Kurz vor Silvester erreichte mich ein Anruf mit unterdrückter Nummer. „Anne, wie geht es Ihnen?“, hörte ich am anderen Ende der Leitung meine Chefin Bärbel Dea, CEO von Ex Machina Solutions fragen. Erleichtert erwiderte ich, dass es mir blendend gehe – wenn man mal davon absah, dass ich in ständiger Angst vor der Rache eines Putzmanns lebte, dessen Hochzeit ich gesprengt hatte, und aus diesem Grund mein Liebster und ich uns seit zwei Monaten in wechselnden Unterschlüpfen verstecken mussten. Dea lachte.
„Köstlich! Sammeln Sie nur weiter Inspirationen für Ihre nächste Spiele-App! Aber zuerst müssen Sie für mich einen kleinen Auftrag erledigen.“ Und dann berichtete sie mir von kuriosen Vorgängen im Hauptquartier von Ex Machina Solutions. Obwohl alle Mitarbeiter aktuell im Home Office saßen, war der Stromverbrauch in den Räumlichkeiten ungebrochen hoch. Außerdem wollten Nachbarn nächtens seltsame Geräusche gehört haben… Dea hegte den Verdacht, dass irgendjemand von der Belegschaft sich regelmäßig ins Büro schlich und die örtlichen Einrichtungen nutzte. Wer das war, sollte ich herausfinden – und zwar mit allen Mitteln. Sie gab mir sogar grünes Licht dafür, in den privaten Spinden und Schubladen meiner Kollegen zu schnüffeln, sollte das der Wahrheitsfindung dienen. Als sie abschließend wissen wollte, ob ich bereits in der nächsten Nacht mit der Observierung starten könne, hatte ich bloß noch eine Frage: „Warum ich?“ Deas Schmunzeln war nicht zu überhören.
„Weil Sie meine beste Mitarbeiterin sind und ich Ihnen zu 100 Prozent vertraue, Anne – darum! Und weil ich durch den GPS-Tracker auf Ihrem Handy genau weiß, dass Sie nicht die heimliche Hausbesetzerin sind. Also, übernehmen Sie den Fall?“
Ich übernahm. Gleich in der folgenden Nacht begab ich mich kurz nach Anbruch der Dunkelheit in die vertrauten Räumlichkeiten von Ex Machina Solutions und machte mich, mit nichts weiter als meinem Verstand und einer Taschenlampe bewaffnet, an die Lösung des Rätsels. Doch … der war ich auch sechs Stunden, vier Ersatzbatterien und eine akribische Suche später immer noch keinen Deut näher gekommen. Zwar hatte ich herausgebracht, dass mein Kollege Bertil hinter seinem Tower einen Aktenordner voller Fotos von Hamstern in Speedos verbarg und dass meine Kollegin Larissa alle ihre Popel unter den Tisch klebte. Aber ihre PCs hatten sie seit Monaten nicht hochgefahren, wie ich aus den System-Protokollen entnehmen konnte. Und auch ihre Arbeitsplätze waren blitzblank, zumindest die Oberseite. Von der Ergebnislosigkeit meines Stöberns enttäuscht setzte ich mich an ein Fenster, blickte hinaus in die düstere Nacht und gab mich einem Gedanken hin, der mich schon seit jenem Moment beschäftigte, als ich Deas Auftrag angenommen hatte: War es wirklich in Ordnung, unter dem Vorwand der Verbrechensbekämpfung die Geheimnisse anderer Leute zu erforschen? Zugegeben: Die meisten davon waren bei Lichte besehen einfach nur lächerlich. Doch das hinderte ihre Bewacher nicht daran, sie mit Zähnen und Klauen gegen die neugierigen Augen der Öffentlichkeit zu verteidigen. Diese sogenannte „Geheimniskrämerei“ ist etwas, das ich als kreuzehrliche und offensiv offene Person nie so recht habe verstehen können – und dennoch früh zu respektieren gelernt habe durch einen Vorfall in meiner Kindheit, als ich unbedingt das Geheimnis meines Bruders Hannes lüften wollte. Am Ende bestand das nur in dem Geständnis, dass er sich in irgendeinen pickeligen Mitschüler verliebt hatte, und diese langweilige Enthüllung hatte mich schon sehr geärgert. Weitaus mehr noch als der gebrochene Arm, den ich mir in der Bärenfalle zugezogen hatte, mit der Hannes damals sein Tagebuch zu sichern pflegte.
Enttäuscht und ermattet wünschte ich mich in die dunkle Stadtbibliothek zurück, in der ich mich und Lachlan für diese Woche einquartiert hatte und in der er vermutlich genau in diesem Augenblick den Macbeth-Monolog oder ein Ringelnatz-Gedicht auswendig lernte, um mich mit dessen Vortrag nach meiner Rückkehr beglücken zu können … als plötzlich alle Lichter im Raum angingen und mich zeitgleich ein heftiger Schlag auf den Hinterkopf traf …
Keine Ahnung, wie lange ich bewusstlos war, doch in der Zwischenzeit musste ziemlich viel passiert sein. Als ich nämlich wieder zu mir kam, lag ich in einer Ecke des hellerleuchteten Chefinnenbüros gefesselt und geknebelt auf dem Boden. Ich wusste, dass ich derart außer Gefecht gesetzt meinem Gegner, einem riesenhaften Hünen mit einer Gasmaske auf dem Gesicht, hilflos ausgeliefert war – nur interessierte der sich momentan gar nicht für mich. Tatsächlich hatte er mir den Rücken zugewandt und sprach stattdessen in einer Zoom-Konferenz zu irgendwelchen Leuten, deren besorgte Gesichter über die vielen Bildschirme auf Deas Schreibtisch flackerten. Nachdem das durch den Schlag bedingte Pfeifen in meinen Ohren verklungen war, konnte ich auch endlich hören, was er zu ihnen sagte.
„… werde ich mit einem einzigen Klick das gesamte Internet löschen! Und was werden die Menschen wohl tun, wenn sie nicht mehr online Kühlschränke bestellen oder Schachserien streamen können – also all die hirnlosen Beschäftigungen wegfallen, mit denen ihr sie bislang so erfolgreich in den eigenen vier Wänden gefangenhalten konntet? Natürlich werden sie erwachen und hinausströmen auf die Straßen, um endlich den ganz großen Bürgerkrieg anzuzetteln, der euch und eure verbrecherische Gesundheitsdiktatur zu Fall bringt! Nur ein Klick und eure Macht ist für immer gebrochen! MUAHAHAHAHA!!“
Während des Gelächters warfen sich die anderen Zoom-Teilnehmer verunsicherte Blicke zu. Ich dachte kurz, die eine Frau würde dem Gasmaskenmann gleich den Mittelfinger ausstrecken, doch dann glitten ihre Hände zur Formung eines Rhombus zusammen. Während ich noch überlegte, wo ich diese Geste schon einmal gesehen hatte, erschien auf dem mittleren Screen ein nervtötend blinkender Zahlencountdown.
„Euch bleibt nur noch eine Möglichkeit, das Desaster abzuwenden“, fuhr der Hüne in plötzlichem Bierernst fort. „Ich will, dass ihr euer bestgehütetstes Geheimnis hier und heute lüftet! Sagt es mir: Wo ist der Eingang zu den unterirdischen Geheimlaboren, in denen ihr euer Jungbrunnenelixier produziert? Wo haltet ihr die verängstigten Robbenbabys gefangen, aus deren Nieren ihr euren Lebenssaft filtert? Antwortet mir, ihr verfluchten Echsen-“ Sein Redeschwall brach unvollendet ab, da in diesem Moment der zweite Schlag des Abends fiel, diesmal jedoch auf den Schädel des Hünen. Während der noch in Zeitlupe vom Bürostuhl fiel, drückte sein Angreifer mit einer flinken Bewegung auf die Escape-Taste, was den Countdown sofort beendete.
Nach einem Moment der Stille brach heller Jubel unter den zugeschalteten Konferenzteilnehmern aus. Mit unverkennbar ostdeutschem Akzent fragte die Rhombusfrau nach dem Namen ihres Retters, der von soviel Beifall ganz eingeschüchtert den obersten Knopf seiner Putzkluft öffnete und seine Waffe, einen Besen, gegen den Tisch lehnte. Dann antwortete er ein wenig verschämt:
„Bond. Jan Bond. Genauer gesagt Jan Bond-Bayülken – genau das wollte ich dir schon seit geraumer Zeit sagen, Anne …“
Zu meiner Überraschung drehte sich der geheimnisvolle Fremde zu mir um und ich erkannte in ihm meinen (ehemals?) sehr guten Freund Jan. Bevor ich auch nur blinzeln konnte, hatte er sich bereits den Gummihandschuh von seiner rechten Hand gezogen und präsentierte mir stolz den fetten Goldring, der auf dem entsprechenden Finger saß.
„Gleich, nachdem du mit dem Pfarrer abgehauen bist“, erklärte Jan, „hat Songül eine ihrer Pastafari-Freundinnen aufgegabelt, die uns dann doch noch getraut hat. Seit Monaten versuche ich dir das zu sagen! Abwechselnd habe ich in deiner Wohnung und an deinem Arbeitsplatz auf dich gewartet! Und weil mir dabei langweilig wurde, hab‘ ich ein wenig geputzt …“
Ich stöhnte, da sich mir nun die nur allzu offensichtliche Lösung zu Deas mysteriösem Fall offenbarte. War mir vorhin nicht höchstselbst aufgefallen, dass alle Büros blitzsauber sind? Während ich über das fatale Ausmaß meiner Dummheit still vor mich hin wimmerte, bückte Jan sich zu mir herunter und riss mit einem Ruck das Gaffertape von meinem Mund. Sogleich füllten sich meine Augen mit Tränen, jedoch rührten die nicht von dem schmerzvollen Entfernen meines Oberlippenbartes, sondern von dem aufwühlenden Gefühlserguss in meiner Brust, da ich nun eine längst verlorengeglaubte Freundschaft wiederbelebt wusste. Jan ging es wohl ganz ähnlich, denn er tätschelte mir kameradschaftlich den Kopf.
Während wir so dasaßen und der sich langsam von seiner Kopfnuss erholende Hüne in seine Gasmaske kotzte, begannen die Zoom-Teilnehmer auf den Bildschirmen einen Countdown herunterzuzählen – diesmal jedoch einen völlig harmlosen. Ich blickte durch das Fenster und sah, wie eine einzelne, einsame Rakete über den Nachthimmel zog, und es klang, als würde sie mir mit einem dünnen Stimmchen zurufen: Prost Neujahr, Anne!
● Anne Andersch