Schwupps ist es Februar 2021 und ich sitze immer noch in meiner Eremitage und betreibe Introspektive. Und Retrospektive: Ich blicke zurück auf elf Monate, die geprägt waren von unterbezahlter Indoor-Kontaktvermeidung, Outdoor-Plauderspaziergängen, abgesagten Live-Auftritten und Zoom-Konferenzen. Und von unendlich peinlichem Gejammer eines Teils der wohlhabenderen und gebildeteren Schichten.
Unzweifelhaft ging es – und geht es immer noch – vielen in dieser Pandemie schlecht. Sogar sehr schlecht. Allen voran den an COVID-19-Erkrankten und -Verstorbenen und deren Angehörigen. Und den psychisch Kranken. Und Frauen und Kindern, die im Shutdown ihren gewalttätigen Männern und Vätern ausgeliefert sind. Mit Sicherheit geht es dem überarbeiteten und unterbezahlten Pflegepersonal in den Krankenhäusern und Altenheimen schlecht. Aber auch den Selbständigen aus den unterschiedlichsten Branchen, die plötzlich gar nichts mehr verdienen und bei denen aus verschiedenen Gründen die staatlichen Hilfen nicht greifen. Freiberufliche Schauspieler*innen gehören zum Beispiel zu dieser Gruppe. Nicht schlecht ging und geht es hingegen: Den meisten Leuten, die im vergangenen Jahr auf „Hygiene“- und „Querdenker“-Demos in Stuttgart, Berlin und leider auch in Hannover erfolgreich zu beweisen suchten, dass Egoismus, Paranoia und Abitur/Hochschulstudium sich nicht nur nicht ausschließen müssen, sondern anscheinend sehr gut zusammenpassen.
Immer wenn ich solche Bildungsbürger, Eso-Hippies und Querfront-Linke gemeinsam mit Rechtsradikalen, Reichsbürgern, QAnon-Anhängern und anderen Dumpfbacken gegen die vermeintlichen Einschränkungen ihrer Freiheit protestieren sehe – gerne auch mal mit gelbem Stern und anmaßendem und geschmacklosem „Ich bin Sopie Scholl/Anne Frank“-Geschrei –, denke ich an den zärtlichen, regelmäßig bei Familienfeiern geäußertem Spruch meines Onkels Kalle: „Euch Arschgeigen geht es einfach zu gut!“ Und ich füge hinzu: Es ging euch immer schon zu gut! Und zwar stets auf Kosten Schwächerer.
Was soll man da in dieser Situation auch groß anderes erwarten als eine Weiterführung dieser Leckt-mich-doch-Hauptsache-ich-ich-ich-Haltung? Schon als Kind musstet ihr zu Weihnachten nur eine Liste hinkrakeln – und zack lagen die Geschenke unterm Baum. Ihr konntet immer alles machen, was ihr machen wolltet, reisen, wohin ihr reisen wolltet, studieren, was ihr studieren wolltet, wohnen, wo ihr wohnen wolltet. Jetzt ist mal ganz kurz Pause mit eurer Personality-Show, und wie es sich für dreijährige Ego-Monster gehört, werft ihr euch schreiend auf den Boden und strampelt mit den Armen und Beinen. Und ihr seid voll sauer, weil euch – glücklicherweise – viele nicht ernst nehmen wollen. Nur dieser fiese Nazi-Junge aus dem Nazi-Viertel, dem ihr sonst wohlweißlich nicht begegnen mögt, der sagt: „Ihr habt Recht. Das ist eine Diktatur! Und die neuen Hitlers heißen Angela, Karl, Jens und Bill! Denen hauen wir jetzt aufs Maul. Wir leisten Widerstand! Ausgedacht hat sich diese Diktatur übrigens der George und der ist Jude. Den knüpfen wir an die Laterne!“ Letzteres überhört ihr selbstverständlich. Und wenn man euch drauf hinweist, überhört ihr es wieder. Das wäre ja auch zu eklig. Antisemitismus. Nee, ihr doch nicht. Ihr wollte doch nur Liebe und Freiheit. Und das keift ihr den „Lügenpresse“-Journalisten auch liebevoll ins Gesicht. Bevor ihr sie anspuckt.
Kleiner Tipp: Falls ihr jemals wieder ernst genommen werden wollt, hier eine unvollständige Liste von seit Jahren real nicht-existierenden oder eingeschränkten Freiheiten, für deren Durchsetzung ihr euch 2021 zur Abwechslung mal engagieren könntet: Die Freiheit, sich als orientalisch aussehender Mensch überall in Deutschland angstfrei bewegen zu können, auch in sächsischen Nahverkehrszügen. Die Freiheit, als Kind von armen und/oder „bildungsfernen“ Eltern problemlos eine höhere Schulbildung zu erlangen. Die Freiheit, selbstbestimmt sterben zu dürfen und die Freiheit, seine letzten Jahre in einem Pflegeheim in Würde verbringen zu können. Die Freiheit, als Frau nicht sexuell belästigt und die Freiheit, als Schwarze*r nicht ständig von der Polizei kontrolliert zu werden. Und am drängendsten: Die Freiheit, als Kind nicht in einem Flüchtlingslager zwischen Müllbergen, ohne Toilette und fließendes Wasser leben zu müssen, und die Freiheit dort nachts nicht auch noch von Ratten gebissen oder sexuell missbraucht zu werden. Wenn ihr euch in nächster Zeit mal um diese Freiheiten kümmern könntet, wäre das ein schöner Anfang für eure Rehabilitation.
● Hartmut El Kurdi