Unser Wirtschaftssystem basiert auf Wachstum und Profitstreben, menschenwürdiges Leben und eine intakte Umwelt spielen hierbei höchstens eine sehr untergeordnete Rolle. Muss das so sein? Einen Gegenentwurf bietet die bürgerschaftliche Bewegung Gemeinwohl-Ökonomie mit ihrem alternativen Wirtschaftsmodell, das Bedingungen schaffen möchte, mit denen verantwortungsvolle, nachhaltig und fair arbeitende Unternehmen belohnt und rein profitorientierte Unternehmen mehr in die Verantwortung genommen werden. Als ehrenamtliches Mitglied der hannoverschen Regionalgruppe der GWÖ setzt Frank Beyer sich für diese Idee ein und möchte ihr zum Durchbruch verhelfen. Die Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung entstand vor 10 Jahren in Österreich und breitete sich seitdem über Deutschland und Europa weltweit aus. Einer ihrer Mitbegründer und „Gesicht der Bewegung“ ist der österreichische politische Aktivist und Autor Christian Felber.
Frank Beyer ist kaufmännischer Angestellter bei einem hannoverschen Energieversorger und kommt über einen Kollegen 2016 erstmals mit der GWÖ-Idee in Kontakt. Als Gewerkschafter ist er ein Mensch, der schon lange über soziale Zusammenhänge nachdenkt und sieht, dass sich unser Wirtschaftssystem mehr und mehr in eine Sackgasse manövriert. „Ein System, das immer nur wachsen und Profite steigern muss, kollabiert irgendwann“, so Beyer. „Die Finanzkrise 2008 zeigt solche Mechanismen deutlich.“
„Es ist an der Zeit, der Wirtschaft Grenzen zu setzen“, hat selbst der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble schon geäußert. Eine solche Grenze könnte das Modell der Gemeinwohl-Ökonomie sein. Zurzeit ist es in der Regel so, dass ein Unternehmen als erfolgreich gilt, wenn es möglichst billig produziert, um maximale Gewinne zu erzielen. Menschenwürdige Arbeitsbedingungen und ökologische Nachhaltigkeit zahlen sich dabei nicht aus, sondern schmälern den Gewinn. Der Ansatz der GWÖ ist es, Unternehmen zu belohnen, und ihnen Anreize zu bieten, nachhaltig, fair und ökologisch zu wirtschaften. Niedrigere Zölle, Bevorzugung bei öffentlichen Ausschreibungen, und Steuervorteile wären denkbar. Fair gehandelte, ökologisch produzierte Waren müssten gar nicht teurer sein als andere, wenn ein ganzheitlich orientiertes Wirtschaftssystem ökologische und soziale Folgen der Produktion in seine Prozesse mit einbeziehen würde.
Um beurteilen zu können, ob oder in welchem Umfang ein Unternehmen gemeinwohlorientiert arbeitet, hat die GWÖ ein System entwickelt, anhand dessen es eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen kann. Dabei werden Punkte für verschiedene Kriterien vergeben: Werden Umweltschutz-Standards eingehalten? Werden regionale Strukturen gefördert, Zulieferer fair bezahlt? Gibt es familienfreundliche Arbeitszeitmodelle? Wie divers ist die Personalstruktur? Sind Lieferketten nachvollziehbar und transparent? Zwischen 0 und 1000 Punkte kann ein Unternehmen in dieser Bilanz erreichen, die sich bei entsprechend gutem Abschneiden natürlich hervorragend zu Werbezwecken einsetzen lässt.
Einige hundert Unternehmen sind weltweit zertifiziert. In der Regel sind es kleine Unternehmen. Bekannte Aushängeschilder sind der Outdoor-Bekleider Vaude, oder die Sparda Bank München. Aus der Region Hannover haben gerade der Lieferservice „Gemüsekiste“ und die Physio-Praxis „TherapieZeitRaum“ in einem mehrmonatigen Prozess alle Abläufe nach den Kriterien der Gemeinwohl-Ökonomie durchleuchtet und eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt.
Eine am Gemeinwohl orientierte Wirtschaft – müssten sich das nicht Politiker aller Parteien selbstverständlich auf die Fahnen schreiben? Eigentlich schon. Bereits 2015 gab es einen Beschluss des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, der das GWÖ-Modell als alternatives Wirtschaftsmo-dell EU-weit empfohlen hat. Die tatsächlichen politischen Folgen davon sind jedoch noch relativ überschaubar. In Baden-Württemberg wurde das Modell unter dem grünen Ministerpräsidenten Kretschmann in den Koalitionsvertrag übernommen, ebenfalls in Hessen und in Bremen. Die Fortschritte sind
klein, aber sie sind da, auch wenn es, so Frank Beyer,
eine zähe Arbeit ist, sie voranzubringen, weil die politischen Strukturen doch sehr stark im neoliberalen Denken verhaftet sind. Lobbyisten zementieren diese Strukturen noch zusätzlich. Und solange man nicht unmittelbar sieht, oder selbst zu spüren bekommt, unter welchen Bedingungen Produkte hergestellt werden, lässt sich das sehr bequem verdrängen. Eine Kennzeichnung von Produkten mit einer Art Gemeinwohl-Ampel, eine weitere Idee der GWÖ, würde hier Abhilfe schaffen.
Auch die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Krisensituation bringt deutlich an den Tag, wohin es führt, wenn zum Beispiel Krankenhäuser als Unternehmen angesehen und profitorientiert geführt werden. Oder wenn aus Kostengründen medizinische Schutzmasken lediglich aus China bezogen werden und regionale Anbieter gar nicht mehr existieren, obwohl diese – in Krisenzeiten – plötzlich in großen Stückzahlen lebensnotwendig werden.
Die GWÖ-Regionalgruppe trifft sich monatlich einmal im Plenum, und zusätzlich in kleinen Arbeitsgruppen. Alle zwei Monate findet ein Treffen statt, bei dem Interessierte die GWÖ kennenlernen können.
Weitere Informationen unter www.ecogood.org/de/hannover.
Annika Bachem
Foto: GWÖ