Ein letztes Wort im Mai


Herr Weil, wie geht‘s Ihnen? Gesundheitlich gut, aber ansonsten hatte ich schon deutlich bessere Zeiten. Ich glaube aber, das geht momentan fast allen Menschen so.

Ich kann mir vorstellen, dass diese Krise an Ihnen nochmal extra zerrt. Dass das alles extrem anstrengend ist. Es ist natürlich ein völlig anderes Arbeitsleben als zuvor: Ich habe keine Veranstaltungen mehr, ich habe ganz wenige Außentermine – vor allem vermisse ich den direkten, persönlichen Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern sehr. Ich war in den letzten 20 Jahren nie so häufig in meinem Büro und auch nie so regelmäßig zu Hause – aber was heißt schon zu Hause in diesen Zeiten. Man hat dann auch dort stundenlange Telefonkonferenzen, ein Privatleben gibt es kaum. Also, wie alle anderen Menschen auch, wünsche ich mir schleunigst meint altes Leben zurück. Und weiß sehr genau, dass das wohl noch eine ganze Weile dauern wird und vor allem, dass es viele Menschen derzeit deutlich schwerer haben als ich.

Wie kommen Sie eigentlich „runter“ nach ihren Arbeitstagen im Augenblick? Wie erholen Sie sich? Das hängt immer sehr von den Arbeitstagen ab, gestern war ich zum Beispiel um 18.30 Uhr zu Hause, aber hatte danach noch ein halbes Dutzend Telefon- und Videokonferenzen. Danach war ich dann einfach zu nichts mehr zu gebrauchen. Aber es gibt auch Tage, da können wir abends noch mal um den Block gehen und am letzten Wochenende bin ich endlich mal wieder regelmäßig gelaufen. Das entspannt mich und bringt mich auf andere Gedanken. Wer aber wie ich gesund und nur beruflich eingespannt ist, sollte nicht klagen. Es ist klar, vieles ist belastend und anstrengend, aber viele andere Menschen sind krank oder haben Angehörige verloren oder sie haben infolge der Corona-Krise gravierende existenzielle Probleme.

Sie bekommen momentan wahrscheinlich auch viel Kritik. Das gehört in politischen Ämtern ja sowieso dazu, aber so massiv ist das im Augenblick gar nicht. Eher im Gegenteil: ich erlebe zumindest auch, dass viele Leute anerkennen, dass wir, dass die Politik in Deutschland in dieser Krise im Großen und Ganzen ganz gut funktioniert. Einige Menschen, die früher beim Thema Politik die Nase gerümpft haben, wissen jetzt eine verantwortungsvolle Politik zu schätzen. Es gibt momentan tatsächlich öfter Lob als Kritik, allerdings auch sehr, sehr viele Fragen auf die es leider in dieser Ausnahmesituation nicht immer die erhofften Antworten geben kann – denn viele Entscheidungen hängen vom jeweils aktuellen Infektionsverlauf ab.

Trotzdem, viele Sätze beginnen in dieser Zeit mit „man müsste, man sollte, man hätte, man kann doch nicht …“. Wie gehen Sie damit um? Ich nehme das sehr ernst. Diese Kritik ist ja keine Spielerei, es gibt meistens handfeste und ernsthafte Gründe. Ich möchte nicht so tun, als hätten wir für jede Frage schon die perfekte Antwort gefunden. Wir sind in einer absoluten Ausnahmesituation, niemand von uns hat eine solche Krise schon einmal durchlebt, es gibt keine Erfahrungswerte, keiner hat den großen Masterplan in der Schublade, der uns mit hundertprozentiger Gewissheit ans richtige Ziel führt. Nach dem Shutdown folgt jetzt der Versuch, wieder ganz allmählich, mit sehr vorsichtigen Schritten zu einer Art Normalität zurückzukehren. Wir sind uns dabei alle sehr bewusst, dass wir noch auf dünnem Eis unterwegs sind. Niemand kann exakt sagen, wie die jetzt nach und nach zu treffenden Maßnahmen sich im Einzelnen konkret auf das Infektionsgeschehen auswirken werden. Es gibt nur gut begründete Wahrscheinlichkeiten. Und ich kann Kritik insofern durchaus nachvollziehen, man kann anderer Meinung sein. Ich höre zum Beispiel sehr besorgte Stimmen aus der Wirtschaft: da gibt es Unternehmer, die befürchten, sehr bald vor den Trümmern ihres Lebenswerks zu stehen. Ich bin darum weit davon entfernt, beleidigt zu sein über sachliche Kritik. Aber wir stoßen eben auch auf sehr viel Verständnis dafür, dass wir momentan immer das Große und Ganze im Blick haben müssen.

Es ist alles ein Fahren auf Sicht momentan, so ein Vortasten. Das trifft es ganz gut, es gibt ja gerade einige Bilder, die gerne bemüht werden: das dünne Eis, das Vortasten, das sind alles ganz gute Beschreibungen für das, was wir derzeit erleben und derzeit unternehmen. Und ich verstehe natürlich, dass beispielsweise Gastronomen, denen von heute auf morgen die wesentliche Einkommensquelle entzogen wurde, sich nichts sehnlicher wünschen, als bei den ersten Lockerungen dabei zu sein und das auch lautstark einfordern. Aber wenn die sich vorstellen würden, selbst Ministerpräsident zu sein und die Verantwortung für solch eine Entscheidung übernehmen zu müssen, würde sich der Blickwinkel vermutlich ändern. Und noch etwas: Wenn ich die deutsche Politik im internationalen Vergleich sehe, dann bin ich momentan wirklich verdammt froh, hier in Deutschland zu leben. Man sieht sehr deutlich, wie unterschiedliche Politikstile zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Wir haben in Deutschland sehr früh und sehr transparent informiert, zu einem Zeitpunkt, als die Trumps und die Johnsons dieser Welt noch so getan haben, als sei das alles gar kein Problem. Und ich bin, wenn wir diese Krise irgendwann überwunden haben werden, sehr gespannt auf den internationalen Vergleich: Welche Form des Regierens ist eigentlich für eine Gesellschaft die beste? Einstweilen liegen wir da aus meiner Sicht gut im Rennen.

Das Ergebnis kann man teilweise schon vorwegnehmen, was beispielsweise Trump in den USA anrichtet, ist ja kaum zu glauben. Nun, ich würde mir wünschen, dass die Bürgerinnen und Bürger hierzulande nach der Überwindung der Corona-Krise einen anderen Blick auf ihre Politikerinnen und Politiker und die Parteien haben. Wir hatten es ja zuletzt vor der Krise mit einem spürbaren Vertrauensverlust zu tun und ich hoffe, dass wir mit verantwortungsvollen Entscheidungen Vertrauen in Politik und Staat zurückgewinnen können.

Kommen wir noch mal zur Kritik. Bei den Kulturschaffenden, denke ich, muss die Hilfe dringend nachgebessert werden, denn sie kommt teilweise nicht an. Die haben oft keine Betriebskosten, bei denen sind sozusagen Essen und Trinken die Betriebskosten. Es gibt da ein ganz gutes Programm, dessen größter Nachteil sein Name ist: „die Grundsicherung“ für Selbstständige. Bei dem Wort Grundsicherung zucken natürlich viele zusammen, die sich als aktive und freie Unternehmerinnen und Unternehmer sehen und nicht als Empfänger von Sozialleistungen. Über diese innere Hürde, für die ich großes Verständnis habe, muss man in dieser Zeit nun hinwegkommen. Denn es handelt sich um ein gutes Hilfsangebot –  es gibt die Erstattung für Mietkosten, Krankenversicherung und einen Regelsatz, das dürften in den meisten Fällen über 1.000 Euro sein und es findet derzeit im erleichterten Antragsverfahren – anders als sonst – auch keine vollständige und ausführliche Vermögensprüfung statt.

Sie würden den Kulturschaffenden also diese Grundsicherung empfehlen? Ja, ich würde empfehlen, die gefühlte Hürde, die ich aus vielen Gesprächen kenne, jetzt zu überwinden und zunächst einmal auf dieses Programm zuzugreifen. Unabhängig davon prüfen wir aber derzeit auch noch, ob Ergänzungen notwendig sind.

Ein paar Kritikpunkte hätte ich noch auf dem Zettel, aber das meiste davon hat tatsächlich Zeit bis nach der Krise. Dann aber, denke ich, werden wir tatsächlich Bilanz ziehen müssen, nicht nur international. Manche Schieflagen hierzulande werden mit dieser Krise momentan sehr offensichtlich. Ich denke da zum Beispiel an die schlechte Bezahlung in der Pflege. Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, wir werden in unserer Gesellschaft über verschiedene Themen ganz grundlegend und neu diskutieren müssen, die Arbeitsbedingungen in der Pflege gehören dazu, sie standen bei mir allerdings auch schon vor der Corona-Krise ganz oben auf dem Zettel. Dazu gehört aber auch die Frage, wie wir sicherstellen können, dass beispielsweise Medizinprodukte auch in Deutschland langfristig kostendeckend hergestellt werden können. Momentan sind wir im Krisenmodus, wenn wir das überwunden haben, geht es an die inhaltliche Aufarbeitung.   Interview: Lars Kompa


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