Ein offener Brief
… an den Weihnachtsmann
Lieber Jeff, nun ist es bald wieder so weit, es naht die Heilige Nacht, und wir alle sind schon gespannt auf dieses Corona-Weihnachten mit stark eingeschränkten sozialen Kontakten und dafür hoffentlich umso mehr Geschenken, die wir natürlich alle bei dir im Netz bestellen. Bist du auch schon so aufgeregt? Was meinst du, werden wir es alle gemeinsam schaffen? 200 Milliarden US-Dollar hast du schon – schaffen wir die Drei vorne? Es ist Weihnachten, wir wünschen es dir sehr und werden entsprechend fleißig bestellen, versprochen!
Hauptsache, du kannst den Ansturm überhaupt bewältigen. Aber da müssen wir uns wahrscheinlich keine Sorgen machen, dein Ameisenhaufen ist ja bestens organisiert, Engpässe wird es kaum geben. Höchstens zwischen all den Fahrzeugen der Lieferdienste – da wird nicht nur in Hannover wieder die Tage vor Weihnachten kein Durchkommen sein. Die könnten auch alle zusammen einfach eine Kette machen, so wie bei Umzügen, vom Amazon-Verteilzentrum bis rein in die Städte in die hintersten Winkel mit Menschenketten. Wobei, geht ja nicht wegen Corona. Egal, dann eben mit der Lieferdienstflotte. Hauptsache es läuft. Denn es ist ja alles für einen guten Zweck. Lauter glückliche Gesichter unter den Weihnachtsbäumen, dafür nehmen wir ein bisschen Verkehrschaos gerne in Kauf. Und natürlich auch die vielen anderen Kollateralschäden, zum Beispiel unsere verödenden Innenstädte, das Aussterben des stationären Einzelhandels, das Wegbrechen der Gewerbesteuereinnahmen und damit eine dauerhaft notleidende öffentliche Hand. Macht alles nichts. Das ist eben der Gang der Dinge. Evolution oder Darwinismus oder was auch immer. The winner takes it all, der Stärkste überlebt im Kapitalismus, und das bist du mit Amazon. Was soll man da machen?
Dich enteignen und dein Geld gleichmäßig auf die gesamte Weltbevölkerung verteilen? Wir haben mal gerechnet, das wären momentan etwa zweieinhalb Dollar für jede und jeden. Das lohnt nicht. Das ist eine Scheißidee. Und das wäre auch gar nicht gerecht, denn du hast ja für dein Geld hart gearbeitet, man kann dir das jetzt nicht so einfach wegnehmen, nur weil der Geldspeicher ein bisschen zu groß geworden ist. Nein, das ist kein Weg, das wäre auch insgesamt das völlig falsche Signal, denn wer würde sich noch groß anstrengen im Kapitalismus, wenn bei zu viel Erfolg die Enteignung droht? Da könnte man ja auch gleich anfangen, von den Reichen Steuern zu wollen. Mal ehrlich, wer würde sich dann noch ins Zeug legen? Und was wird dann aus den ganzen Juristen und Steuerberatern, man würde hunderte, ja vielleicht sogar tausende Existenzen vernichten.
Nein, was uns bleibt, lieber Jeff, das ist allein der Glaube. Der Glaube an dich. Und dass ganz am Ende alles gut wird. Dass dich in irgendeiner kommenden Heiligen Nacht der Schlag der Erkenntnis trifft und du fortan deine vielen Milliarden einsetzt, um die Welt ein Stückchen besser zu machen, dass du dich gegen den Hunger in der Welt stemmst, dass du dich für Bildung und Gleichberechtigung einsetzt, dass du all jenen gutbezahlte Jobs bietest, die momentan wegen Amazon ihre Lebensgrundlage verlieren, dass du auch deine Ameisen demnächst alle vernünftig bezahlst, kurz, dass du dein Vermögen in den Dienst der guten Sache stellst, so wie das ja alle Milliardäre in den USA und weltweit tagtäglich tun. Denn wir wissen ja: wer keine Geldsorgen mehr hat, der wird früher oder später zum Wohltäter, der will unbedingt etwas zurückgeben, der unterstützt mit vollen Händen, der wünscht sich, dass es allen Menschen so gut gehen möge wie ihm selbst. Das liegt einfach in der Natur der Menschen. Darum gibt es so viele wohltätige Milliardäre, die unsere Welt jeden Tag besser und schöner machen. Und auch du, lieber Jeff, wirst schon bald diesen Weg einschlagen, ganz selbstlos und nicht aus Angst, dass dir irgendwann ein entfesselter Mob aus verarmten Einzelhändlern und Einzelhändlerinnen den Schädel einschlägt. Du wirst uns alle ins gelobte Land führen, du wirst mithelfen, eine schönere und bessere Welt zu schaffen, eine Welt, die auch gerne Amazonien heißen darf, wenn es darin trotzdem allen gut geht. In diesem Sinne, lieber Jeff, dir ein gesegnetes Weihnachtsfest. Am meisten freuen wir uns auf dein Geschenk! Wir glauben fest daran, so wie an den Weihnachtsmann. VA