Wer „Kulturbegleiter“ hört, denkt spontan an Pflanzen am Wegesrand. Nicht so die InitiatorInnen des Kulturschlüssels Niedersachsen, die sich auf die Fahne geschrieben haben, im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention Barrieren für den Besuch von Kultur- und Sportveranstaltungen abzubauen. Sie haben eine Plattform entwickelt, über die Menschen mit Behinderungen Personen finden, die sie beim Besuch einer Veranstaltung begleiten – die sogenannten KulturbegleiterInnen. Einer von ihnen ist Heiko Brockmann.
„Beruflich bin ich vorbelastet, weil ich Schulbegleiter bin, mich also um die Inklusion von Kindern mit Handicap im Schulalltag kümmere“, so Brockmann, der durch einen Zeitungsartikel auf den Kulturschlüssel aufmerksam wurde. „Die Idee hat mich sofort angesprochen, denn Kultur braucht natürlich auch Inklusion. Menschen mit Behinderungen stoßen, wenn sie etwas unternehmen wollen, oft auf Hindernisse, das können Kleinigkeiten sein, die man als nicht behinderter Mensch gar nicht wahrnimmt, die ihnen aber den Besuch vieler Veranstaltungen ohne Unterstützung unmöglich machen.“
Hier setzt der Kulturschlüssel mit seinem Konzept an, zwischen Veranstaltern, ehrenamtlichen KulturbegleiterInnen und Menschen mit Behinderungen, hier KulturgenießerInnen genannt, zu vermitteln: Niedersächsische Kultur- und Sportinstitutionen stellen Eintrittskarten für unterschiedlichste Veranstaltungen zur Verfügung. Menschen mit Handicap können sich, genau wie solche, die unterstützen wollen, auf der Homepage des Kulturschlüssels registrieren und anhand eines Veranstaltungskalenders auswählen, was sie unternehmen möchten. Etwa 120 Personen insgesamt haben das bisher getan. Wenn, was in der Regel auch klappt, ein Match zwischen beiden Parteien zustande kommt, werden die Beteiligten per E-Mail oder durch einen Anruf darüber informiert, und dem gemeinsamen Kulturgenuss steht nichts mehr im Wege. Koordiniert wird das von der Projektleiterin Pauline Kleier.
Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, wie Heiko Brockmann sie hat, ist keine Voraussetzung für dieses Engagement. Im Rahmen von Kennenlerntreffen bekommen die Freiwilligen vor ihrem ersten Einsatz eine kurze Schulung, die vor allem dazu dient, Berührungsängste abzubauen.
Brockmann war im Juli 2019 kurz nach Start des Projekts einer der ersten, der sich gemeldet hat – und besuchte schon mit einem Kulturgenießer die Premierenveranstaltung des Kulturschlüssels im GOP. „Das war erst mal eine witzige Situation“, so Brockmann. „Bevor wir uns um 18 Uhr getroffen haben, kannten wir uns nicht. Dann hatten wir einen tollen Abend und sind seither in Kontakt geblieben. Während des Corona-Lockdowns haben wir uns sogar verabredet, dieselbe Online-Veranstaltung zu streamen, und haben hinterher telefoniert, um uns darüber auszutauschen. Das war seine Idee, und ich fand das super, ich hatte vorher noch nie etwas gestreamt.“
„Ein solcher privater Kontakt ist im Grunde schon die nächste Stufe“, betont Projektleiterin Kleier, „das ist gelebte Inklusion.“ Ein „Bonbon“ für die KulturbegleiterInnen ist, dass sie freien Eintritt erhalten, während die KulturgenießerInnen ihre Tickets regulär bezahlen müssen.
„Dieses Projekt hat so viele positive Begleiterscheinungen, weil Menschen lernen, sich zu öffnen und aufeinander zuzugehen, eben ohne Behinderungen. Ich habe für mich erlebt, dass es sehr schön ist, Kultur zu genießen und dabei mal den Blickwinkel des anderen einzunehmen. Da nimmt man eine Menge für sich selbst mit,“ so Brockmann.
Wie oft und für welche Veranstaltungen die ehrenamtlichen KulturbegleiterInnen sich zur Verfügung stellen, steht ihnen völlig frei. Es gibt keine Verpflichtung zur regelmäßigen Teilnahme. Ganz wichtig ist die Unterscheidung zwischen Begleitung und Assistenz. Eine pflegerische Assistenz wird von den KulturbegleiterInnen nur in Ausnahmefällen geleistet, wenn jemand, wie zum Beispiel Heiko Brockmann, einschlägig ausgebildet und dazu bereit ist. Auch Fahrdienste oder Unterstützung auf dem Weg zur Veranstaltung gehören nicht zu den Aufgaben der KulturbegleiterInnen. Eine ausreichende Mobilität der KulturgenießerInnen wird vorausgesetzt. „Es geht einfach darum, dass man da ist, falls kleine Hilfestellungen nötig sind, die aber niemandem aufgedrängt werden. Man begegnet sich auf Augenhöhe und die Kultur steht dabei absolut im Vordergrund.“
Der Kulturschlüssel kooperiert mit etwa 25 bis 30 kulturellen Institutionen und Sportveranstaltern, die Eintrittskarten zur Verfügung stellen. Wenn Interesse an bestimmten Veranstaltungen besteht, die noch nicht im Kulturschlüssel-Kalender gelistet sind, fragt Pauline Kleier aber auch einfach an: „Es gibt selten negative Rückmeldungen, eher ein großes Interesse daran, uns zu unterstützen.“ Oft wird Veranstaltenden erst durch die Anfrage des Kulturschlüssels deutlich, dass ihre Lokalitäten nicht barrierefrei sind. Manchmal lässt sich das relativ leicht ändern, das Engagement des Kulturschlüssels gibt hier wichtige Anstöße, denn: Je sichtbarer und selbstverständlicher Menschen mit Behinderungen an Veranstaltungen teilnehmen, desto näher kommt eine Gesellschaft dem Ideal der gelebten Inklusion.
● Annika Bachem
Wer sich als KulturbegleiterIn engagieren möchte,
ist herzlich willkommen!