte gesprochen hatten. Unsere Muttersprache.
Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal seit meiner Kindheit ein Wochenende in Crainfeld verbrachte, versuchte ich – natürlich – Croafelderisch „zou schwazze“. Ich konnte es noch. Einigermaßen. Aber sonst konnte es kaum jemand. Nur noch die ganz Alten. Alle anderen sprachen Hochdeutsch mit einem leichten hessischen Sound, der aber nicht spezifisch nach Vogelsberg klang, sondern so, wie Menschen auch anderswo in Mittel- und Südhessen klingen. Und im Hessischen Rundfunk. Sie sprachen ein gemäßigtes, homogenisiertes HR-Hessisch.
Ich kam mir vor wie ein Amisch. Als seien meine Vorfahren vor Generationen ausgewandert und hätten ihre Sprache mitgenommen, in der Fremde gepflegt und konserviert – während in der Heimat der Dialekt verändert, vereinfacht und schließlich bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen wurde.
Ich war ein Zeitreisender. Nach Hause gekommen, nur leider 50 Jahre zu spät. Ich war ein heimatvertriebener Dialekt-Überlebender. ● Hartmut El Kurdi