Ein letztes Wort im Dezember

Herr Weil, wir sprechen Mitte November, die Videokonferenz mit der Kanzlerin am 16. November ist ein paar Tage vorbei, wenn es am 25. November in die nächste Runde geht, ist das Stadtkind bereits im Druck. Wir unterhalten uns also mal wieder sozusagen in der Zwischenzeit. Vielleicht eine Gelegenheit, ausnahmsweise nicht über aktuelle Infektionszahlen und Maßnahmen zu sprechen. Kommen Sie eigentlich noch dazu, zwischendurch ein bisschen weiter als bis zum nächsten Tag, zur nächsten Woche und zum nächsten Monat zu denken? Momentan reagiert die Politik immer wieder neu auf die aktuellen Entwicklungen. Kommt das Agieren, das Gestalten nicht schon lange viel zu kurz?
Teils, teils. Natürlich nimmt Corona einen großen Teil meiner Arbeitszeit in Anspruch, alles andere wäre ja auch verwunderlich. Schließlich haben wir es definitiv mit der größten Herausforderung zu tun, die wir alle bis jetzt erlebt haben. Aber gleichzeitig geht es immer wieder auch um die Frage, wie es denn eigentlich weitergehen soll nach Corona. Nehmen Sie nur die Wirtschaft, da wird hinterher vieles anders sein als vorher, da bin ich sicher. Und manche Themen waren schon vor Corona akut und wichtig, sie sind es jetzt und bleiben es: Der Umbau der Automobilindustrie in Richtung Elektromobilität und Digitalisierung ist zum Beispiel ein Thema, das mich seit längerem und auch jetzt und in Zukunft sehr beschäftigt. Oder nehmen Sie den Niedersächsischen Weg für mehr Artenschutz, den wir trotz Corona unter Dach und Fach bringen konnten, auch ein wichtiges Perspektivthema. Corona ist zum Glück nicht alles.

Ich habe die Sorge, dass wir andere wichtige Themen aus den Augen verlieren. Und ich denke dabei nicht nur an den Klimawandel. Vor etwa einem Jahr haben wir uns an dieser Stelle zum Beispiel über Stichworte wie Gerechtigkeit und Solidarität unterhalten. Darüber, was Ihre Partei sich dringend ins Programm schreiben sollte und wollte. Für eine neue Agenda der SPD war bisher aber kaum Zeit …
Da gebe ich Ihnen recht. Vor allem droht natürlich durch Corona in dieser Hinsicht sogar noch eine Verschlechterung. Gerade stärker förderbedürftige Kinder leiden besonders, wenn der Schulbetrieb eingeschränkt ist, und das ist nur eines von vielen Beispielen. Dazu kommt, dass mit Corona auch die Lage der öffentlichen Finanzen spürbar schlechter geworden ist und damit auch der Spielraum für Interventionen. Das ist eine Herausforderung für die SPD, aber natürlich auch für die anderen Parteien. Und ich hoffe, dass meine Partei mit ihrem Programm für die Bundestagswahlen in dieser Hinsicht echte Perspektiven aufzeigen kann.

Die SPD liegt in den aktuellen Umfragen im Bund ziemlich konstant bei 15 Prozent, die SPD in Niedersachsen hat zuletzt ebenfalls verloren. Eins kann man sicher sagen, zu den Gewinnern der Corona-Krise zählt die SPD bisher nicht. Wie könnte es denn gelingen, trotz Corona das eigene Profil zu schärfen?
Was Niedersachsen anbelangt, bin ich mit unseren Umfrageergebnissen nicht unzufrieden. Wir stehen sehr viel besser da als die Bundespartei und bis zur Landtagswahl ist noch eine Menge Zeit. Wir sind hier im Land unverändert mehrheitsfähig. Aber natürlich ist es nicht realistisch, dass sich die niedersächsische SPD komplett vom Bundestrend abkoppelt und dort ist Ihre Analyse leider richtig. Die SPD-Riege in der Bundesregierung macht eine sehr gute Arbeit, allen voran Olaf Scholz und Hubertus Heil, aber das allein reicht erkennbar nicht. Trotzdem bin ich durchaus zuversichtlich. Corona hat vieles bestätigt, was wir schon lange sagen: Wir brauchen einen starken Sozialstaat, wir müssen uns aufstellen gegen Egoismus, wir müssen den Zusammenhalt in der Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken. Das ist eine Haltung, die viele Bürgerinnen und Bürger ansprechen wird.

Es ist bestimmt wichtig, die Sorge um die eigene Partei und künftige Wahlergebnisse angesichts der Krise momentan ein bisschen zurückzustellen, wichtig finde ich aber auch, dass trotz der Krise ein Kompass sichtbar bleibt.
Das ist für mich kein Gegensatz. So eine Krise ist ja auch eine Charakterprobe, das gilt für Gesellschaft insgesamt und noch mehr für die Politik. Bezogen auf Niedersachsen empfinde ich unser Vorgehen in den letzten Monaten als eine sehr glaubwürdige Ausprägung von sozialdemokratischer Politik. Persönlich bin ich jedenfalls mit mir sehr im Reinen.

Sehr oft war in den vergangenen Monaten die Rede von dem Brennglas, unter dem im Zuge der Krise die Probleme noch viel offensichtlicher geworden sind. Zum Beispiel im Gesundheitswesen, aber auch im Bereich der Bildungsgerechtigkeit und in vielen weiteren Feldern. Ich würde mir sehr wünschen, dass die Politik trotz Corona für diese Themen nachhaltige Antworten findet.  
Der Vergleich mit dem Brennglas stimmt wirklich. Vieles funktioniert im internationalen Vergleich in Deutschland auffällig gut. Das gilt zum Beispiel für Umfang und Qualität unseres Gesundheitswesens, was ich vorher nicht unbedingt erwartet hätte. Unser Sozialstaat macht auch vieles leichter als wir es in anderen Ländern sehen. Aber es gibt eben auch unübersehbare Schwachstellen und die Situation in der Pflege gehört ohne Frage dazu. Das wussten wir allerdings eigentlich auch schon vor Corona. Gesundheitsministerin Reimann und ich setzen uns deshalb immer wieder dafür ein, die unsägliche Überökonomisierung der Pflege endlich zu beenden und zu erträglichen Arbeitsbedingungen in diesem wichtigen Gebiet zu kommen.

Lassen Sie uns zum Schluss noch mal kurz über etwas ganz anderes, über eine — aus meiner Sicht — gute Nachricht sprechen: Donald Trump ist abgewählt. Haben Sie mit Bier oder Champagner angestoßen?
Nach dem quälenden Auszählungsmarathon war mir nicht mehr nach Feiern, ich war und ich bin einfach nur erleichtert.

Was fällt Ihnen ein zu Donald Trumps augenblicklicher Weigerung, seine Niederlage einzugestehen und das Weiße Haus zu verlassen? Für mich hat sich noch einmal sehr deutlich bestätigt, dass in den vergangenen vier Jahr im Weißen Haus ein lupenreiner Anti-Demokrat sein Unwesen getrieben hat.
Ja, und man mag sich gar nicht ausmalen, was im Falle seiner Wiederwahl noch alles passiert wäre. Die Situation in Amerika ist aber schon schlimm genug, denn das Ergebnis von vier Jahren Trump und den Auseinandersetzungen nach der Wahl ist eine komplett gespaltene Gesellschaft.

Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass Demokratien durchaus unter autokratische Räder kommen können. Angesichts der Corona-Krise habe ich die Befürchtung, dass wir uns alle künftig noch viel mehr gegen Anti-Demokraten wappnen müssen. Teilen Sie diese Befürchtung?
Ist es nicht vielleicht gerade umgekehrt? Die Johnsons und Trumps und Bolsenaros dieser Welt haben offensichtlich versagt, sie sind ein Gesundheitsrisiko für ihre Bürgerinnen und Bürger. Dagegen nimmt sich die Zwischenbilanz der deutschen Politik ziemlich gut aus, finde ich. Und ich habe, allen Corona-Leugnern zum Trotz, den Eindruck, dass eine weit überwiegende Mehrheit der Gesellschaft bei uns das genauso sieht.

● Interview: Lars Kompa


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