Regionspräsident Hauke Jagau

Wir treffen Hauke Jagau mit Abstand im Haus der Region in
der Hildesheimer Straße 20 und rechnen eigentlich damit, nach vielen anstrengenden Wochen einem zumindest leicht müden und abgekämpften Regionspräsidenten gegenüberzusitzen. Aber weit gefehlt, Hauke Jagau ist „angeschaltet“ – es gibt einfach Menschen, die legen in Krisenzeiten noch eine Schippe drauf. Doch immerhin, er gibt zu, dass es auch für ihn nun gerne langsam mal vorbei sein könnte mit dem Krisenmodus.
Ein Gespräch über Improvisation und Pragmatismus, über
Corona-Management, persönliche Quarantäneerfahrungen und vielleicht ein paar doch gar nicht so schlechte Aussichten.  

Herr Jagau, wir haben momentan immer mehr Lockerungen, aber gleichzeitig ist Corona noch längst nicht vorbei und man sollte weiter sehr vorsichtig sein. Wie erklärt man das den Leuten?
Das ist in der Tat ein Problem. Die Menschen sind Corona inzwischen leid; mir geht es genauso. Wir wünschen uns alle unser altes Leben zurück. Das macht es schwierig zu akzeptieren, dass wir um Vorsichtsmaßnahmen nicht herumkommen. Die Darstellung in den Medien ist sehr unterschiedlich: Auf einem Fernsehsender ist noch Weltuntergang angesagt, auf dem anderen sieht alles nach Entspannung aus. Und die Lage ist ja auch komplex. Mit Blick auf die Zahl der Intensivbetten, die zur Verfügung stehen, können wir uns scheinbar zurücklehnen. Auf der anderen Seite stehen Masseninfektionen wir im Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück oder auch bei UPS in Langehangen.

Und das alles wird dann auch noch sehr unterschiedlich interpretiert.
Ganz genau. Wir haben wenig gesicherte Erkenntnisse, aber jede Menge Mutmaßungen. Im Moment sieht es so aus, dass das Virus im Sommer wohl weniger Kraft hat. Die Krankheitsverläufe sind deshalb leichter. Aber das heißt nicht, dass die Ansteckungsgefahr gebannt ist, das Virus ist weiter aktiv. Man könnte jetzt sagen: Super, dann sollen sich die Leute im Zweifel anstecken und Antikörper entwickeln – in den Krankenhäusern sind wir ja auch gut vorbereitet. Aber ist das wirklich eine gute Strategie? Wer garantiert harmlose Krankheitsverläufe? Dann haben wir noch die Forderung nach Massentests an möglichst vielen Stellen. Die sind aus meiner Sicht auch nicht immer hilfreich, denn sie spiegeln eine Pseudosicherheit vor. Ein Test ist eine Momentaufnahme und schlägt auch nur in einem bestimmten Stadium der Erkrankung an. Wir wissen von Menschen, die negativ getestet wurden, obwohl sie bereits infiziert waren. Massentests können zur Einschätzung einer Lage helfen, bringen aber nur scheinbar Sicherheit – schon im nächsten Moment kann man sich angesteckt haben und das Virus unwissentlich weitertragen, obwohl man getestet wurde.

Die Lage in Deutschland erscheint im Augenblick aber unter Kontrolle.
Ja, wir können sehr froh sein, dass die Maßnahmen gegriffen haben. Es ist gelungen, die erste Welle abzuflachen. Und wir haben ein gutes Gesundheitssystem, das allen Menschen zur Verfügung steht. In den USA sieht das ganz anders aus: Dort haben viele Menschen keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Wer seinen Job verliert, der verliert meistens seine Krankenversicherung. Ich denke, vielen wird jetzt erst klar, wie gut wir in Deutschland aufgestellt sind. Das gilt auch für andere Bereiche, zum Beispiel unser Bankenwesen mit Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Das hat uns in der Weltwirtschaftskrise 2009 mit gerettet. Die Lehre war, dieses System mit Nachdruck zu erhalten. Sparkassen und Volksbanken machen das Geschäft mit den echten Menschen vor Ort und sind auch in dieser Krise für viele regionale Unternehmen Partner.

Wann haben Sie zum ersten Mal von Corona gehört und wie ist es dann weitergegangen?
Ich habe, wie wohl die meisten, im letzten Jahr irgendwann im Dezember nebenbei von einem Virus in China gehört. Da ging es um den Tiermarkt in Wuhan – das war sehr weit weg. Näher dran war dann der erste Fall in Bayern. Aber das war für mich ebenfalls ein lokales Geschehen und der Infektionsweg war nachvollziehbar, weil es einen direkten Kontakt zu China gab. Ich habe das noch nicht als bedrohlich wahrgenommen. Als dann die Nachrichten aus Italien kamen, hat uns das allerdings alarmiert. Wir haben auf der Ebene des Gesundheitsamtes einen Krisenstab gebildet und diskutiert, was vorzubereiten ist. Ganz konkret wurde es am 29. Februar, ein Samstag. Ich wurde am Nachmittag telefonisch über den ersten Corona-Fall in der Region informiert. Wir haben noch am selben Abend den Krisenstab zusammengerufen und uns an dem Samstag um 20.30 Uhr hier getroffen.

Und seither ging es bei Ihnen nur noch um Corona?
Ja, das kann man so sagen. Leider. Unser Fall in der Region war gleichzeitig auch der erste in Niedersachsen. Die Umstände waren fast wie im Krimi: Der erste Patient war aus Uetze, ein Italien-Urlauber, wie fast alle Patienten am Anfang. Der Mann war bei seinem Hausarzt im Landkreis Peine in Behandlung. Ergo war die Meldung des Falls an das Gesundheitsamt in Peine gegangen – unser Mitarbeiter, damals noch aus dem Bereitschaftsdienst, konnte den Betroffenen nicht erreichen. Gerettet hat uns der Anruf beim Bürgermeister Werner Backeberg, der hat den Ortsbrandmeister angerufen. Tja, und der wusste sofort, wer der Betroffene war – weil man in einem Dorf weiß, wer gerade in Italien im Urlaub war. Und so erhielten wir auch die Information, dass der Patient in der Woche schon zweimal beim Schützenverein zum Schießen gewesen war und dass noch am selben Abend ein Schützenball stattfinden sollte. Der wurde sofort abgesagt. Wir hatten großes Glück, dass der erste Fall in einem Umfeld auftrat, in dem man sich kennt und in dem ein Feuerwehrmann eingebunden war. Der hat dafür gesorgt, dass der Schützenball abgesagt wurde. Mit Ball hätten wir es in der nächsten Woche mit einer ganz anderen Infektionskette zu tun gehabt.

In den ersten Tagen, bei den ersten Fällen, hat man die Ansteckungswege insgesamt noch sehr gut nachverfolgen können, oder?
Man kann klar sagen, dass Corona seinen Weg mit den Winterurlaubern aus Österreich und Italien nach Deutschland genommen hat. Man konnte ein klares Wohlstandsgefälle erkennen. Es gab gehäuft Corona-Fälle in Gegenden mit hohem Einkommen. Ein weiterer Indikator waren Universitätsstädte, also Studentinnen und Studenten, die ebenfalls besonders mobil sind.

Viele kamen aus Ischgl. Das hätte vermieden werden können.
Ja, und aus meiner Sicht müssen die Verantwortlichen dort wirklich bestraft werden. Sie haben das Risiko, das Virus zu verbreiten, bewusst in Kauf genommen zugunsten wirtschaftlicher Interessen. Sie haben dafür Menschenleben aufs Spiel gesetzt.

Dann sind die Zahlen nach den ersten Fällen sehr rasant gestiegen.
Ja, wir mussten die Arbeit im Gesundheitsamt komplett neu aufstellen. In der Spitze haben dort fast 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gearbeitet – anderen Aufgaben im Gesundheitsamt liefen ja nebenbei weiter. Glücklicherweise ist die Regionsverwaltung groß, so konnten wir flexibel umstrukturieren. Wir haben die Mitarbeiterschaft gefragt, wer bereit ist zu helfen, vor allem bei der Kontaktverfolgung. Das ist ja ein zentraler Punkt, wenn man Infektionsketten unterbrechen will.

Und dann war Ihnen persönlich Corona plötzlich ganz nahe. Belit Onay hatte sich angesteckt.
Ja, und ich bin freiwillig in Quarantäne gegangen. Der Oberbürgermeister und ich hatten an den Kontrollen in der Innenstadt teilgenommen, als die ersten Abstandregelungen inkraft traten. Ich war kein sogenannter K1-Kontakt von Belit Onay, hatte also nicht eine Viertelstunde lang den Abstand von 1,50 Meter unterschritten. Trotzdem war mir das Risiko zu groß, unwissentlich das Virus weiterzutragen. Zudem war ein Foto von uns beiden erschienen, auf dem wir den Mindestabstand – zumindest aus der Perspektive – nicht einhielten. Niemand hätte verstanden, warum ich nicht in Quarantäne muss.

14 Tage Zwangspause?
Eine Pause war das nicht gerade. Ich habe zehn, elf Stunden am Tag telefoniert, mitunter bis 23 Uhr. Aber es war eine spannende Erfahrung: Ich war noch nie 14 Tage am Stück zu Hause, ich bin viel unterwegs. Wobei mir klar ist, dass ich mit einem Haus mit Garten sehr privilegiert bin. Wie ergeht es erst Menschen, die 14 Tage in kleinen Wohnungen festsitzen? Da kann sich schnell Druck aufbauen.
Und Sie haben dann Krisenmanagement per Telefon gemacht?
Ja, die Telefonschaltkonferenzen begleiten mich seitdem. Während meiner Homeoffice-Zeit war auch das Behelfskrankenhaus in der Planung. Da bestand ein großer Entscheidungsbedarf. Hinzu kamen Fragen zur Auslegung der Verordnungen. Was ich als sehr gute Erfahrung verbuche, ist, dass der Großteil der Menschen sehr darum bemüht war und ist, alles richtig zu machen.

Die haben dann angerufen und gefragt?
Ja, sowohl beim Gesundheitsamt als auch beim Bürgertelefon. Es gab sehr spezielle Fragen. Zum Beispiel, als die Friseure wieder öffnen durften. Die Regelung lautet: Kunden dürfen nicht selbst die Haare föhnen. Ein Friseur fragte dann, ob seine Kunden selbst föhnen können, wenn die ihren eigenen Föhn und ihre eigene Bürste mitbringen. Ausgangspunkt für uns ist in solchen Zweifelsfällen der sogenannte Normzweck. Also: Was ist der Zweck der Verordnung, beziehungsweise der Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz? All die Regelungen haben ja zum Ziel, vor Infektionen zu schützen. Wenn jemand seinen eigenen Föhn und seine Bürste mitbringt, besteht keine Gefahr, also ist das erlaubt. Wichtig war in solchen Punkten der Informationsaustausch mit den Ordnungsämtern und der Polizei. Täglich haben hunderte Menschen mit Fragen angerufen, wie welche Regelung zu verstehen ist. 50 bis 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben versucht, kurzfristig Antwort zu geben. Eine echte Herausforderung. Der Katalog, in dem unser Team Medizin und Recht die jeweils aktuellen Regelungen und Auslegungen zusammengefasst hat, war zwischendurch 120 Seiten stark. Bis heute rufen im Gesundheitsamt 300 bis 400 Menschen pro Tag an.

Also war das gesamte Team der Region eingespannt.
Es ist unglaublich, wie engagiert die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren und sind. Auf die Uhr hat niemand geschaut. Ähnlich bei unserem Behelfskrankenhaus: Wir hätten tatsächlich keine vier Wochen nach der ersten Idee starten können. Ich habe mich mal bei einem Trockenbauer bedankt, der an einem Sonntag auf dem Messegelände im Einsatz war. Er sagte, das sei selbstverständlich und er wäre auch umsonst gekommen, wenn er in Kurzarbeit gewesen wäre. Großartig! Dank des unglaublichen Engagements haben wir mit dem Behelfskrankenhaus innerhalb von wenigen Wochen zusätzlichen gesundheitlichen Schutz für 500 Menschen aufbauen können.

Was sagen Sie denn den Kritikern, die jetzt anmerken, dass das viel Geld gekostet hat, aber nicht gebraucht wurde?
Ich bin sehr froh, dass wir das Behelfskrankenhaus nicht gebraucht haben. Denen, die nach den Kosten fragen, stelle ich die Gegenfrage: Was wäre gewesen, wenn wir Menschen nicht vor dem Ersticken hätten bewahren können, aus Mangel an Kapazitäten? Zu Beginn der Krise hat hier niemand voraussagen können, wie sich die Situation entwickelt. Man denke an die Zustände in Italien. Wir haben auch sehr früh die Leitungen aller Kliniken in der Region Hannover an einen Tisch geholt. Dort wurde insbesondere von den Experten der MHH dringend empfohlen, die Kapazitäten zu erhöhen. Es wurde aber auch über die Besuchsregelung diskutiert und schon früh ein Besucherstopp verabredet, bevor er vom Land verordnet wurde – weil alle die Gefahr von Infektionsketten in den Krankenhäusern erkannt haben. Aber die Regelung war nur gemeinsam möglich – ein einzelnes Krankenhaus hätte ein riesiges Akzeptanzproblem gehabt.

Wie hat die Region mit der Versorgung von Schutzmitteln geholfen?
Die Beschaffung von Schutzkleidung und Desinfektionsmitteln war abenteuerlich. Die Materialien werden ja normalerweise nicht in Deutschland produziert, zumindest nicht in großen Mengen. Da konnte es passieren, dass die Lieferung vereinbart war, und am nächsten Tag wurde das Doppelte verlangt. Darauf haben wir uns dann nicht eingelassen. Aber die Preise sind natürlich nach oben geschossen – ein Blick in die Abgründe der Marktwirtschaft. Trotzdem es ist gelungen, über unterschiedliche Drähte und Kontakte, für Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste Schutzmittel zu besorgen. Einen Teil mussten wir auch für das Behelfskrankenhaus beschaffen. Wenn man einen voll ausgelasteten Betrieb mit vier Schichten kalkuliert, braucht man pro Tag 5.000 Schutzanzüge.
Das mit der Verdopplung der Preise klingt schon ziemlich kriminell.
Auf krumme Geschäfte haben wie uns nicht eingelassen, aber manchmal waren die Wege schon unkonventionell. Der Schutz der Bevölkerung hatte oberste Priorität.

Pragmatisches Improvisieren, kann man das so umschreiben?
Das trifft es ganz gut. Ich bin froh, dass sich die Region in dieser Krise bewährt hat. Dank der Größe und der Kompetenzen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten wir schnell handeln. Natürlich findet man immer etwas, was noch besser laufen könnte. Aber insgesamt bin ich zufrieden und haben große Hochachtung vor dem Geleisteten.

Die Regionsverwaltung ist recht flexibel aufgestellt, oder? Die Hierarchien sind eher flach.
Die Regionsverwaltung arbeitet mit Zielvereinbarungen. Wir vereinbaren, was erreicht werden soll. Bei der Umsetzung bekommen die Einheiten möglichst viel Freiraum; die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind fachlich die Expertinnen und Experten. Ich bin nicht immer mit allem einverstanden, versuche aber, selten einzugreifen. Man muss andere Vorstellungen aushalten können und sich im Zweifel auch vor die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen. Natürlich gibt es auch Zielkonflikte, zum Beispiel zwischen den Interessen der Wirtschaftsförderung und des Naturschutzes. Dann muss man gemeinsam an Lösungen arbeiten. Um diese Kultur zu leben, gibt es verpflichtende Schulungen und einen fest verankerten, institutionalisierten Austausch. Es ist toll, wie viele unterschiedliche Kompetenzen in dieser Verwaltung vorhanden sind – mehr als 100 Berufe. Der alte Verwaltungsgrundsatz „Das ist meins, und da lasse ich keinen reingucken!“ hat bei uns hoffentlich ausgedient.

Bei der Region ist Denken und Mitdenken also ausdrücklich erlaubt.
Natürlich, und das hat sich vor allem jetzt in der Krise bewährt.

Ist Ihnen während der Krise ein Projekt besonders ans Herz gewachsen?
Ja, die Unterbringung von rund 100 Wohnungslosen in der Jugendherberge, ein gemeinsames Projekt von Region, Stadt Hannover und Land. Das Projekt war von einigen Befürchtungen und Vorurteilen begleitet: Gehen diese Gäste mit den Zimmern pfleglich um? Einige der Wohnungslosen hatten nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder einen eigenen Raum, in den sie sich zurückziehen können. Nach wenigen Tagen haben einige gefragt, ob sie etwas tun können, sie wollten sich bedanken. Das Projekt ist ein Impuls für uns, über die Unterbringung von Wohnungslosen neu nachzudenken. Ich bin überzeugt davon, dass wir Wohnungslosen eine würdige Chance geben und Perspektiven eröffnen müssen, zurück in ein Leben mit eigenem Wohnraum zu finden. Auch die Zusammenarbeit von Diakonie und Caritas hat gut funktionieren.

Stichwort Homeoffice, was haben Sie für Erfahrungen gemacht?
Innerhalb weniger Tage waren die technischen Voraussetzungen geschaffen, damit 1000 Menschen zusätzlich von zu Hause arbeiten konnten. Es ist bemerkenswert, wie schnell etwas geht, wenn man die Bürokratie weglässt. Normalerweise hätten wir für die Veränderungen, die wir jetzt in acht bis zwölf Wochen erlebt haben, wahrscheinlich fünf Jahre gebraucht. Ich denke, hier hat Corona positive Entwicklungen angestoßen. Ich persönlich habe gelernt, dass ich stellenweise mehr loslassen kann und sollte. Agilität funktioniert nur, wenn wir uns von unserem Sicherheitsdenken verabschieden.

Was vermissen Sie in diesen Zeiten am meisten?
Meiner Frau und mir fehlt die Kultur. Ohne Theater, ohne Konzerte, ohne Musik – das ist fürchterlich. Aber das Team Kultur hat jetzt viel auf den Weg gebracht. Stefanie Schulz und Sandra van de Loo haben zum Kultursommer ein tolles Programm auf die Beine gestellt. Das fühlt sich dann fast schon nach Normalität an.

Gibt es noch Themen, die Sie in diesen Corona-Zeiten besonders problematisch finden?
Große Sorgen mache ich mir um die Kinder und Jugendlichen. Die Situation ist nicht so dramatisch, wenn Eltern sich kümmern. Aber es gibt viele Kinder und Jugendliche ohne Unterstützung zu Hause, die massiv benachteiligt sind.

Was würden Sie sagen, in welcher Phase der Corona-Krise befinden wir uns momentan?
Ich empfinde die Zeit momentan als eine Art Verschnaufpause. Wir müssen jetzt Normalität mit Abstand einüben, ohne übermütig zu werden. Niemand weiß, was im Herbst sein wird. Jetzt haben wir die Chance zu prüfen, welche Maßnahmen welche Folgen haben – gesundheitlich, aber auch wirtschaftlich. Ein wenig zuversichtlich stimmt mich, wenn ich höre, dass der Konsum wieder anzieht. Auf eine mögliche zweite Welle sind wir jetzt besser vorbereitet, weil die Strukturen stehen. Das gibt uns eine gewisse Sicherheit für die Zeit, bis ein Impfstoff entwickelt ist.

Gibt es so ganz grundsätzliche Lehren, die Sie aus dieser Krise ziehen?
Ich denke, wir haben alle einen neuen Blickwinkel auf das, was wirklich wichtig ist. Aus meiner Sicht gehört dazu das Thema Bildung, damit die jungen Menschen weiterhin eine Perspektive haben. Zweiter Punkt ist für mich der Klimaschutz – das können wir nicht mal eben 20 Jahre verschieben. Gleichzeitig wissen wir, dass wir in den nächsten Jahren als öffentliche Verwaltung weniger Geld zur Verfügung haben werden. Das wird eine spannende und notwendige politische Debatte, worauf wir künftig verzichten wollen und wo wir Standards absenken. Eine Lehre aus der Krise ist aber auch, dass wir aufpassen müssen, dass Veränderungen nicht zu Lasten der Frauen gehen. Es darf nicht sein, dass Frauen künftig wieder zu Hause bleiben, dort arbeiten und die Kinder betreuen, während die Männer zur Arbeit gehen.

Was meinen Sie, wird Corona auch zu einer neuen Solidarität führen?
Ja, im Sinne eines größeren Bewusstseins für das lokale Angebot – zum Beispiel beim Einkaufen. Die unmittelbare Umgebung wird wieder wichtiger. Und es entwickelt sich vielleicht ein neuer Anspruch bei den Themen Gerechtigkeit und Fairness.

Und wie geht man mit all den Weltverschwörungstheoretikern um?
Wir leben in einer aufgeklärten Welt, fast alle Informationen sind für jedermann zugänglich. Das ist Risiko und Chance zugleich.  Die Verschwörungstheorien machen mich fassungslos. Dazu kommt die Verquickung mit Rechtspopulismus, der Ängste schürt. Populisten leben von der Angst und brauchen die Missgunst für ihren Erfolg. Die dahinterstehenden Strategen sind nicht naiv, sondern handeln gezielt, um unsere Demokratie zu schwächen. Mir scheint, Schutz vor diesem Irrsinn bieten nur Bildung und die Fähigkeit, selbst zu denken. Dazu gehört eine gute Medienbildung. Wir müssen gemeinsam gegen die Angstmacher und Verschwörungstheoretiker arbeiten.

Lars Kompa


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